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Lebenswandel Das Messer rutscht zwischen den Austernschalen hin und her, mit einem Klack bricht André Stolle die beiden Muschelhälften auseinander. Der Gourmet-Koch ist überrascht von der Größe der wilden Austern, die aus dem Tidenbereich des Wattenmeers stammen. Stolle riecht an der Auster, tastet das Austernfleisch ab. Seine Augen leuchten, er freut sich: „Die kann man servieren!“ Die Pazifische Auster auf dem Tisch des Gourmet-Kochs gehört, wie der Name sagt, eigentlich nicht ins niedersächsische Wattenmeer, sondern in den Pazifik. An die Nordsee kam sie mit Hilfe des Menschen: Auf der Suche nach einem Ersatz für die durch Überfischung im Wattenmeer kaum mehr anzutreffende Europäische Auster begann man an der niederländischen Nordseeküste, die Pazifische Auster zu züchten. Mit der Strömung kamen die Austernlarven aus den Niederlanden in den Jadebusen – und entwickelten sich dort prächtig. Im Watt gibt es keine Nahrungsfeinde für sie, sie stehen nur in Konkurrenz zu den Miesmuscheln, die wie die Austern das Plankton aus dem Wasser filtern. Sehr zum Missfallen der Miesmuschel-Fischer, die die Austern für das Verschwinden der Miesmuschelbänke verantwortlich machen. Doch längst nicht alle Wilhelmshavener schimpfen über die Auster. Für Feinschmecker ist sie eine alte 3 6 A Z U R G R A U DIE ENTDECKUNG DER AUSTER WILHELMSHAVENER ROYAL VOM PAZIFIK INS WATT – DIE PAZIFISCHE AUSTER HAT SICH PRÄCHTIG EIN- GELEBT. EIN GOURMET-KOCH UND EIN JUWELIER AUS WILHELMSHAVEN SIND DEN REIZEN DES TIERISCHEN EINWANDERERS ERLEGEN Juwelier Clemens Stuke mag Austern – am liebesten mit Perlen und Gold Bekannte aus der französischen Küche, die jetzt eben auch vor der Tür gedeiht. Und ein Gourmet-Koch und ein Juwelier wollen mit der Pazifischen Auster in Wilhelmshaven jetzt auch Geld verdienen. Wie die Pazifische Auster ist auch André Stolle neu hier. Ein Reeder machte ihn zum Küchenchef seines Hotels, das er für 28 Millionen Euro in die Stadt am Jadebusen setzte. Der 33jährige Koch gehört zu den aufstrebenden jungen Spitzenköchen, er wurde schon zweimal mit dem Michelin-Stern ausgezeichnet, dem Oscar für Köche. Das soll ihm hier jetzt wieder gelingen. Stolles Erfolgsrezept ist eine Kombination aus regionaler und französischer Küche – „neue norddeutsche Küche légère“ nennt er sie. Die Pazifische Auster, die vor allem in Frankreich als Delikatesse gilt, passt gut in sein Konzept: „Ich würde meinen Gästen gerne Austern aus Wilhelmshaven anbieten.“ SO GEHT’S: AUSTERN ERNTEN „Die Austern wachsen eigentlich überall im Tidenbereich an der Steinpackung des Deichs, doch ein echter Austern-Hotspot ist die Mündung des Maadesiels beim Kraftwerk. Für die Ernte braucht man nicht mehr als feste Gummistiefel, Niedrigwasser, einen großen Schraubendreher und einen Eimer – dann kann`s losgehen. Für den kleinen Imbiss zwischendurch sollte man ein kleines feststellbares Taschenmesser zum Öffnen der Austern nicht vergessen! Von Größe 5 bis Größe 1 ist hier alles zu finden.“ Markus Nolte, Freizeit-Gourmet FOTOS: JANOS BURGHARDT
Sternekoch André Stolle probiert wilde Austern aus Wilhelmshaven. Bisher kannte er nur die Verwandten aus Sylt Doch noch kann er die regionale Auster nicht auf die Karte setzen, denn die wilden Austernvorkommen klumpen betonfest zusammen. „Die Austern müssten mir in ausreichender Menge, guter Qualität und zu einem vernünftigen Preis angeboten werden“, sagt Stolle. Das ist nur möglich, wenn man sie, wie auf Sylt, anbaut. Dort werden seit 1986 die „Sylter Royal“ von Dittmeyer vertrieben. Die „Austern Compagnie“ der für ihren Orangensaft bekannten Firma Dittmeyer fängt die Austernlarven auf und zieht sie in Gittersäcken in der Nordsee groß, so wachsen gastronomiegerecht einzelne Austern auf. Doch die Sylter Austern sind zu teuer, um sie als regionales Produkt