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Grundlagen der Programmarbeit Programme des Jahres

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Alle konzeptionellen Überlegungen wären fruchtlosgeblieben, wenn nicht ein fulminantes Schauspielerensembleden Dreiteiler mit Leben erfülltund damit zum Erfolg geführt hätte. An ersterStelle ist eine großartige Iris Berben zu nennen,die als Bertha Krupp in verschiedenen Altersstufenglänzt. Sie bemerkt im Interview über ihreRolle: »Die Härte, die Bertha Krupp ihren Kin<strong>der</strong>ngegenüber gezeigt hat, hat sie immer auch vonsich selbst eingefor<strong>der</strong>t. Sie hat auf ihre eigenenWünsche verzichtet (...). Ihr wurde mehr o<strong>der</strong> wenigerein Ehemann ausgesucht. Obwohl es zwarletztlich eine Liebesheirat war, hatte es auch sehrviel mit Vernunft zu tun ...«. Benjamin Sadler gibtden Alfried, die zweite Hauptrolle. Alfried war <strong>der</strong>Kronprinz. Er hatte als Kind unter dem elterlichenDrill mehr zu leiden als seine vier Brü<strong>der</strong> und zweiSchwestern. Dafür wurde er schließlich mit demalleinigen Besitz <strong>des</strong> Konzerns belohnt.Barbara Auer spielt Berthas Mutter, MargaretheKrupp. Sie vor allem sorgte dafür, dass <strong>der</strong>Krupp-Konzern ein beispielhaftes, werksgebundenesSozialwesen aufbaute, mit Wohnungen,Einkaufsläden und Krankenhäusern. Krupp standfür einen fürsorglichen Kapitalismus. Fritz Karl istals Fritz Krupp zu sehen. Dem genialen Konzernlenkerwurden seine homosexuellen Neigungenzum Verhängnis. Heino Ferch stellt Gustav Kruppvon Bohlen und Halbach dar, Berthas Mann. Derangeheiratete Adlige verkörperte das Krupp’scheIdeal <strong>der</strong> Selbstdisziplin noch mehr als die geborenenKrupps. Viele Rollen sind zweifach besetzt,weil <strong>der</strong> Film einen Zeitraum von 70 Jahren erzählt.Thomas Thieme gibt den gealterten Gustav,den seine spätere Demenz davor schützt, vonden Alliierten verurteilt zu werden. Statt seiner wirdsein Sohn Alfried bestraft. Mavie Hörbiger tritt alsAnneliese Bahr auf. Sie war die erste Ehefrau vonAlfried Krupp und seine große Liebe. Ihre Tragikbesteht darin, dass die geschiedene HamburgerKaufmannstochter von dem seelisch hartgesottenenStahl-Clan aus dem Ruhrpott nicht akzeptiertwurde. Arndt von Bohlen und Halbach entsprangdieser zum Scheitern verurteilten Ehe. NikolaiKinski spielt ihn und erinnert in seiner Spielweisenicht nur an seinen exzentrischen Vater KlausKinski, son<strong>der</strong>n markiert auch meisterhaft denletzten Erben <strong>der</strong> Dynastie, <strong>der</strong> mit geschminktenAugen gemeinsam mit seinem Gefolge im marokkanischenPalast <strong>der</strong> Familie seine Krönungzum bayerischen König spielen lässt. Auch ValerieKoch als die junge Bertha und Marie Zielckesowie Sunnyi Melles als die jüngere und die ältereVariante von Berthas Schwester Barbara müssenerwähnt werden. Die Genannten stehen stellvertretendfür den sehr großen Cast.Für ein solch aufwändiges, ambitioniertes Projektbraucht man die wirklich Guten <strong>der</strong> Branche.Produzent Oliver Berben und vor allem auchRegisseur Carlo Rola realisierten das Projekt.Gustav Krupp von Bohlen undHalbach (Thomas Thieme, Mitte)und Gemahlin Berta (Iris Berben)geben sich die EhreIris Berben als Bertha Krupp128 I2009.Jahrbuch


