20Hier wird e<strong>in</strong>e kosmopolitische Haltung beschrieben,die es ganz unabhängig von den juridischen undpolitischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>zunehmen gelte.E<strong>in</strong> anderer Ansatz geht umgekehrt vor und untersuchtdie strukturellen, politischen und kulturellen Voraussetzungenfür GlobalCitizenship. Davon ausgehendbeschreibt er die Handlungsmöglichkeiten für Individuenund Gruppen und leitet davon auch pädagogischeZiele ab. Die <strong>in</strong>tegrative Variante, die hier vertretenwerden soll, versucht, diese beiden Ansätze mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Beziehung zu br<strong>in</strong>gen: Ohne GlobalCitizenshipEthics abzulehnen, legt er doch den Schwerpunktauf die Strukturen. Dieser <strong>in</strong>tegrative Ansatz kannsich auch sehr stark auf das von der UNESCO entwickelteKonzept der CultureofPeace stützen: In diesemBegriff von culture ist der Gegensatz von Struktur undIndividuum aufgehoben. Hier wird e<strong>in</strong> ganzheitlicherZugang vorgeschlagen, wie er <strong>in</strong> der sozialwissenschaftlichenLiteratur etwa durch Derek Laydervertreten wird.Layder hat e<strong>in</strong> komplexes, zugleich aber durchausverständliches und praktikables Modell des Zusammenwirkens<strong>in</strong>dividueller, gesellschaftlicher, politischerund kultureller Faktoren vorgelegt. Er verzeichnet,ausgehend von den Habermas’schen KategorienSystem und Lebenswelt, zwei „subjektive“ und zwei„objektive“ Dimensionen der sozialen Welt. PsychobiographieistLayders Begriff für die „Identität“ desIndividuums, die zwar <strong>in</strong> vielfältiger Weise von densozialen Beziehungen geprägt und geformt ist, aberdennoch e<strong>in</strong>en eigenständigen Kern hat. Die zweitesubjektive Domäne, der Lebenswelt zugeordnet,bezeichnet Layder als situierteAktivität. Das ist dieSphäre der Intersubjektivität und der persönlichenBegegnungen. Diese können flüchtig, zum Beispieldie Begegnung mit Fremden, episodisch, etwa Treffenmit <strong>in</strong> der Ferne lebenden Familienmitgliedern, oderregelmäßig, zum Beispiel Kontakt am Arbeitsplatz,se<strong>in</strong>. Der Systemebene zuordenbar s<strong>in</strong>d sozialeSett<strong>in</strong>gs.Sett<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d relativ unabhängig von face-to-faceAktivitäten, sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>stitutionalisiert und drücken dieMachtverhältnisse aus, unter denen diese Aktivitätenstattf<strong>in</strong>den. Sie s<strong>in</strong>d teilweise mit dem Strukturbegriff<strong>in</strong> der traditionellen Diktion der Sozialwissenschaftengleichzusetzen. Schließlich unterscheidet Layder,ebenfalls auf der Systemebene, noch kontextuelleRessourcen. Dieser Begriff umfasst e<strong>in</strong>erseits Aspektevon Macht, aber auch Kultur im S<strong>in</strong>ne von Bedeutungszuschreibungenund Rechtfertigungen. Hier e<strong>in</strong> leichtvere<strong>in</strong>fachtes Schaubild (nach Layder 1997, 78):Die vier sozialen DomänenL E B E N S W E LTSituierte AktivitätSOZIALES HANDELNSituierte AktivitätSOZIALES HANDELNS Y S T E MSett<strong>in</strong>gsSTRUKTURENSett<strong>in</strong>gsSTRUKTURENDie Pfeile symbolisieren die Sozialen Beziehungen,Macht und Praktiken zwischen den Akteuren auf verschiedenenEbenen. Das s<strong>in</strong>d bei Layder ke<strong>in</strong>e eigenenDomänen, sondern entfalten sich <strong>in</strong> der