an der Nordsee zu etablieren. In Wilhelmshaven stehen Austern daher auf keiner Speisekarte, es gibt sie nur auf Vorbestellung. Das könnte sich ändern, wenn es eine günstigere „Wilhelmshavener Royal“ gäbe. Nicht angewiesen auf die Küchen-Auster ist der Wilhelmshavener Juwelier Clemens Stuke, der auch mit den wilden Austern etwas anfangen kann. „Wie ein Maler sich durch seine Umgebung inspirieren lässt, greife ich gerne Materialien aus der Region auf,“ sagt Stuke. Wo sonst Edelsteine und Gold liegen, steht eine Schale mit frischen Austern auf dem Verkaufstresen. Der gelernte Goldschmied will die Meerestiere zu Schmuck verarbeiten. Stuke hält eine Auster in der Hand, die noch nass vom Meerwasser ist. „Mir gefällt die unregelmäßige Struktur der weiß-violetten Schalen“, sagt er und trocknet die Austern. Er wählt eine kleine Auster aus, die eine besonders poröse Oberfläche hat, und geht zu seiner Werkbank. Stuke legt einen grünen und roten Stein auf die Auster, entscheidet sich aber für eine Perle, die er auf die Austernschale setzen möchte. Stuke sägt die Auster rund aus, bohrt ein Loch hinein, erkundet das Material. „Die Schalenstruktur ist sehr unterschiedlich, aber man kann sie gut verarbeiten.“ Um die runden Austernstücke in seiner Hand legt der Juwelier eine Goldfassung. Es entstehen goldene Ohrringe mit Perlen auf den Austernschalen aus der Region. Ein echter Hingucker in der Vitrine des Juweliers. Die Feinschmecker in der Stadt schauen die Delikatesse in der Nordsee schon längst nicht mehr nur an. Früher fischte Markus Nolte, Kapitän bei der Marine, gerne Garnelen und sammelte Miesmuscheln und Herzmuscheln – jetzt erntet er eben auch Austern. Mit einem Eimer und einem Schraubenzieher ausgerüstet geht er so auf die Feinschmecker-Tour ins Watt. Am Kraftwerk findet er immer besonders viele Austern, was wohl am warmen Abwasser liegt. Doch an den Durchmarsch in die Küchen der Region glaubt Nolte, der mit einer Französin verheiratet ist, noch nicht: „Die Deutschen sind eben eher ein Volk der Fischstäbchenesser statt Austerngenießer.“ Damit sich die Austern im Wattenmeer wirtschaftlich nutzen lassen, müssten sie durch die Aufzucht erschlossen werden. Solange sich in Wilhelmshaven niemand der Austernzucht annimmt, bleibt den Feinschmeckern, Köchen und Juwelieren nichts anderes, als mit einem Schraubenzieher loszuziehen und wilde Watt-Austern zu ernten. Belohnt werden sie mit einem salzigen Schluck aus der Schale. Janos Burghardt DREI FRAGEN AN DR. ACHIM WEHRMANN, WISSENSCHAFTLER AM SENCKENBERG-INSTITUT IN WILHELMSHAVEN WARUM GIBT ES DIE PAZIFISCHE AUSTER IM WATT? Die Pazifische Auster ist auf natürlichem Weg eingewandert. Sie wurde in Oosterschelde in den Niederlanden für die Austernzucht in Aquakulturen eingeführt, hat sich dort aber unkontrolliert vermehrt. In der Umgebung der Aquakulturen hat die Pazifische Auster Wildpopulationen aufgebaut, die sich über die Meeresströmung verbreitet haben. WELCHE PROBLEME BRINGT DIE AUSTER? Es bestand zunächst die Befürchtung, dass die Miesmuscheln möglicherweise durch die Pazifische Auster verdrängt werden, da sich die Austern auf den Miesmuschelbänken festgesetzt haben. Doch ganz im Gegenteil: Die Austernbänke sind sogar nützlich für die Miesmuscheln, da sie ihnen Schutz vor den Vögeln bieten. KANN MAN DIE WILDEN AUSTERN DENN ESSEN? Eine Gefahr kann das Plankton sein, die Nahrung der Austern, da diese Algen zum Teil giftig sind. Die darin enthaltene Toxine werden von allen Organismen aufgenommen, die das Wasser zur Nahrungsaufnahme filtrieren – zum Beispiel Herzmuscheln, Miesmuscheln und eben Austern, die das Gift im Fleisch anlagern können. Während Miesmuscheln entsprechend überwacht werden, gibt es ein eigenes lebensmitteltechnisches Monitoring bei den Austern noch nicht. A Z U R G R A U 3 7
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