Lebensraum Kommt der Wandel, bleibt das Meer Wo das Watt auf das Festland trifft, liegen die Salzwiesen. Bei Flut werden sie vom Meer überschwemmt, bei Ebbe rasten dort seltene Vögel. Ein einzigartiger Lebensraum. Doch was, wenn das Meer eines Tages nicht mehr zurückweicht? 2 4 A Z U R G R A U Der Austernfischer, einer der typischen Vögel des Wattenmeers, brütet in den Salzwiesen. Im Sommer blüht der Strandflieder zwischen Queller – einem anderen Salzwiesengewächs. Für den Salzwiesenfan Ulrich Appel ist der Säbelschnäbler der eleganteste Wattvogel.
FOTOS: SABASTIAN QUILLMANN (1) / GROSSMANN/NATIONALPARK (2) / BARKOWSKI/NATIONALPARK (1) Der Himmel ist grau verhangen. Regen zieht einen Schleier feiner Tropfen über die Salzwiesen, die sich vor einem Deich bei Jever erstrecken. Ulrich Appel geht in kleinen, erstaunlich sicheren Schritten auf dem seifig-nassen Grund. Der Vogelkundler bleibt stehen, legt den Finger auf die Lippen, dreht den Kopf nach links. Neben ihm, irgendwoher aus den knöchelhohen Gräsern, tönt kurz und melodisch eine Vogelstimme. „Das war die Uferschnepfe. Wir nennen sie auch Greta, weil sie so ruft – ‘Greta, Greta, Greta!’“ Der Rentner kichert. Was treibt den 74-Jährigen, bei Regen über den Deich und in die Wiesen zu steigen? „Die Freude an der Natur“, sagt Appel. „Wenn man hier länger gewesen ist, dann kann man sagen: Sie bewegen sich in derselben Landschaft, aber die Stimmung der Farben, der Wolken variiert so. Wenn man schönes Wetter hat, ist das keine Plage, sondern es macht einfach Spaß.“ Seit fast 40 Jahren zählt und beobachtet er Vögel. Seltene Arten brüten in den Salzwiesen. Außerdem erholen sich Zugvögel dort von ihren Flügen, die den halben Globus umspannen. Doch wo Ulrich Appel seit Jahrzehnten Vögel beobachtet, kann schon in 50 Jahren das Meer direkt an den Deich schwappen. Der Klimawandel wird kommen. Der Meeresspiegel wird steigen – und die Salzwiesen sind in Gefahr, von den Wellen gefressen zu werden. Dabei leben die Salzwiesen eigentlich vom Meer, das kommt und geht. Sie werden regelmäßig vom Meerwasser überflutet. Deshalb können dort nur besondere Pflanzen überleben, die den hohen Salzgehalt vertragen. Viele Insekten hängen wiederum von diesen Pflanzen ab. Die Pflanzen halten Sand und Schlick, die das Meer in die Wiesen schwemmt, mit ihren Wurzeln fest. Wenn der Meeresspiegel langsam und stetig steigt wie bisher, wachsen die Salzwiesen mit. Sie sammeln neuen Sand und Schlick an und verlagern sich landeinwärts in die flachen Buchten des Meeres. Doch solche Buchten gibt es gerade an der Küste Niedersachsens nur noch wenige. Deshalb sieht die Zukunft der Salzwiesen dort besonders bedrohlich aus. Der Mensch hat die flachen, vom Meer überfluteten Bereiche seit Jahrhunderten trockengelegt. Deiche sperren das Meer aus. Die heutigen Salzwiesen liegen vor einer geraden Deichlinie und haben nicht mehr die Möglichkeit, sich landeinwärts zu verlagern. Sie werden deshalb von Menschenhand erhalten: Mit Barrieren, so genannten Lahnungen, wird etwa die Strömung des Meeres gebremst, damit sich Sand und Schlick absetzen können und nicht weggespült werden. Der Mensch ist auf das Land vor den Deichen an- gewiesen: Es bremst die Energie der Wellen bei Fluten, schützt die Deiche und damit die bewohnte Küste. Eine solches, vom Menschen stark beeinflusstes und erhaltenes Salzwiesen- Gebiet ist auch der Elisabeth-Außengroden, wo Vogelschützer Ulrich Appel die Tiere beobachtet. Ein kleiner Naturschutzverein aus Jever hat bereits 1973 erreicht, dass diese Wiesen unter Schutz gestellt wurden. Appel, der damals schon dabei war, ist heute Vorsitzender des Vereins. Die Watten und Salzwiesen zu schützen – „ein Traum“, so sagt er, den sich die Naturschützer erfüllten. Inzwischen ist das Schutzgebiet