Anneliese (Mavie Hörbiger) überredetAlfried (Benjamin Sadler) zueinem gemeinsamen AusflugBei <strong>der</strong> Flucht aus Essen gerätGustav Krupp (Heino Ferch) ineine StraßensperreKoproduzent Georg Feil sorgte dafür, dass dieAngaben <strong>der</strong> historischen Fachberater, <strong>der</strong> ProfessorenGall und Abelshauser, genauen Eingangin den Film fanden. Carlo Rola trieb die Produktionvoran, für <strong>der</strong>en Größe Zahlen stehen: Gedrehtwurde von Anfang September 2008 bis Januar2009 an 81 Drehtagen plus sieben einer »2ndUnit«. 68 Schauspieler wirkten mit und exakt 2007Komparsen. Es gab 112 Motive an 68 Drehorten.Es wurde gedreht in Salzburg und Innsbruck; inNordrhein-Westfalen, Berlin, Thüringen und Bayern;in insgesamt 31 Städten und Orten. SchlossBlühnbach in Österreich, ein Stammsitz <strong>der</strong> Familie,stand als Drehort zur Verfügung, ebensodie Plätze auf <strong>der</strong> italienischen Insel Capri, aufdenen <strong>der</strong> Clan im Sommer urlaubte. In Los Angelesentstand ein Großteil <strong>der</strong> umfangreichencomputergenerierten Teile. Der Film brauchte einebreite Finanzierung. Das ZDF ist dankbar, dassdie Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, das MedienboardBerlin-Brandenburg, <strong>der</strong> FilmFernsehFondBayern, die För<strong>der</strong>ung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> Salzburg unddie Mitteldeutsche Medienför<strong>der</strong>ung das Projektunterstützten.Die Familiengeschichte <strong>der</strong> Krupps musste – willman <strong>der</strong> Aufgabe gerecht werden – selbstverständlichauch die einer politisch-ökonomischaußerordentlich wichtigen Familie sein. In ihr spiegelnsich gleichermaßen die Katastrophen wie diegelungenen Seiten <strong>der</strong> deutschen Geschichte.Aufgrund seiner Größe, seiner schwerindustriellenProduktion und speziell seiner Rüstungsproduktionhatte <strong>der</strong> Konzern eine immense Bedeutungfür die Mächtigen Deutschlands. Wilhelm II. war<strong>der</strong> Taufpate Alfrieds und ließ von Krupp U-Bootebauen. Hitlers Panzer entstammten <strong>der</strong> EssenerGroßwaffenschmiede. Die Englän<strong>der</strong> zerbombtendenn auch die Krupp’schen Werke nach Kräften.Krupp war unter <strong>der</strong> Führung <strong>des</strong> GeneralbevollmächtigtenBerthold Beitz früher als an<strong>der</strong>e imGeschäft mit <strong>der</strong> Sowjetunion tätig. Der Dreiteilerwebt die verschiedenen Komponenten <strong>des</strong>Phänomens Krupp ineinan<strong>der</strong> und erzählt damiteine weite Strecke deutscher Geschichte im 20.Jahrhun<strong>der</strong>t.Das Publikum konnte ein öffentlich-rechtlichesQualitätsprogramm sehen: eine facettenreicheMutter-Sohn-Beziehung, eine fesselnde Familienstoryund konzentrierte Augenblicke fiktionalisierterdeutscher Historie.Eine deutsche Familie – und vieles mehrI 129


