Azur Grau - Journalisten Akademie
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Lebenswandel<br />
TATORT<br />
WATT<br />
DIE AUTORIN REGINE<br />
KÖLPIN LEBT UND<br />
SCHREIBT IN FRIESLAND.<br />
DORT BLICKT SIE HINTER<br />
DIE BESCHAULICHEN<br />
FASSADEN. UND STÖSST AUF<br />
MÖRDERISCHE ABGRÜNDE<br />
Dicht an dicht stehen die Häuser an der schmalen Straße.<br />
Die Gardinen vor den Fensterscheiben schützen kaum<br />
vor den Blicken, die man ganz automatisch in die<br />
Häuser wirft. Die Menschen sitzen am Esstisch, trinken Tee,<br />
schauen fern. Es nieselt. Dünne Regenfäden hängen wie ein<br />
Vorhang vor der Straßenzeile. Aus den Häusergiebeln ragen historische<br />
Schilder, die zeigen, wer früher in den Häusern wohnte<br />
und arbeitete. Damals, als der Ort noch eine reiche Stadt mit<br />
Meerzugang war. Der Stolz von damals ist geblieben. Die Häuser<br />
sind gepflegt. Die Eingänge liebevoll dekoriert.<br />
Kein Mensch ist auf der Straße. Dennoch ist man hier nicht<br />
allein. Hier passiert nicht viel. Aber das, was passiert, wird ganz<br />
genau wahrgenommen.<br />
HIER IN NEUSTADTGÖDENS<br />
KOMMT KEINER WEG.<br />
HIER KENNT<br />
JEDER<br />
JEDEN.<br />
WENN DU AUS DEM<br />
ERKERFENSTER IM<br />
WOHNZIMMER<br />
SIEHST, KANNST DU ÜBRIGENS<br />
3 2 A Z U R G R A U<br />
Regine Kölpin setzt Tee auf. Eine Ostfriesenmischung. Die<br />
ersten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Oberhausen –<br />
für eine Ruhrpott-Identität viel zu kurz. Danach zog sie in die<br />
friesische Idylle, zunächst nach Jever, dann nach Neustadtgödens.<br />
Seit 20 Jahren lebt sie hier. Für die Einheimischen bleibt sie eine<br />
Zugezogene.<br />
Kölpin setzt sich an den Tisch und lässt zwei Stück Kluntje<br />
in ihre Teetasse fallen. Ihr Haar umrandet akkurat geföhnt ihr<br />
Gesicht, ihre Stimme ist klar nordisch gefärbt, ihr Blick wachsam<br />
und neugierig. Sie beobachtet ihr Gegenüber genau. Kölpin<br />
ist Krimiautorin. „Spinnentanz“, ihr zweiter Roman, ist gerade<br />
im Leda-Verlag erschienen. Ihre Geschichten spielen in<br />
Ostfriesland, ihre Protagonisten sind die Einheimischen.<br />
„Ich glaube, dass die meisten schon sehr viel voneinander<br />
wissen, man lebt hier in einem sehr beschaulichen Raum sehr<br />
intim miteinander“, sagt Kölpin und nimmt einen Schluck Tee.<br />
Genau diese Nähe der Menschen greift sie in ihren Büchern auf,<br />
stets auf der Suche nach Geheimnissen, die hinter der Häuserfassade<br />
versteckt liegen. „Die Abgründe der menschlichen Seele<br />
machen vor den Toren Frieslands nicht halt, und so macht es<br />
mir Spaß zu gucken, was man hinter der heilen Welt hier finden<br />
kann“, sagt Kölpin. Die Handlungen ihrer Mordgeschichten<br />
sind eigentlich undenkbar in der ostfriesischen Idylle, in der<br />
laut Verbrechensstatistik Morde sehr selten passieren. Kölpin<br />
erzählt von einem Mord im Altersheim, von dem Tod einer<br />
Pflegerin und Leichen im Meer. Gerade die Enge der<br />
Dorfgemeinschaft greift sie auf und entwirft die Charaktere so<br />
detailgenau, dass sie erschreckend realistisch wirken.<br />
Der Regen prasselt leicht gegen die Fenster. Beim Blick nach<br />
draußen bekommt man eine Ahnung von den unendlichen<br />
Weiten des Meeres. Der frische Seewind verrät, dass der Deich<br />
bereits im Nachbarort beginnt.<br />
IN EURE KÜCHE GUCKEN. FOTO:<br />
ANNE-KATHRIN KELLER