204 z. Psycho!. Bd. 162 Heft 3-4 (1958)zu nutzen weiB, erst dann ist man berechtigt, von einein wahren Defektin der geistigen Entwicklung eines Kindes sowie von geistiger Zuruckgebliebenheitzu sprechen. Ist aber ein Kind, das eine Aufgabe nichtselbstiindig bewiiltigen konnte, in der Lage, sie mit Hilfe eines Er.wachsenen zu losen, eignet es sich spater die erhaltenen Ratschliige anund berucksiohtigt sie bei der selbstiindigen Losung ahnlicher Aufgaben,so kann man annehmen, daB sich dieses Kind in geistiger Hinsicht gutentwickeln wird.Der Gedanke der "Zone der niichstfolgenden Entwicklung" und d eempfohlenen Verfahren zum Studium dieser Zone gestatteten es Wy-GOTSKI,ein dynamisches Prinzip in bezug auf die Erforschung dergeistigen Entwicklung des Kindes einzufuhren und die weiteren Moglichkeitenseiner Entwicklung zu erforschen, was auch zur Losung eineranderen wichtigen Aufgabe beitrug, namlich zur wissenschaftlichen Begrundungder rationellen padagogischen Beeinfiussung des Kindes. Dadurch,daB sich der Piidagoge daruber im klaren ist, welche Operationenein Kind mit Hilfe der Erwachsenen durehfuhren kann und welche Maglichkeitenfolglich durch die "Zone der niichstfolgenden Entwicklung"gegeben sind, ist er imstande, nicht nur die weitere psychische Reifeseines Schulers vorauszusehen, sondern diesen ProzeB auch rationell zubeeinfiussen und die psychische Entwicklung auf wissenschaftlicherGrundlage zu lenken. Daran liiBt sich muhelos erkennen, daB in diesenLeitsiitzen WYGOTSKISdas Fundament fur viele erfolgreiche Forschungengelegt ist, die es gestatten, die Unterrichtstheorie wissenschaftlich zufundamentieren, mit anderen Worten, die geistige Entwicklung desKindes nach psychologisch begrundeten Gesichtspunkten zu lenken.Wenn wir auch den wissenschaftlichen und praktischen Wert dieserIdeen WYGOTSKIShervorheben, so konnen wir doch andererseits nichtdarauf verzichten, auf gewisse Inkonsequenzen und direkte Entstellungenhinzuweisen, die den vorliegenden Zyklus von Arbeiten charakterisierenund ihren deutlichsten Ausdruck in WYGOTSKISEinstellung zur sog.Padologie fanden. Wie wir soeben festgestellt haben, kritisierte er besondersjene ihrem Wesen nach fatalistischen Konzeptionen der psychischenEntwicklung des Kindes, die der Piidologie zugrunde lagen; dasgleiche gilt auch fur die in der Piidologie ublichen psychometrischenTeste. Doch sah er keine innere Verbindung zwischen der Haltlosigkeitder von ihm kritisierten Theorien und deren Methodik und der Haltlosigkeitdes Gedankens von der Existenz einer gewissermaBen speziellen"Wissenschaft vom Kind", der Padologie. Deshalb ging er, obwohl er dieUnwissenschaftlichkeit der von den damaligen Piidagogen benutzten
A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 205Theorien und Testmethodiken entlarvte, nicht gegen die Piidologie (undihre Terminologie wie Krisis des Reifens, Denkens usw.) vor, in der ervor allem eine Plattform sah, von der aus die <strong>psychologischen</strong> Erkenntnissein das Schulleben praktisch eindringen konnten. Mehr noch, erselbst veroffentlichte sogar einige seiner psyehologisehen Arbeiten inpiidologischen Publikationen. Das war naturlich ein Fehler, durch denallerdings all das Positive, das er zur Losung praktisch wichtiger psychologischerFragen beigetragen hatte, nicht geschmiilert wird.Es sind aber nicht nur die erwiihnten Arbeiten, die die Tendenz erkennenlassen, stets Neues in die praktischen Gebiete der Psychologiehineinzutragen, sondern die gesamte Tiitigkeit WYGOTSKISiiberhaupt.Daruber hinaus ist es ihm sogar gelungen, tatsachlich viel Neues auf deneinzelnen Gebieten der Psychologie zu leisten. Seine Arbeit an den Prinzipiender Kompensation von Defekten und des Unterrichts bei taubstummenKindern, an prinzipiellen Verfahren der patho<strong>psychologischen</strong>Forschung unter Beurteilung der primaren und der daraus entstehendensekundiiren (systematischen) Defekte, seine Arbeiten an den wichtigstenProblemen der Logopadie, der Nervenkliniken und lrrenanstalten sindaus diesen Gebieten nicht mehr wegzudenken.WYGOTSKIsetzte sich beharrlich dafur ein, daB die Psychologie aufharte,nur eine piidagogische Wissenschaft zu sein, daf sie den Rahmenrein abstrakter theoretischer Erkenntnisse sprengen und aktiv in dasmenschliche Leben eindringen konnte, um aktiv an seiner Gestaltung mitzuwirken.<strong>Die</strong> Psychologie, so sagte er, muf ihren Gleichmut aufgebenund zur Leidenschaftliehkeit iibergehen, sie dad weder die groBenethischen Probleme im Leben des Menschen noch die kleinen alltaglichenauBer acht lassen. Der Psychologe aber muf sowohl ein Denker als auchPraktiker sein. "leh bin del' Meinung, daB die Psychologen genau wie dieArzte praktisch arbeiten sollten, praktiseh im weitesten Sinne; ich binfur Kuhnheit und dafur, daB unsere Wissenschaft aktiv in das Lebeneindringt" , so schrieb WYGOTSKI.Wir glauben, daB die Forderung WYGOTSKIS,die wissenschaftlichePsychologie mogliehst eng mit dem Leben, mit del' Praxis zu verbinden,auch in unserer Zeit noch ihre Aktualitiit behalten hat und daf wir auchheute noch vor del' gleichen Aufgabe stehen.Anschrift des Verfassers:Prof. Dr. A. N. LEONTJEW und Prof. Dr. A. R. LURIALomon OSSOW·Uni versi tatMoskau, UdSSR15 a Z. Psychologie 162
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