PRAXISEine Reise von Poldanien nach ItalienPsychomotorische Förderung mit KindernText und Fotos: Christoph KöserDie Tür geht auf, alle haben ihren Fahrschein dabei. Eine Reise nach Poldaniensteht heute an. Dort, wo Prinz Poldi wohnt, gibt es viele Geschichten zu erleben,viele Dinge zu finden und Rätsel zu lösen. Aber bevor man in Poldanien ankommt,muss man über einen reißenden Fluss. Wer weiß, wo die Steine dicht unter derWasseroberfläche liegen und Freunde hat, dem wird es gelingen. Wenn man dasgeschafft hat, wartet auf einem Berg ein großes Geheimnis, das es zu lüften gilt,um den weiteren Weg zu finden. Vielleicht kann man den See überqueren - dorthinten scheint ein Boot zu liegen. Vielleicht kann man aber auch auf den schmalenPlanken dort über das Wasser gelangen?Alle sind gespannt, keinem der Kinder fällt es ein, aufzugeben, gelangweiltauszusteigen oder Pause zu machen (was erlaubt ist). Niemand zieht sich zurück,niemand möchte etwas verpassen. Keines der Kinder meint, er müsse der Erstesein, um eine gute Note zu bekommen oder fürchtet gar, missachtet zu werden,wenn er oder sie es nicht sofort schafften. Kein Hindernis, das nicht überwundenwerden könnte - denn das Geheimnis auf dem Berg ist jetzt wichtiger...Paradiesische Bedingungen in einem riesigen Waldgelände? Eine „pflegeleichte“Kindergruppe? Nichts von alledem: Der Fahrschein kommt ausdem PC meiner Kollegin Katrin Thöle, die Steine unter der Wasseroberflächesind rote Teppichfliesen, der geheimnisvolle Berg besteht aus Barren,Matten und Kästen, die so manchen in seiner Schulzeit quälten. Das Bootbesteht aus Rollbrettern und Matten. Das Abenteuer beginnt keineswegsim Wald, sondern in einer Schulturnhalle mit dem üblichen Geruch undeiner tristen Wandfarbe. Prinz Poldi ist „nur“ die wunderbare Erfindungmeiner Kollegin Silke Pfeiffer und „nur“ eine Stoffpuppe. Aber so etwasdenken in solchen Momenten ja nur Erwachsene. Die Fantasie jedoch hatder Psychomotorikgruppe „Spielkarussell“ „Flügel“ verliehen. Sie beginnendas Abenteuer...WerDie Psychomotorikgruppe der <strong>Hans</strong>-<strong>Wendt</strong>-<strong>Stiftung</strong> in den Integrations-Einrichtungen Kindertagesheim Robinsbalje und Höhpost trifft sich jedeWoche einmal. Sie besteht aus zehn Kindern im Alter von 6-8 Jahrenmit und ohne (festgestellten) Integrationsbedarf. Es sind alles Kinder auseinem sozialen Brennpunkt. Kinder, deren Bedürfnis nach Abenteuer,nach sinnlicher Erfahrung, nach sozialer Anerkennung und Sicherheit inBeziehungen groß ist. Kinder, die innerlich oft „sprachlos“ und „haltlos“sind, nicht wissen, wie sie u.a. ihre Frustrationen und Ängste angemessenin der äußeren Welt platzieren sollen. Es sind Kinder mit Entwicklungsverzögerungen/Beeinträchtigungenin den Bereichen Kognition, sozialeKompetenz, Motorik/Wahrnehmungen, oft verbunden mit emotionalenBlockaden, Labilität und ausgeprägter Selbstwertproblematik.Sie zeigen motorische Koordinationsschwierigkeiten, mangelndeRegulierung des Tonus, Gleichgewichtsprobleme, Ungeschicklichkeit,manchmal aggressives impulsives Verhalten, Leistungsverweigerung,Kommunikationsschwierigkeiten und Aufmerksamkeitsstörungen verbundenmit geringer Frustrationstoleranz.Einige von ihnen scheitern häufig in der Schule, in Sportvereinen oderim Alltag, weil etwas zu leicht, zu schwer, zu angstbesetzt, zu wild, zulangsam, zu konkurrenzbetont, zu verwirrend, etwas zu offen gestaltet istoder zu wenig Raum lässt. Sie fallen auf oder bleiben auch leise im Hintergrund,weil ihnen wichtige Lernschritte, Erfahrungen, Fähigkeiten