offen für neue Berufungen und schrieben gemeinsamihr erstes Drehbuch.Alle sieben Filme <strong>der</strong> Reihe behandeln zeitgenössischeThemen und proben den spielerischenUmgang mit Genre-Elementen. Newcomer undEtablierte spielen zusammen, Regisseure undAutoren bereichern ihre Filme mit Erfahrungenaus an<strong>der</strong>en Disziplinen. So erhalten die Filme <strong>der</strong>diesjährigen Gefühlsecht-Reihe ihr unverwechselbaresGesicht.Viele Talente <strong>der</strong> letztjährigen Gefühlsecht-Reihenhaben ihren Weg zu den Formaten insHauptprogramm gemacht, zum Beispiel als Autorenund Regisseure bei »KDD – Kriminaldauerdienst«,»Kommissar Stolberg«, »Ein Fall für zwei«,»Wilsberg« o<strong>der</strong> dem Fernsehfilm <strong>der</strong> Woche.Auch einige Namen <strong>der</strong> neuen Talente wird mansich merken müssen.100%Leben – Die Dokumentarfilmreihe imKleinen FernsehspielDer Faktor Zeit spielte eine große Rolle in unsererdiesjährigen Dokumentarfilmreihe 100%Leben.Zeit ist ein Luxus, auch und gerade für Filmemacher.Es ist daher etwas Beson<strong>der</strong>es, dass gleichsieben zum Teil preisgekrönte Produktionen vonRegisseurinnen und Regisseuren zu sehen waren,die ihre Protagonisten über beson<strong>der</strong>s langeZeiträume – teilweise mehrere Jahre – begleitethaben.seinem Weg zum Boxtitel. Sie zeigt die Welt einesjungen Afrikaners, <strong>der</strong> für seine Familie den Traumvon Europa erfüllen soll. Der Ausweglosigkeit <strong>des</strong>Asylheims in Deutschland kann er aber nur durchsBoxen entkommen.Weitere Filme umfassen sogar Perioden von überzehn Jahren, wie die Langzeitdokumentationen»Ich geh jetzt rein ...« von Aysun Bademsoy,über eine Clique deutsch-türkischer Fußballerinneno<strong>der</strong> »Auf halbem Weg zum Himmel« vonAndrea Lammers und Ulrich Miller, <strong>der</strong> sich mit<strong>der</strong> Aufarbeitung eines Massakers in Guatemalabeschäftigt.Gerade in einer schnelllebigen Zeit nehmen sichunsere Nachwuchsregisseure Zeit. Zeit, um zunehmendkomplexe Sachverhalte zu erklären,ihren Protagonisten nahe zu kommen und mo<strong>der</strong>neDokumentarfilme zu machen.Die Onlineprojekte <strong>des</strong> KleinenFernsehspielsDurch die Digitalisierung eröffnen sich unsererArbeit neue Möglichkeiten, ein junges Publikumanzusprechen, mit ihm zu kommunizierenund seine Anregungen in die <strong>Programmarbeit</strong>einzubeziehen.Mit unserem Onlinewettbewerb Talentprobe@DaskleineFernsehspiel riefen wir zur EinreichungIn »Henners Traum – Das größte TourismusprojektEuropas« folgt Klaus Stern zweieinhalb Jahreeinem Bürgermeister bei dem Versuch, in <strong>der</strong> regnerischennordhessischen Provinz eines <strong>der</strong> größtenFerienresorts weltweit anzusiedeln. Stern schufein erhellen<strong>des</strong> und amüsantes Lehrstück überhochfliegende Ambitionen und harte Landungen.O<strong>der</strong> »Rich Brother«: Ebenfalls über zwei Jahrebegleitete Insa Onken »Ben, den Löwen« aufTalentprobe@DaskleineFernsehspiel,ein Wettbewerb für jungeRegisseureDas kleine Fernsehspiel – Nachwuchsredaktion mit ZukunftI 131


»Auf halbem Weg zum Himmel«:Betroffene eines Massakers»Henners Traum – Das größteTourismusprojekt Europas«, ausgezeichnetmit dem HessischenFilmpreis»Bodybits – Analoge Körper indigitalen Zeiten«von Kurzfilmen ganz junger Nachwuchsregisseurinnenund -regisseure auf. Wir erhielten 173Einreichungen aus allen Genres. Im Januar 2009präsentierten wir 25 ausgewählte Kurzfilme in <strong>der</strong>ZDFmediathek. Die User konnten sie dort bewertenund kommentieren. Neben einem Publikumsfavoritenermittelte