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Grammatikalisierungsprozesse in Pidgin- und Kreolsprachen

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Unter Pidg<strong>in</strong>sprachen versteht man aus e<strong>in</strong>er sprachlichen Notsituation heraus entstandene<br />

"Mischsprachen". Diese entstanden vorrangig zur Zeit der Kolonialisierung Afrikas <strong>und</strong><br />

anderer Gebiete <strong>in</strong> Übersee durch europäische Kolonialmächte. Der Kontakt der<br />

Kolonialherren mit den <strong>in</strong> der Folge versklavten Ure<strong>in</strong>wohnern gestaltete sich zu Beg<strong>in</strong>n stets<br />

als schwierig, da mit der jeweiligen europäischen Sprache (dem Superstrat) <strong>und</strong> der<br />

entsprechenden Ure<strong>in</strong>wohnersprache der jeweiligen Kolonie (dem Substrat) sich zwei<br />

l<strong>in</strong>guistische Systeme gegenüberstanden, die häufig erhebliche strukturelle Unterschiede<br />

aufwiesen. Um e<strong>in</strong>e zum<strong>in</strong>dest rudimentäre Kommunikation zu gewährleisten, mussten<br />

Superstrat- <strong>und</strong> Substratsprecher ihren l<strong>in</strong>guistischen Output vor allem durch Reduktion der<br />

phonologischen, morphologischen <strong>und</strong> syntaktischen Komplexität stark simplifizieren, um<br />

dem Gegenüber das Verständnis zu erleichtern. Als Konsequenz entwickelte sich e<strong>in</strong>e<br />

"Mischform", die es beiden Seiten zum<strong>in</strong>dest ermöglichte, strukturell e<strong>in</strong>fache Informationen<br />

(z.B. Befehle an die Sklaven) auszutauschen.<br />

Das Fasz<strong>in</strong>ierende an Pidg<strong>in</strong>sprachen ist, dass sie sich rasend schnell entwickeln. Dies<br />

macht sie für den L<strong>in</strong>guisten besonders <strong>in</strong>teressant. Während Standardsprachen wie Deutsch<br />

oder Französisch über Jahrh<strong>und</strong>erte h<strong>in</strong>weg vergleichsweise langsam voranschreiten <strong>und</strong> sich<br />

verändern, f<strong>in</strong>det bei Pidg<strong>in</strong>sprachen e<strong>in</strong> regelrechter Entwicklungsboom statt. Hat sich e<strong>in</strong>e<br />

Pidg<strong>in</strong>sprache mit der Zeit etabliert, beg<strong>in</strong>nt sie, ihre Struktur den wachsenden Bedürfnissen<br />

anzupassen. Morphologie <strong>und</strong> Syntax entwickeln sich weiter auf der Basis der beiden<br />

Teilsprachen. Es wird zunehmend möglich, komplexere Sachverhalte (z.B. durch Nebensätze<br />

etc.) <strong>in</strong> der Pidg<strong>in</strong>sprache zu kodifizieren. Dabei ist universell <strong>und</strong> deutlich die Tendenz zu<br />

erkennen, dass die grammatische Basis der Pidg<strong>in</strong>sprache auf der Substratsprache beruht,<br />

während die Superstratsprache den Großteil des Vokabulars (<strong>in</strong> der Regel phonologisch <strong>und</strong><br />

morphologisch reduziert) zur Verfügung stellt. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e ist es eigentlich<br />

unangebracht, von Pidg<strong>in</strong>sprachen als "Mischsprachen" zu sprechen. Läge e<strong>in</strong>e solche<br />

Mischsprache zugr<strong>und</strong>e, müsste man annehmen, dass beide Teilsprachen gleichermaßen<br />

lexikalische <strong>und</strong> strukturelle Eigenschaften <strong>in</strong> die Pidg<strong>in</strong>sprache mit e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen. Dies ist<br />

jedoch nicht der Fall.<br />

Die neue Kontaktsprache entwickelt sich <strong>in</strong> der Folge zunehmend zu e<strong>in</strong>em<br />

selbständigen, von Substrat <strong>und</strong> Superstrat nicht mehr abhängigen, l<strong>in</strong>guistischen System. Im<br />

Laufe der Entwicklung e<strong>in</strong>er Pidg<strong>in</strong>sprache verändert sich jedoch nicht nur die Sprache,<br />

sondern auch ihre Sprecher. In den Kolonien werden K<strong>in</strong>der geboren, die als Konsequenz die<br />

Pidg<strong>in</strong>sprache als Muttersprache erwerben. Das resultierende Problem liegt dabei auf der<br />

Hand: die K<strong>in</strong>der erwerben e<strong>in</strong> noch unvollkommenes <strong>und</strong> ger<strong>in</strong>g entwickeltes l<strong>in</strong>guistisches<br />

System. Nun weiß jedoch nicht nur der L<strong>in</strong>guist, dass Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>der, wenn es um Sprache <strong>und</strong><br />

Spracherwerb geht, alles andere als überfordert s<strong>in</strong>d. Gar das Gegenteil ist der Fall:<br />

Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>der sche<strong>in</strong>en die Unvollkommenheit der Pidg<strong>in</strong>sprache zu bemerken, <strong>und</strong> sie<br />

beg<strong>in</strong>nen bereits während des Spracherwerbs damit, ihre Muttersprache selbständig zu<br />

elaborieren. Diese Beobachtung wurde von Bickerton (1981) als Language Bioprogram<br />

Hypothesis formuliert. In dieser Theorie geht Bickerton davon aus, dass der Mensch e<strong>in</strong><br />

angeborenes "Sprachprogramm" besitzt, welches die unvollkommene Sprache selbständig<br />

weiterentwickelt. Manch moderne Spracherwerbstheorie geht zwar davon aus, dass auch<br />

Erwachsene noch (direkten oder <strong>in</strong>direkten) Zugriff auf dieses Sprachprogramm haben,<br />

jedoch ist man sich häufig e<strong>in</strong>ig, dass Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>der den Großteil der Arbeit im<br />

Entwicklungsprozess e<strong>in</strong>er Pidg<strong>in</strong>sprache leisten. In dieser H<strong>in</strong>sicht haben Pidg<strong>in</strong>- <strong>und</strong><br />

<strong>Kreolsprachen</strong> e<strong>in</strong>en mehr als wertvollen Beitrag zur Spracherwerbsforschung <strong>und</strong> zu<br />

Chomskys Theorie der Universalgrammatik geleistet.<br />

Es sche<strong>in</strong>t unmöglich, dass e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>em Pidg<strong>in</strong> als Muttersprache im<br />

Erwachsenenalter immer noch e<strong>in</strong>e Sprache spricht, die die genannten Defizite aufweist. Der<br />

Mensch begnügt sich nicht damit, dazu <strong>in</strong> der Lage zu se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>fache <strong>und</strong> simpel strukturierte<br />

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