198 z. Psycho!. Bd. 162 Heft 3-4 (1958)"Das elementarste und allgemeine Grundgesetz fur die Verbindung derReflexe", so schrieber, "kann folgendermaBen formuliert werden: <strong>Die</strong>Reflexe verbinden sich untereinander nach den Gesetzen der bedingtenReflexe, wobei der antwortende (motorische, sekretorische) Teil des einenReflexes bei entsprechenden Bedingungen zum Reizerreger (oder Hemmreiz)eines anderen Reflexes werden kann, wahrend er uber den sensorischenWeg der mit ihm verbundenen peripheren Reizerreger einenReflexbogen mit neuem Reflex bildet ... Das Akademiemitglied P AWLOWnennt diesen Mechanismus einen Kettenreflex und benutzt ihn bei derErklarung des Instinkts. Selbst wenn man nicht nur ein und dasselbeReflexsystem, sondern auch andere in Betracht zieht und die Mogliehkeiteiner Transmission yon einem System in ein anderes beriicksichtigt,so wird auch das im Grunde genommen eben jener Mechanismus des BewuBtseinsin seiner objektiven Bedeutung sein."Spater kehrte WYGOTSKIjedoch nicht zu diesen, yon ihm am Anfangseines theoretischen Weges aufgestellten allgemeinen Leitsatzen zuruck,sondern wurde vielmehr durch die eingehende Analyse der wahrenStruktur des BewuBtseins und durch das Erforschen der kompliziertenEntwicklungsprozesse der Personlichkeit vonr unmittelbaren Studiumder physiologischen Mechanismen der ihn interessierenden Prozesse ab.gelenkt.Man muB jedoch mit aller Entschiedenheit feststellen, daB sowohl dasPrinzip der Hervorhebung der fur den Menschen spezifischen "Einheiten"als auch der Hinweis, daB die Sprache und ihr Hauptelement -das Wort - der Entstehung der recht komplizierten funktionalenSysteme zugrunde liegen, zu Leitaatzen wurden, die in seinem wissenschaftlichenWirken bis zum Ende seines Lebens einen zentralen Platzeinnahmen und auch als eines der wesentlichsten Elemente seiner <strong>psychologischen</strong>Konzeption weiterleben werden.7. Unsere Dbersicht uber die Bedeutung der Arbeiten WYGOTSKISware unvollstandig, wollten wir nicht auch auf eine Frage eingehen, diein seinem Schaffen einen besonderen Platz einnimmt.<strong>Die</strong> Psychologie war yon jeher bestrebt, sich nicht nur als eine Wissenschaftzu betrachten, die sich auf das abstrakte Studium der Gesetze derpsychischen Prozesse beschrankt, sondern als ein Wissensgebiet, das einegroBe lebenswichtige und praktisohe Bedeutung besitzt. Hervorgegangenaus den Beobachtungen yon Arzten und Denkern aus den Reihen derPadagogen der Antike und des Mittelalters, erforschte die Psychologiedie Gesetze des psychischen Lebens zu dem Zweck, Krankheiten zuheilen, den Menschen zu erziehen und dem Unterricht der Kinder eine
A. K. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psychol. Anschauungen WYGOTSKIS 199wissenschaftliche Grundlage zu geben. <strong>Die</strong> fuhrenden Vertreter des<strong>psychologischen</strong> Denkens hielten nicht nur an diesen Aufgaben fest,sondern bezeichneten sie sogar als erstrangig.Als die Psychologie jedoch unter den EinfluB der idealistischen Philosophie geriet, die die geistigen Erscheinungen vom Leben des Korpersund von der gesellschaftlichen Existenz des Menschen isolierte, muBtesie sich unvermeidlich von ihrer Praxis losen und ihre lebenswichtige Bedeutungeinbullen.Das ist auch die Ursache, warum die einzelnen Zweige der praktischenPsychologie - die piidagogische, die medizinische oder die Arbeitspsychologie-, die in der allgemeinen Theorie des psychischen Lebensnicht die erforderliche Grundlage fanden, unvermeidlich den Rahmen deroffiziellen idealistischen Psychologie sprengten und infolge ihrer Beschaffenheitein System spezieller, jedesmal neu formulierter Begriffe erdenkenmuBte. Folglich blieben einzelne Zweige der praktischen Psychologiefaktisch ohne wissenschaftlich- theoretische Grundlage, was zu einerunaufhaltsamen, empfindlichen Krise fuhrte, Es geniigt, an jene Sackgassezu erinnern, in welche die auslandische "Psychometrie" oder"Psychotechnik" (die die wissenschaftliche Erkenntnis der sich entwickelndenPsyche durch oberflachliche psychometrische, pseudowissenschaftlicheTeste ersetzte) oder auch die auslandische medizinischePsychologie hineingeraten ist (die zu einer Zufluchtstiitte der oberfliichlichenEmpirie geworden ist), um die ganze Tiefe jener Krise zu verstehen,die durch die Fruchtlosigkeit der idealistischen Psychologie undihr Unvermogen, sich einer wissenschaftlich begriindeten Lebenspraxiszu nahern, hervorgerufen wurde.Es kam also darauf an, die gesamte Grundlage der <strong>psychologischen</strong>Wissenschaft, die Auffassungen vom Wesen der psychischen Prozesse zuverandern, damit die Lebenspraxis der Psychologie ein wissenschaftlichesFundament erhielt.An dieser Uberprufung der Hauptausgangspositionen der <strong>psychologischen</strong>Wissenschaft, an der wissenschaftlichen Begriindung der Hauptaufgabenhaben die Arbeiten WYGOTSKISeinen groBen Anteil.WYGOTSKI,der von Anfang an nicht die metaphysische Auffassungvon der Psyche als einer Summe von isolierten und unveranderlichen"psychischen Funktionen" teilte, hat bereits zu Beginn seiner Forschungendie Psychologie als die Wissenschaft vom psychischen Lebenbezeichnet. Das bedeutete, daB innerhalb des Entwicklungsprozesses dieverschiedenen Lebensformen einander abwechseln und daB das Leben aufseinen hoheren Stufen eine besondere Form annimmt, die den Charakter15*
- Seite 1 und 2: Sonderdruckaus derZEITSCHRIFT FUR P
- Seite 3 und 4: A. X. LEOKTJEW u. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 5 und 6: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 7 und 8: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 9 und 10: A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 11 und 12: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 13 und 14: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 15 und 16: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 17 und 18: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 19 und 20: A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 21 und 22: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 23 und 24: A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 25 und 26: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 27 und 28: A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 29 und 30: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 31 und 32: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 33: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 37 und 38: A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 39 und 40: A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psyc
- Seite 41: A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psyc