Interaktionzwischen den vier Quadranten. Das Schaubild zeigt,dass es sechs verschiedene Interaktionsmöglichkeitengibt, entweder <strong>in</strong>nerhalb der Lebenswelt bzw. desSystems bzw. zwischen diesen beiden Bereichen.Individuen ebenso wie Gruppen können mit Strukturenoder kulturellen Praxen (contextual resources) agieren,diese nutzen oder sie zu verändern trachten.Für GlobalCitizenshipEducation (wie für jede politischeBildung) bedeutet das e<strong>in</strong>e Horizonterweiterung. Siekann an allen vier Quadranten ansetzen, aber nicht <strong>in</strong>jeder pädagogischen Situation und nicht immer <strong>in</strong>gleicher Weise. In der schulischen pädagogischenPraxis z.B. kann man die vier Quadranten gut nützen,um die Situation zu analysieren: Alle SchülerInnenbr<strong>in</strong>gen ihre Individualität mit, ihr Verhalten ist abergenauso geprägt von der „Kultur“ des Elternhauses(kontextuelle Ressourcen) und vom Verhalten derPeers (situierte Aktivität), doch auch das SystemSchule, das sich <strong>in</strong> den Sett<strong>in</strong>gs und den kontextuellenRessourcen manifestiert, ist von Bedeutung. Das istbesonders wichtig, wenn wir Tendenzen begegnenwollen, den <strong>in</strong>dividuellen und den <strong>in</strong>stitutionellenAnsatz gegen e<strong>in</strong>ander auszuspielen. Darauf wirdnoch zurückzukommen se<strong>in</strong>.
AKTION & REFLEXION _ 10 _ GLOBAL CITIZENSHIP EDUCATION3. Globalisierung und Weltgesellschaft:<strong>Lernen</strong> für die E<strong>in</strong>e Welt?Was ist überhaupt neu an dem, was wir heute Globalisierungnennen? Welche neuen pädagogischenAufgaben und Möglichkeiten s<strong>in</strong>d dadurch entstanden?Vielleicht weniger, als man zunächst me<strong>in</strong>en möchte.Jedenfalls ist die Idee von der E<strong>in</strong>heit der Menschheituralt, sie ist <strong>in</strong> Religionen und Mythen vorgeprägt,die die gesamte „Schöpfung“ als E<strong>in</strong>heit betrachten.Daraus konnten immer schon humanistische Verhaltensweisenabgeleitet werden. Der Kosmopolitismusder Aufklärung hat e<strong>in</strong>e säkulare Version diesesDenkens erfunden. Seither steht weltbürgerlicheErziehung (seit Comenius) auf dem Plan. Diese f<strong>in</strong>detim 19. Jahrhundert <strong>in</strong> der neu aufkommenden Friedenspädagogikund im Internationalismus der Arbeiterbewegunge<strong>in</strong> Echo. Das 20. Jahrhundert, mit dem„europäischen Bürgerkrieg“, wie manche Historikerdie beiden Weltkriege zusammenfassend bezeichnen(Traverso 2007), war eher e<strong>in</strong> Rückschlag für dieglobale Vernetzung <strong>in</strong> Ökonomie, Politik und Kulturder alten europäischen Mächte. Zugleich aber s<strong>in</strong>dtatsächlich, mit der Entkolonialisierung, neue Akteureweltweit auf den Plan getreten. Die nukleare Bedrohungund die ökologischen globalen Bedrohungen des(menschlichen) Lebens auf dem Planeten haben zurBildung e<strong>in</strong>es neuen Bewusstse<strong>in</strong>s ebenso beigetragen.Die mediale Entwicklung erlaubt immer mehrMenschen, das Leben der gesamten Menschheit Tagfür Tag im Detail mit zu verfolgen. So entsteht e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dieser Form und <strong>in</strong> dieser Allgeme<strong>in</strong>heit bislang unerreichtes„planetares Bewusstse<strong>in</strong>“ (Mor<strong>in</strong>/Kern 1999,43). Dieses planetare Bewusstse<strong>in</strong> ist mehr als e<strong>in</strong>neues