undFertigkeiten noch fehlen oder noch zu wenig ausgeprägt sind.Es sind aber auch Kinder, die alles, was bedeutsam für sie ist, gernelernen: In den Stunden des Spielkarussells setzen sie gleichermaßenihr Gleichgewicht oder die „Ehre“ „auf`s Spiel“. Sie entdecken Formen,erfahren Gewichte und Relationen, benennen Dinge. Sie setzen sich leiblichhandelnd mit der materiellen Welt in Beziehung, um immer komplexereHandlungen zu planen, auszuführen und für sich zu beurteilen.Sie setzen sich personal in Beziehung, konfrontieren sich mit ihren Stärkenund Schwächen. Sie ernten Lob, erfahren Begrenzung und dass manmanchmal Hilfe von anderen braucht und sie auch bekommt. Sie nehmenwahr, dass die eigenen Bedürfnisse und Erfahrungen nicht unbedingt dieder MitspielerIn sind, dass es aber Wege des Aufeinander-zu-bewegensgibt - oft nonverbal. Sie erfahren exemplarisch über viele Sinnkanäle, dassihr eigenes Tun und ihr Lernen, Spaß macht und Erfolge bringen kann.10die <strong>Eule</strong> . Frühjahr 2008
PRAXISMit Freude, Sinn und Bewegung geschieht alles -auch Anstrengendes undSchwieriges- spielerisch bewegend, scheinbar „wie von selbst“. So treibensie stets ideenreich und nach ihren aktuellen Bedürfnissen und Möglichkeitenihre eigene Entwicklung für sie sinnhaft voran.WasWir nutzen als PsychomotorikerInnen ein pädagogisch-psychologischesHandlungskonzept, in dessen Mittelpunkt Wahrnehmen, Bewegen undErleben stehen. Psychomotorik hat sich seit den 50er Jahren in Deutschlandetabliert und stellt heute eine wirksame Präventions-/Interventionsmethodein der Entwicklungsbegleitung und Förderung über die gesamteLebensspanne dar, die ständig in der Theorie und in der Praxis weiterentwickeltwird. Es geht um eine „Verbesserung“ des Verhaltens des Kindesund die Förderung aller Aspekte der Persönlichkeit. Über die Bewegungwerden Lernprozesse aller Art in Gang gesetzt. Dabei ist die SpielideeAusgangspunkt der psychomotorischen Aktivitäten.Auch in der <strong>Hans</strong>-<strong>Wendt</strong>-<strong>Stiftung</strong> hat die Psychomotorik in denletzten Jahren immer wieder u.a. durch verschiedene KollegInnen einenPlatz gefunden. Sowohl in den IH/IHTE-Einrichtungen, den Kindergärtenund den Horten, sowie jüngst auch in den Ganztagsschulen haben sichpsychomotorische Elemente oder Gruppenangebote etabliert. 2006/2007entstand im Rahmen der Arbeit an Programmen im IHTE-Bereich dasPsychomotorikmanual der <strong>Hans</strong>-<strong>Wendt</strong>-<strong>Stiftung</strong> mit einführenden Fortbildungsveranstaltungenim Hort- und Kindergartenbereich. Eine weitereVeranstaltung sowie die Ergänzung des Manuals sind für das Frühjahr2008 fest eingeplant.WieDie begleitenden PädagogInnen schaffen in den Stunden Situationen, indenen Kinder möglichst viel an ihrer individuellen Entwicklung „arbeiten“können. Dabei werden für die jeweiligen Stunden Förderschwerpunktegesetzt. Der spielerische Förderprozess der Stunde ist dabei wichtiger alsdas Ergebnis. Denn keiner von uns weiß genau, wie die „Reise nach Poldanien“genau funktioniert und endet. Natürlich haben wir immer einen Vorschlagim Kopf oder den Händen. Alleine aber steht die Zeitdauer von 90Minuten als unsichtbare Mauer fest, um „das Land Poldanien“ rechtzeitigzu verlassen. Und dies ist auch eine der wenigen unveränderbaren Regeln,denn u. a. ist Freiwilligkeit das Gebot: Jeder darf eine Pause einlegen undam Rand zuschauen, sich körperlich distanzieren - leibhaftig die Perspektivewechseln. Es wird weder streng geübt, noch beliebig und grenzenlosgespielt. Der