eine Fachjury, darunter AndreasSchmidt, Katinka Feistl und Alice Dwyer, dreiweitere Preisträger. Die vier Gewinnerfilme wurdenauf dem Sendetermin <strong>des</strong> Kleinen Fernsehspielsim Mai 2009 ausgestrahlt.Die Initiative Talentprobe@DaskleineFernsehspielentstand in enger Zusammenarbeit zwischen demKleinen Fernsehspiel und <strong>der</strong> ZentralredaktionNeue Medien.Diese erfolgreiche Kooperation haben wir miteiner neuen Form <strong>der</strong> Ausschreibung fortgesetzt.Unter dem Titel »Bodybits – Analoge Körper in digitalenZeiten« suchten wir nach Projektideen, diesich mit dem verän<strong>der</strong>ten Körper- und Identitätsbildin unserer digitalen Zeit auseinan<strong>der</strong>setzen.Am Ende wollten wir fünf vollfinanzierte Filme inAuftrag geben.Wir erhielten 120 Einreichungen, die zusammenmit den Bewerbungsvideos online gestellt und<strong>der</strong> Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.Erstmals wurde so <strong>der</strong> gesamte redaktionelleAuswahlprozess transparent gemacht. Gleichzeitighatten die User die Möglichkeit, mit ihrem VotingEinfluss zu nehmen. Die Entstehung <strong>der</strong> fünfausgewählten Ideen werden wir 2010 weiter onlinebegleiten und den Nachwuchsregisseurinnen und-regisseuren prominente Paten als Experten zurSeite stellen.Wir hoffen, dass auf diese Weise wie<strong>der</strong> fünfProduktionen entstehen, die dem gesamten Programmin den nächsten Jahren neue Impulsegeben können.132 I2009.Jahrbuch


Anmerkungen zur ersten bemannten Mondlandung vor 40 JahrenAm 20. Juli 1969 wirbelte die US-Landefähre»Eagle« kurz vor dem Touchdown viel Staub auf– auch in symbolischer Hinsicht. Einige Stundenspäter betraten mit Neil Armstrong und Buzz Aldrindie ersten Menschen den Erdtrabanten undmarkierten die größte Zäsur <strong>der</strong> Kulturgeschichte,ja, die bisherige größte Zäsur in <strong>der</strong> Wissenschafts-und Technikgeschichte überhaupt. Währendviele so genannte historische Ereignisse in1000 Jahren längst wie<strong>der</strong> in Vergessenheit geratensein werden, wird die erste Apollo-11-Missionauch nach dem Jahr 2969 in lebhafter Erinnerungbleiben, weil sie, langfristig gesehen, den Aufbruch<strong>der</strong> Menschheit ins All symbolisiert. Und:weil sie ein Medienereignis war, an dem MilliardenMenschen live Anteil nahmen. Nie zuvor – undauch nicht danach – waren so viele Menschenüber so viele Stunden gefesselt von unscharfen,verrauschten Bil<strong>der</strong>n, von teilweise kaum verständlichenKommentaren, um das einzigartigeEreignis mitzuerleben.Die erste Mondlandung avancierte – im unzulässigenSuperlativ formuliert – zum »historischsten«Ereignis in den Annalen <strong>der</strong> Menschheitsgeschichte.Keine an<strong>der</strong>e geschichtliche Begebenheitwirkte so nachhaltig, markierte eine <strong>der</strong>arttiefe positive und zugleich breite Zäsur. Selbst dieEntdeckung Amerikas durch Christoph Columbus1492, für sich gesehen natürlich ein singuläreshistorisches Ereignis, aber global betrachtet, ebennur eine Wie<strong>der</strong>entdeckung eines Kontinents, denschon Jahrhun<strong>der</strong>te zuvor unbekannte Seefahrermehrfach frequentierten, kann mit <strong>der</strong> Apollo-Mission 11 nicht konkurrieren. Denn vor 40 