Manuskript - WDR 5
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Alte und neue Heimat<br />
Sehnsucht nach Verlorenem<br />
Wurzellosigkeit und Spurensuche als Schreibmotiv<br />
Sendedatum: 1. Januar 2012<br />
von Renate Naber<br />
___________________________________________________________________<br />
Atmo Schreibwerkstatt<br />
O-Ton 1 a (Lesung) Zettelmann, Elsa:<br />
Unwirkliche Begegnung. Mein Herz klopft, meine Schritte werden<br />
schneller. Gleich wirst Du vor deinem Geburtshaus stehen. Wenn<br />
ich mich nur ein bisschen erinnern könnte.<br />
Autorin: Dienstag, 10 Uhr in einem Seminar für biographisches Schreiben<br />
in Köln-Porz. Die pensionierte Englischlehrerin Elsa Zettelmann ist<br />
70 Jahre alt. Sie hat hier vor einiger Zeit angefangen, ihre<br />
Lebenserinnerungen zu verfassen. Die Teilnehmer schreiben<br />
zuhause und lesen dann aus ihren Texten vor, geben sich<br />
gegenseitig Anregungen.<br />
Autorin: Im Alter von fünf Jahren floh Elsa Zettelmann mit ihrer Mutter und<br />
ihren älteren Schwestern in einem der letzten Transporte in den<br />
Westen, nach Dillenburg in Hessen. Lange Jahre hat sie sich über<br />
ihre Herkunft keine Gedanken gemacht. Bis ihr beim Aufschreiben<br />
ihre Kindheitserinnerungen klar wurde, dass dieser Umzug in eine<br />
neue Heimat ihr ganzes Leben, sogar die Berufswahl geprägt hat.<br />
O-Ton 2 Ich bin erst seit zehn Jahren auf Spurensuche. Vorher habe ich<br />
meine sudetendeutsche Kultur eher abgelehnt, weil sie - wie ich<br />
dachte – mit Unkultur verbunden war. Jetzt suche ich eifrig nach<br />
allen Würzelchen und Spuren, die ich finden kann und freue mich,<br />
wenn ich etwas erfahre.<br />
Autorin: Auf Spurensuche hat sich auch Herbert Gruhn begeben. Der 74jährige<br />
stammt aus Lehsewitz nahe der Oder in Schlesien. Mit<br />
zehn Jahren kam er nach Westdeutschland, seit 1962 lebt er in<br />
Köln. Auch er will seine Erinnerungen an die alte Heimat<br />
aufschreiben und sie so für seinen Sohn bewahren.<br />
O-Ton 3: Nach Kriegsbeginn war meine Mutter allein mit drei Kindern. Ein<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2011<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
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großer Garten und Bienen waren zu versorgen, wir hatten Ziegen,<br />
ein oder zwei Schweine, Hühner und Gänse, dazu war das ganze<br />
Land zu bearbeiten. Wie das zu schaffen war, ist mir heute<br />
rätselhaft.<br />
Autorin Akribisch zeichnet Herbert Gruhn seine Erinnerungen an das<br />
dörfliche, für ihn damals abenteuerliche Leben auf dem Land auf.<br />
Über die Hälfte der Autobiographen stammen aus den ehemaligen<br />
deutschen Ostgebieten. Nicht so Renate Kunze. Sie ist<br />
Technische Redakteurin, 49 Jahre alt und lebt in Bergisch-<br />
Gladbach. Geboren wurde sie Verden nahe Bremen. Renate<br />
Kunze.<br />
O.-Ton 4 Renate Kunze Meine Mutter und ihre Mutter, die haben mir, als ich<br />
Kind war, sehr sehr viel erzählt. Dadurch habe ich schon sehr<br />
viele lebendige Bilder von Ostpreußen gehabt. Ich hab auch den<br />
Dialekt meiner Großmutter, die Ostpreußisch gesprochen hat,<br />
noch sehr intensiv im Ohr, und als ich mit meiner Mutter dann mal<br />
nach Ostpreußen gefahren bin 1991, dann hab ich die Landschaft<br />
dort gesehen und sie kam mir so vertraut vor, als ob ich sie vorher<br />
schon gesehen hätte.<br />
Autorin: Diese Begegnung mit der bis dahin unbekannten Heimat hat<br />
Renate Kunze tief bewegt:<br />
O-Ton 5 Lesung Die Lilien müssen noch da sein, Lilien sind unverwüstlich,<br />
hatte meine Mutter zuvor gemeint. Meine Mutter schaut sich um.<br />
Von da, wo wir stehen, könnte ihr Hof dort links gewesen sein.<br />
Zwischen meterhohen Disteln und Gräsern bahnen wir uns den<br />
Weg, suchen nach Baumstümpfen, Fundamenten, nichts. Dann<br />
entdeckt meine Mutter den Kalmusteich. Sie geht in die Richtung.<br />
Nun kann sie auch die Stelle ausmachen, an der ihr Elternhaus<br />
gestanden hat.<br />
Sie findet die Lilien, das ist alles.<br />
Autorin: Herbert Gruhn, Elsa Zettelmann und Renate Kunze betonen, dass<br />
sie sich an ihren heutigen Wohnorten wohl fühlen. Sie sind oder<br />
waren beruflich gut etabliert, haben Familien gegründet,<br />
ausgedehnte Freundeskreise aufgebaut. Sie sind ehrenamtlich in<br />
ihren Gemeinden engagiert. In ihren autobiographischen Texten<br />
jedoch zeigt sich, bei allem Eingebundensein vor Ort eine<br />
Sehnsucht nach der alten Heimat, die sie sich oft selbst<br />
jahrzehntelang nicht eingestanden haben.<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2011<br />
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O-Ton 6 Herbert: Ja, ich weiß einfach, wo ich geboren bin, und das<br />
betrachte ich als meine Heimat. Elsa: Ich habe lange Jahre,<br />
eigentlich bis vor einigen Jahren geglaubt, keine Heimat zu haben.<br />
Jetzt neige ich immer mehr dazu, das Sudetenland als meine<br />
Heimat anzusehen, auch wenn ich mich an ganz wenig erinnern<br />
kann. Renate Ich hab mein Leben lang das als Mangel<br />
empfunden, diese Wurzellosigkeit und dadurch vielleicht auch<br />
biographische Schreiben, wenigstens aufzuschreiben, was war.<br />
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, sich an einem Ort beheimatet zu<br />
fühlen, den es in dieser Form nicht mehr gibt, das ist wie eine<br />
Phantom-Heimat.<br />
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