Abendprogramm 6. September 2012 - Berliner Festspiele
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<strong>6.</strong> <strong>September</strong><br />
music in a new Found land<br />
I.<br />
1930 feierte eines der ältesten Orchester der Vereinigten Staaten,<br />
das Boston Symphony, seinen 50. Geburtstag. Die Reihe der Komponisten,<br />
an die aus diesem Anlass Aufträge vergeben wurden, liest sich<br />
wie ein Who is Who des europäischen Neoklassizismus: Arthur Honegger,<br />
Albert Roussel, Sergei Prokofjew schrieben Symphonien, Paul<br />
Hindemith seine Konzertmusik und Igor Strawinsky die Psalmensymphonie.<br />
Aber nur ein amerikanischer Komponist war in den Jubiläumsprogrammen<br />
vertreten: Aaron Copland, der zu Beginn der zwanziger<br />
Jahre zur ersten Schülergeneration Nadia Boulangers in Paris<br />
gehört hatte und nach seiner Rückkehr in die USA sehr schnell als<br />
Orchesterkomponist mit Jazz-Anklängen große Beachtung finden<br />
konnte. Seine damals in Boston gespielte Symphonic Ode teilt zwar<br />
ihre grellen Dissonanzen und verblüffenden Rhythmen mit den Orchestral<br />
Variations, nicht jedoch die ausschweifend assoziative Form,<br />
denn in den Variations herrscht stattdessen eine demonstrativ nach<br />
außen gekehrte konstruktive Strenge. Wozu dieser Vergleich? Die Orchesterfassung<br />
der Variations stammt zwar aus dem Jahr 1957, sie geht<br />
jedoch auf die Piano Variations von 1930, dem Jahr des Bostoner Jubiläums,<br />
zurück.<br />
Dieser Zeitrahmen ist von einiger Bedeutung für das Schaffen<br />
Coplands. Denn so wie das Jahr 1930 für ihn den Abschied vom musikalischen<br />
Experimentieren markiert, so erfolgt Anfang der fünfziger<br />
Jahre wieder eine Wendung zu einer spröderen musikalischen Sprache,<br />
zu der auch seine erste Auseinandersetzung mit der Zwölftontechnik<br />
gehört. Der Börsenkrach Ende 1929 und die innenpolitischen<br />
Verhärtungen in den USA zu Beginn des Kalten Krieges bilden<br />
den gesellschaftspolitischen Hintergrund. Dazwischen liegt eine Periode<br />
des linken politischen Engagements, der Orientierung auf ein<br />
Massenpublikum außerhalb der rein kommerziellen Musik und der<br />
außerordentlich erfolgreichen Ballettmusiken zu amerikanischen<br />
Themen wie Billy the Kid, Rodeo, Appalachian Spring.<br />
Copland wurde lange Zeit seines Lebens von dem tiefsitzenden<br />
Gefühl verfolgt, dass zwischen Musik und Alltagsleben eine Kluft<br />
liege, sich seine Lebenserfahrung nicht in seiner Musik niederschlage<br />
und seine Musik umgekehrt dem Leben nicht nahe komme. Was<br />
sollte sich ändern, die Musik oder das Leben? Weihnachten 1930<br />
machte er sich so in seinem Tagebuch Gedanken darüber, wie er näher<br />
an die Wahrheit des Lebens herankommen könnte: »Wie vertieft<br />
<strong>6.</strong><br />
Musikfest Berlin <strong>2012</strong><br />
man seine Lebenserfahrung – ein Problem das mich brennend interessiert.<br />
Könnte es helfen, eine Woche als Tellerwäscher zu arbeiten,<br />
oder eine Gefängnisstrafe abzusitzen? Oder die Methode Gurdjieff?«<br />
Solche Fragen weichen in seinen offiziellen publizistischen Statements<br />
aber einer eher fassadenhaften Selbstdarstellung eines Komponisten<br />
mit gesellschaftlichem Auftrag, etwa wenn er rückblickend<br />
doziert: »Mit dem Jahre 1930 begannen die Komponisten in allen Teilen<br />
der Welt die Notwendigkeit einzusehen, die von ihrer Kunst während<br />
so vieler Jahre des Experimentierens erzielten Gewinne zu sichern<br />
und zu festigen… und es wurde klar, dass die neue Musik jeden<br />
Stils objektiv in ihrer Einstellung, scharf durchdacht und im Gefühlsausdruck<br />
zurückhaltend sein musste.«<br />
Die in jenem Jahr zunächst für Klavier geschriebenen Variations<br />
lassen sich durchaus auf einige der von Copland genannten Begriffe<br />
beziehen. Das aus viertönigen Zellen entwickelte Thema signalisiert<br />
konstruktive Objektivität; die zumeist deutlich voneinander abgesetzten<br />
Variationen, die sich aber auch zu kleineren Gruppen zusammenfügen<br />
können, verraten gedankliche Schärfe; und gewiss wird<br />
hier ein direkter Ausdruck von Gefühlen geradezu auffallend vermieden.<br />
Auffallend aber deshalb, weil in der Herausstellung des Konstruktiven,<br />
der Unnachgiebigkeit im Drehen und Wenden und Neukombinieren<br />
der Motivpartikel doch auch eine Heftigkeit spürbar<br />
wird, ein eigenes Pathos extrem individuellen Formwillens.<br />
Schon in den zahlreichen, präzisen Artikulationsbezeichnungen<br />
zeigt sich die Heftigkeit des Tonfalls. Auf der ersten Seite der Partitur<br />
beispielsweise trägt fast jede einzelne Note einen Akzent. »Gnadenlose<br />
Angriffslust« bescheinigt denn auch der amerikanische Musikschriftsteller<br />
Alex Ross dieser Musik selbst noch aus heutiger<br />
Perspektive. Und ganz gewiss ist es kein Werk der »Einsicht« in eine<br />
gesellschaftliche Notwendigkeit, wie sie Copland selbst konstatierte,<br />
sondern eher ein Stück, das solcher propagierten Einsicht noch einmal<br />
die ganze Widersprüchlichkeit schöpferischer Arbeit entgegenhält.<br />
Für Copland selbst markiert es als Endpunkt einer Schaffensperiode<br />
den Einstieg in eine neue. Die spätere Orchesterfassung<br />
verstärkt durch die repräsentative Klanglichkeit jene Ambivalenz<br />
zwischen kompromisslosem Konstruktivismus und massentauglicher<br />
Begeisterungsfähigkeit. Hier erhalten dann selbst die dissonanten<br />
Dreiklangsmischungen des Schlussteiles, in denen die harmonische<br />
Vieldeutigkeit des Themas zurückgespiegelt wird, durch den<br />
strahlenden Blechbläsersatz etwas Triumphales, einen affirmativen<br />
Glanz. Und es verwundert nicht so sehr, dass Copland auch in einer<br />
seiner Filmmusiken auf diese in der Gefühlsdarstellung scheinbar so<br />
zurückhaltende Musik zurückgreifen konnte.<br />
7.