Jahrenbetraten Menschen im wahrsten Sinne <strong>des</strong>Wortes erstmals »Neuland«. Sie setzten ihre Füßeauf einen außerirdischen »Kontinent«, den keinerzuvor je betreten hatte. Der Mensch verließ erstmalsdie Erde, betrat einen fremden Himmelskörperund sah seine Heimatwelt mit eigenen Augen– als funkelnden blauen Smaragd. Selbst <strong>der</strong>erste Mars-Astronaut, <strong>der</strong> in naher Zukunft durchden Staub <strong>des</strong> Roten Planeten watet, wird mitArmstrongs Schritten nicht Schritt halten können.Aus historischer Perspektive wird selbst die erstebemannte Mars-Mission im Schatten <strong>der</strong> Mondlandungstehen.Gewiss, <strong>der</strong> 20. Juli 1969 (21. Juli 1969, 3.56Uhr MEZ) hat, retrospektiv gesehen, keineswegsden Sprung <strong>der</strong> Menschheit in ein neues Raumfahrtzeitaltereingeleitet, den Neil Armstrong mitseinem geflügelten Wort vom kleinen Schritt füreinen Menschen so pathetisch beschworen hatte.Schließlich währte das Mondabenteuer nur dreieinhalbJahre, hüpften im Zeitraum von Juli 1969bis Dezember 1972 im Rahmen sechs verschiedenerMissionen gerade einmal zwölf Menschenauf dem Erdtrabanten. Seit nunmehr knapp 37Jahren bestaunte keine Menschenseele mehr dentiefschwarzen Mondhimmel. Keiner erblickte diebizarre, von Kratern durchzogene, wüstenartigeLandschaft, den fein mehligen Sandstaub unddas fremdartig hellstrahlende Sonnenlicht miteigenen Augen.Während die sowjetische Sputniksonde 1957 dasunbemannte und <strong>der</strong> Kosmonaut Juri Gagarin1961 das bemannte Raumfahrtzeitalter einleiteten,begann aus heutiger Sicht mit <strong>der</strong> Apollo-11-Missionmitnichten irgendeine neue Raumfahrtära.Die Apollo-Missionen ebneten we<strong>der</strong> den Wegzu einer permanent bemannten Mondbasis nocherwiesen sie sich als das erhoffte Sprungbrettzum Mars. Im Gegenteil – die Mond-Missionensymbolisierten den Beginn <strong>der</strong> großen Krise <strong>der</strong>bemannten Raumfahrt. Sie führten allen Enthusi-Harald LeschAnmerkungen zur ersten bemannten Mondlandung vor 40 JahrenI 133


asten unvermissverständlich vor Augen, was technischmachbar ist, wenn <strong>der</strong> Wille die tragendeSäule einer Idee ist – und was eben nicht realisierbarist, wenn die erste Begeisterung verfliegtund die finanziellen Ressourcen versiegen, weilirdische Probleme den Blick auf das Außerirdischeverstellen.Als sich am 12. Dezember 1972 Eugene Cernanvom Mond verabschiedete, konnte zu diesemZeitpunkt noch keiner ahnen, dass er <strong>der</strong> letzteMensch <strong>des</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts sein sollte, <strong>der</strong> seinenFuß auf einen fremden Himmelskörper setztund das amerikanische bemannte Raumfahrtprogrammso schnell auf Nimmerwie<strong>der</strong>sehen imHaushaltsloch <strong>der</strong> NASA verschwinden würde.Zugegeben, <strong>der</strong> wissenschaftliche Ertrag <strong>der</strong>sechs erfolgreichen bemannten Apollo-Mondlandungenwurde erst 20 Jahre nach <strong>der</strong> ersten Landunggewürdigt. Ihre Gesteinsproben erwieseneindeutig den Ursprung <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong> aus einemZusammenstoß <strong>der</strong> Urerde mit einem Körper,doppelt so schwer wie <strong>der</strong> Mars. Hinzu