im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer aufgegangen, der 1986 gegründet wurde. Alles schien gut – bis zum Klimawandel. Der Biologe Hubert Farke von der Nationalparkverwaltung in Wilhelmshaven befürchtet, dass die Folgen des Klimawandels den Elisabeth-Außengroden und die anderen Salzwiesen an der Küste Niedersachsens zerstören werden. Einen Anstieg des Meeresspiegels von etwa 50 Zentimetern pro Jahrhundert könnten die Salzwiesen verkraften. Doch Farke ist pessimistisch: Er geht von einem schnelleren Anstieg des Meeresspiegels aus – bis zu 70 und mehr Zentimeter in den nächsten hundert Jahren. „Ich sehe die starken Veränderungen in der Arktis, den starken Rückgang des Meereseises und den starken Rückgang der Gletscher. Das führt dazu, dass wir mit dem „... die Stimmung der Farben, der Wolken variiert so. Es macht einfach Spaß.“ Worst Case rechnen müssen.“ Dieser „schlimmste Fall“ würde bedeuten, dass das Meer schneller steigt, als die Salzwiesen wachsen. Die Deichlinie verhindert, dass sich die Wiesen verlagern. Häufigere und stärkere Stürme wühlen das Wasser auf, Sand und Schlick können sich nicht mehr absetzen. Das Meer frisst die Salzwiesen an den Kanten ab, Stück für Stück. Farke befürchtet einen „Rückgang der Salzwiesen bis an den Deichfuß“. Unter diesen Bedingungen „werden die Salzwiesen im Küstenbereich nicht zu halten sein“. „Das Problem ist zu vermitteln, dass man jetzt etwas machen muss und nicht abwarten darf. Es hilft nicht, fünf Minuten vor Zwölf zu planen“, sagt Holger Freund. Auch der Geo-Ökologe, der am Standort Wilhelmshaven des Instituts für die Chemie und Biologie des Meeres forscht, sieht die Gefahr für die Salzwiesen an der Küste Niedersachsens. Er sucht nach Möglichkeiten, wie sich „Ersatz- Salzwiesen“ schaffen lassen, wenn die Wiesen an der heutigen Küstenlinie zerstört werden. Holger Freund erforscht auf der Insel Langeoog, wie sich neue Salzwiesen entwickeln, wenn man ein Stück Land wieder dem Meer öffnet. Im Jahr 2004 wurde der Sommerpolder auf Langeoog, eine weitgehend trockengelegte frühere Salzwiese, wieder geöffnet. Der niedrige Sommerdeich, der die 200 Hektar Fläche vom Meer trennte, wurde abgetragen. Schon 2006 hatte das Gebiet wieder eine naturnahe Struktur und war von vielen salzverträglichen Pflanzen besiedelt. „Wir waren erstaunt, wie schnell das geht.“ Nun will er weiterforschen und ein Stück bewirtschaftetes Grünland fluten, damit dort Salzwiesen entstehen. So möchte Holger Freund testen, wie schnell sich Salzwiesen entwickeln, wenn man den Hauptdeich ins Landesinnere verlegt. Das wäre natürlich nur an unbewohnten Küstenabschnitten möglich. „Man muss sich jetzt die Expertise aneignen. Solche Maßnahmen sind langfristig und kosten viel Geld.“ Noch besteht die Chance, sich diese Zeit zu nehmen, bevor der Meeresspiegel stark ansteigt. Dass er steigen wird, daran besteht auch für Holger Freund kein Zweifel. Am Elisabeth-Außengroden sieht es schon jetzt ein wenig nach Sintflut aus: Es regnet unaufhörlich. „Es gibt Wetterlagen, da fragt man sich wirklich: Was mache ich hier draußen?“ Ulrich Appel geht alle zwei Wochen mit dem Fernglas in die Salzwiesen und zählt die Vögel. Den pessimistischen Vorhersagen möchte er nicht recht glauben. „Ich bin noch nicht sicher, ob es wirklich so schlimm wird, wie manche das darstellen.“ Er zieht die Schultern hoch und atmet tief ein. „Zum anderen wird die Menschheit irgendwie darauf reagieren müssen.“ Er gehe davon aus, dass die Salzwiesen erhalten werden können. „Und wenn es ganz schlimm kommt, dann müssen wir überlegen, vielleicht die Deiche zurückzuverlegen. Sie zu öffnen? Möglicherweise.“ Er hält inne. „Ich meine, es gibt immer noch Möglichkeiten, hier rettend einzugreifen.“ Sebastian Quillmann A Z U R G R A U 2 5