Rahmen wird durch den gewählten Förderschwerpunktabgesteckt. In unserer Stunde heute war es der Schwerpunkt „Fantasie,Assoziation gegenständliche Welt“, in der das Symbolspiel vorherrschtund sich ein Thema durch die ganze Stunde zieht. Nicht auszuschließenist natürlich, dass Kinder etwas lernen, was nicht beabsichtigt war unddabei große „Fehler“ machen.Dieser Aspekt, der nicht immer ausreichend geschätzt wird, ist ganzim Sinne des Ganzheitsanspruches der Psychomotorik: Jedes Kind arbeitetimmer an dem Aspekt seiner ganzen Person (kognitiv, sozial, material,emotional, physisch) und macht die „Fehler“, die für seine Entwicklungin dieser Minute sinnhaft und notwendig sind – und seien sie noch soskurril. Die Rolle des/der PsychomotorikerIn besteht darin, die materielle,soziale, emotionale und physische Sicherheit zu gewährleisten, einFörderschwerpunkt/Förderziel zu wählen, entsprechende Differenzierungsöglichkeitenbereitzustellen, die Dinge spannend zu inszenieren/zuunterstützen und darauf zu vertrauen, dass die Kinder eigene Lösungenfinden. Dies funktioniert nicht immer so gut wie heute in „Poldanien“.Mit eigener Bewegungserfahrung, Lust am Spiel und möglichst großemHandlungsrepertoire und einer sorgfältigen Gruppenzusammenstellunggelingt dies jedoch leichter. Hier hat sich die Besetzung durch zwei PädagogInnensehr bewährt und zur Qualität dieses Angebots beigetragen:Neben der Ergänzung von Talenten, besteht in den Stunden eine guteMöglichkeit, einzelne Kinder und ihre Ideen zu unterstützen, zu bestärkenoder als Mitspieler in Problemsituationen spielerisch zu helfen. Auchfür Verhaltensbeobachtungen einzelner Kinder, die für den Verlauf vonFördermaßnahmen wichtige Orientierungen geben können, sind solcheSettings nützlich. Denn in der Bewegung drücken sich Probleme derWahrnehmung und emotionale/soziale Probleme deutlich aus. KörperlicheEinschränkungen/Misserfolge drücken sich im emotionalen Befindenaus. Letztlich sind dies untrennbare Prozesse. Es geht darum, „Brüche“ inder Entwicklung aufzuspüren und mit Beteiligung des Kindes und seinerStärken positiv auf die Entwicklung einzuwirken.... die Uhr zwingt uns nun Poldanien zu verlassen; doch wie kommt man jetztnach Hause? Tim, der anfangs behauptete, er habe heute gar keine Lust etwaszu tun und lange am Hallenrand saß, hat nun den rettenden Einfall: “Wir nehmeneinfach den Zug“. Schon saust der nach einigen Diskussionen über die besteKonstruktion gebaute Zug, der„nur“ eine Aneinanderreihungverschiedener rollbrettgestützterKästen ist, durch die Landschaft.Er saust Richtung Heimat, dienur eine Tür einer Schulturnhalleist. In unserer Abschlussrundesagt Zaira, die sonst immer sehrstill ist, zum Abschied: „...dasnächste Mal möchte ich abernach Italien reisen.“„Das ist aber ganz schön weit“,antworten wir. Aber so etwas,denke ich, denken ja nur Erwachsene!Einige Tage später gab Zaira meiner Kollegin eine handgeschriebene Listemit Dingen, Geräten und Abläufen, die auf jeden Fall in der nächsten Reise vorkommensollten. So machten wir uns an die sorgfältige Planung der Stunde undfragten uns, wie ein Bock, eine Brücke, ein Trampolin, Ringe, Reifen, Rampen,Hampelmänner und Bälle wohl in „Italien“ ihren abenteuerstiftenden Platz findenkönnten.....Siehe auch: PSYCHOMOTORIKMANUAL von Silke Pfeiffer, Katrin Thöle und ChristophKöser, <strong>Hans</strong>-<strong>Wendt</strong>-<strong>Stiftung</strong>; dort eine Einführung zur Psychomotorik, Stundenvorschlägeund eine umfangreiche Literaturliste im Anhangdie <strong>Eule</strong> . Frühjahr 2008 11