kam, dassdas Interesse <strong>der</strong> Bevölkerung von Apollo-Missionzu Apollo-Mission schwand. Nur das Drama <strong>der</strong>Apollo-13-Mission, die für alle drei Astronautenhätte durchaus tödlich enden können, hielt dieWelt noch einmal in Atem; danach wurde es sukzessivestill um die bemannte Raumfahrt. Der Reiz<strong>des</strong> Neuen war dahin – <strong>der</strong> Mond als Reisezielseiner Faszination entledigt. Nur einige blecherneForschungssonden verewigten sich auf dem Erdtrabanten– in Gestalt von kleinen Kratern. Seitherist <strong>der</strong> Mond ein verwaister Satellit <strong>der</strong> Erde. Diebemannte Raumfahrt zog sich in den Erdorbitzurück, wo sie bis heute verblieben ist.Frühestens in <strong>der</strong> nächsten Dekade werden Menschendem Mond erneut die Aufwartung machen;dann höchstwahrscheinlich keine Amerikaner,son<strong>der</strong>n eher Chinesen. Das »Space Race« umden Mond geht in die nächste Runde. Dieses Malbegnügen sich die Mondreisenden aber nichtmehr allein mit Gesteinsproben. Ihr Interessegilt dann vielmehr einer permanent besetztenMondstation und den hiesigen beträchtlichenRohstoffvorkommen, die später einmal zu lunarenExportschlagern avancieren sollen.Langfristig die größte Zäsur aller ZeitenWenn unsere Nachkommen die heutige Diskussionüber den Sinn und Unsinn <strong>der</strong> bemanntenRaumfahrt nur noch mit einem milden Augurenlächelnquittieren und die Apollo-11-MissionJahrhun<strong>der</strong>te zurückliegt, wird ihre historischeBedeutung umso größer sein. Denn je tiefer <strong>der</strong>Homo sapiens sapiens ins All vordringt, <strong>des</strong>tomehr rücken seine historischen Wurzeln ins Bewusstsein.Als Christoph Columbus 1492 denamerikanischen Kontinent betrat, konnte er sichebenso wenig ein Bild über die Folgen seinerDer erste Mensch betritt denMondDer »blaue Planet«, aus <strong>der</strong> Fernebetrachtet134 I2009.Jahrbuch


Entdeckung machen wie wir heute über jene<strong>der</strong> ersten bemannten Mondmission. Columbus‘Schritte auf dem neuen Land hatten radikaleKonsequenzen – sowohl für Europa als auch imBeson<strong>der</strong>en für die Ureinwohner. So werden dieHistoriker <strong>der</strong> Zukunft Armstrongs ersten Schrittenfraglos eine noch größere Bedeutung zuschreibenals uns heute bewusst ist.Erst wenn <strong>der</strong> Mensch – angetrieben von <strong>der</strong>unversiegbaren Quelle »Neugier«, beflügelt vonwissenschaftlichem Erkenntnisgewinn und motiviertvon ökonomisch-ökologischen Zwängen(Überbevölkerung, Ressourcenknappheit) – denSprung weg vom Orbit ins All wagt, den Mond undMars besiedelt sowie erste interstellare Sondenentsendet, wirkt die historische Dimension <strong>der</strong>Apollo-Mission unmittelbar.Mag sein, dass gegenwärtig viele Menschen rundum den Globus von dem 40. <strong>Jahres</strong>tag <strong>der</strong> erstenMondlandung Notiz nehmen; feiern und entsprechendwürdigen werden ihn dagegen nur wenige.Dies wird späteren Generationen vorbehaltenbleiben. Es werden vor allem jene sein, für diedie bemannte Raumfahrt so selbstverständlich istwie für uns die Fortbewegung via Flugzeug. Siemögen vielleicht auf dem Mond o<strong>der</strong> Mars lebenund wie einst die Apollo-Astronauten die Erde alsblauen Smaragd