Stadium von Weltbürgertum. Die Erkenntnisvon der irdischen Schicksalsgeme<strong>in</strong>schaft ist – nachdem Verlust von überirdischen Tröstungen, derKenntnis der ökologischen Zusammenhänge und dervon den Menschen selbst geschaffenen, bislang niedagewesenen Bedrohungen – von neuer Qualität:„Alle Menschen teilen das Schicksal des Untergangs.Alle Menschen leben im Garten, der allem Lebengeme<strong>in</strong> ist, sie wohnen <strong>in</strong> dem Haus, das der gesamtenMenschheit gehört. Alle Menschen nehmen teil amgeme<strong>in</strong>samen Abenteuer der planetaren Ära. AlleMenschen s<strong>in</strong>d vom nuklearen und ökologischen Todbedroht. Alle Menschen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der agoniehaftenSituation der Jahrtausendwende gefangen. […] DieErdenbürgerschaft anzunehmen heißt, unsere Schicksalsgeme<strong>in</strong>schaftzu akzeptieren (Mor<strong>in</strong>/Kern 1999, 202).Aus diesem generellen Befund dürfen wir allerd<strong>in</strong>gsnicht vorschnell auf geme<strong>in</strong>same Interessen „derMenschheit“ schließen, wie dies teilweise von derE<strong>in</strong>en-Welt-Bewegung getan wurde, die diese Art vonGlobalem <strong>Lernen</strong> propagierte (vgl. W<strong>in</strong>terste<strong>in</strong>er1999, Kapitel 5. II). E<strong>in</strong>heit der Menschheit heißt nur,dass e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitlicher Rahmen des Denkens undHandelns nötig und auch möglich wird, <strong>in</strong>nerhalbdessen sich der unvermeidlich konflikthafte politischeProzess abspielt.Um den Trend zu beschreiben, woh<strong>in</strong> sich die Welt -gesellschaft entwickelt, ist das Konzept der Welt<strong>in</strong>nenpolitik,als Ausdruck e<strong>in</strong>es neuen Kosmopolitismus,sehr erhellend. Dieser von Carl-Friedrich von Weizsäckerzwar nicht erfundene, aber doch wesentlichgeprägte Begriff beschreibt e<strong>in</strong>e Zielvorstellung, diedurch geme<strong>in</strong>same politische und demokratischeEntscheidungen und Handlungen bestimmt ist(Bartosch 2007). 3 Auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt, die als komplexepolitische „E<strong>in</strong>heit“ verstanden wird, bleiben dieUngleichheiten zwischen Menschen, Klassen, Völkernusw. bestehen. Aber es gibt zum<strong>in</strong>dest für alle diegleichen Rechte, und damit neue Möglichkeiten,Verbündete zu suchen und Solidaritäten zu schmieden.Wohlgemerkt, Welt<strong>in</strong>nenpolitik ist nicht die Beschreibunge<strong>in</strong>er Realität, wie sie heute existiert, aber sie istauch nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> Ideal, das unabhängig von derRealität angestrebt wird. Welt<strong>in</strong>nenpolitik ist vielmehre<strong>in</strong>e Denkfigur, mit deren Hilfe neue, bislangunbemerkte Möglichkeiten <strong>in</strong>nerhalb der heutigenWirklichkeit aufgespürt werden können. Es ist e<strong>in</strong>heuristischer Begriff, der die Realität anders zu deutenhilft, als es bislang üblich war.Der Begriff Welt<strong>in</strong>nenpolitik ist e<strong>in</strong>e zentrale Kategoriefür GlobalCitizenshipEducation. Er bezeichnet nichtnur e<strong>in</strong>en wichtigen Bildungsgegenstand, sondernauch e<strong>in</strong> zentrales Handlungsfeld von Bildung. Dochbevor dies näher erläutert werden kann, müssen wirzunächst prüfen, welche pädagogischen Antwortenauf die Globalisierung wir heute vorf<strong>in</strong>den.21