bewun<strong>der</strong>n.Müssten diese in 1000 Jahren jedoch einmaldavon Zeugnis ablegen, welches Ereignis in denAnnalen <strong>der</strong> Menschheitsgeschichte das in ihrenAugen o<strong>der</strong> Sensoren (es könnten ja auch Robotersein) bedeutsamste ist, werden sie unterGarantie die erste Mondmission zur Sprachebringen. Moon-Hoax wird dann längst vergessensein. Die erste Mondmission vom Juli 1969 jedochnicht, weil sie 3009 ein unmittelbarer Teil allgegenwärtigerGeschichte ist. Ein Teil <strong>der</strong> Geschichte<strong>des</strong> »Homo spaciens«.40 Jahre nach dem ersten Schritt auf den Mondhat die Redaktion Naturwissenschaft und Technikin zweieinhalb Stunden Sendezeit den Weg dorthinnachgezeichnet. Nicht allein die technischenEntwicklungen haben den Weg geebnet, zumin<strong>des</strong>tebenso bedeutsam waren Pioniergeist, Risikobereitschaftund Machtstreben. Wissenschaftgeschieht nicht isoliert im »Elfenbeinturm« von Forschungseinrichtungen.Sie dient <strong>der</strong> Gesellschaft,wird genutzt, wird gelegentlich instrumentalisiert.Dies zu beleuchten ist spannend, ist wichtig, undWissenschaftssendungen sind dazu ein hervorragen<strong>des</strong>Instrument. Auch in <strong>der</strong> Zukunft.Anmerkungen zur ersten bemannten Mondlandung vor 40 JahrenI 135


»Die Vorleser« sind da!Literatur im ZDFMarita HübingerWerner von BergenMit <strong>der</strong> neuen Büchersendung »Die Vorleser« trittdas ZDF quasi gegen sich selbst an. Gegen dieLegende <strong>des</strong> »Literarischen Quartetts«, gegendie Erfolge von »Lesen!«, begleitet von hohenErwartungen <strong>der</strong> Zuschauer und <strong>der</strong> Bücherbranchegleichermaßen. Das hat man davon,wenn man seit über zwei Jahrzehnten Büchersendungenauf den Bildschirm bringt, die stetszu Marktführern ihres Genres geworden sind. DasZDF, selbstbewusst darf es hier vermerkt werden,hat sich immer wie<strong>der</strong> hohe Maßstäbe in <strong>der</strong>Vermittlung von Literatur im Fernsehen gesetzt,mit Erfolg. Das Betriebsgeheimnis dieser Erfolgeliegt vor allem an <strong>der</strong> Glaubwürdigkeit und <strong>der</strong>fachlichen Expertise <strong>der</strong> jeweiligen Mo<strong>der</strong>atoren.Dazu muss die Lust zu spüren sein, Leseerlebnissemit den Zuschauern zu teilen, sie teilhabenzu lassen an kontrovers geführten Debatten, dievor klaren und nachvollziehbaren Urteilen nichtzurückschrecken.Nach einem Quartett und einem Solo begrüßt nunein Duo die Fernsehzuschauer: Die beiden »Vorleser«Amelie Fried und Ijoma Mangold geben seitdem 10. Juli 2009, dem Tag <strong>der</strong> lang erwartetenPremiere, den literarischen Ton im ZDF an undihre Lektüretipps ab. Und in je<strong>der</strong> Sendung erweiternsie mit einem bekannten und lesehungrigenGast zeitweilig das Duo zum Trio. Die bisherigeRiege <strong>der</strong> Gäste kann sich sehen lassen: DieSchauspieler Walter Sittler und Rufus Beck, <strong>der</strong>wohl prominenteste Vorleser <strong>der</strong> Nation, <strong>der</strong> HarryPotter kongenial eingelesen hat, sowie SebastianKoch, mit dem Stasi-Drama »Das Leben <strong>der</strong>An<strong>der</strong>en« Oscar-geehrt, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> FilmregisseurVolker Schlöndorff, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> »Blechtrommel«-Verfilmung ebenfalls Oscar-Ehren erfuhr. Es wirdimmer sehr persönlich und sehr emotional, wenndie Gäste ihr Lieblings-, ja, ihr Lebensbuch empfehlen.Und das in maritim-großstädtischem Ambiente.Die Gastgeber laden ein in das EhemaligeHauptzollamt <strong>des</strong> Hamburger Hafens am Eingang<strong>der</strong> Speicherstadt, ganz nah am Wasser, zwischen<strong>der</strong> Hamburger City und den legendären Backstein-Speicherhäusern.Tradition und Aufbruch,Selbstbehauptung und Weltoffenheit mischensich an diesem Ort, an dem in früheren Zeiten dieWaren sorgfältig begutachtet und taxiert wurden.Statt Pfeffersäcke nun allerdings Bücher. SchöneAussichten für »Die Vorleser« und ihre mitlesendenZuschauer im Studio und zuhause. Amelie Friedund Ijoma Mangold sprechen sechs Mal im Jahram Freitagabend über aktuelle Bücher, die dasLeben bereichern und unsere Sicht auf die Welterweitern, bisweilen auch über wie<strong>der</strong> aufgelegteTitel, die es wert sind, noch einmal neu gelesenzu werden. Beide sind bekennende Vielleser undprofessionell mit <strong>der</strong> Literaturbranche verbunden.Amelie Fried ist eine erfolgreiche Schriftstellerin,die das Innenleben <strong>des</strong> Marktgeschehens auseigener Anschauung genau kennt, sie ist eine beliebteund bekannte Mo<strong>der</strong>atorin, die nach vielenJahren in das ZDF zurückgekehrt ist. Unvergessenihre erfrischende Gesprächsleitung etwa bei<strong>der</strong> ZDF-Talkshow »live«. Ijoma Mangold ist einneues Gesicht im Fernsehen, eine Entdeckung.Der stellvertretende Feuilletonchef <strong>der</strong> ZEIT istnoch keine 40 Jahre alt und hat sich doch längsteinen Namen als urteilssicherer Literaturkritikerund Juror etwa beim Ingeborg-Bachmann-Preisin Klagenfurt o<strong>der</strong> dem Deutschen Buchpreisgemacht. Beiden Mo<strong>der</strong>atoren ist es ein Anliegen,die Zuschauer mit <strong>der</strong> ganzen Bandbreite unsererBücherwelt bekannt zu machen. Ob »hoch« o<strong>der</strong>»tief«, E o<strong>der</strong> U, heiter o<strong>der</strong> ernst, ob bekannt o<strong>der</strong>abseitig, Belletristik o<strong>der</strong> Sachbuch, Best- o<strong>der</strong>Lowseller: Keine Scheuklappen sollen den Blickauf die Literaturlandschaft verstellen. Mit den136 I2009.Jahrbuch


althergebrachten Kategorien, die sich vor allemin Deutschland, dem Land <strong>der</strong> elitären Klassiker-Anbetung, zementiert haben, können und wollenunsere beiden Vorleser nichts anfangen. Waszählt, ist Qualität im jeweiligen Genre, Erkenntnis,Relevanz, Spannung.Im Vorfeld <strong>der</strong> Premiere wurden <strong>der</strong> Redaktion imZDF und den beiden Mo<strong>der</strong>atoren viele Fragengestellt. Beson<strong>der</strong>s häufig befragt wurde <strong>der</strong> Titelmit seiner gewiss nicht unbeabsichtigten Vieldeutigkeit.»Die Vorleser«: Hat das etwas mit BernhardSchlinks Erfolgsbuch zu tun? O<strong>der</strong>: Wird in <strong>der</strong>Sendung vorgelesen? Nein, »Die Vorleser« habennichts mit dem bemerkenswerten Schlink’schenDer Vorleser zu tun. Vorgelesen werden allenfallskurze Zitate aus den zu besprechenden Büchern.Amelie Fried und Ijoma Mangold verstehen sichvielmehr als Vorkoster, als Tester aktueller Neuerscheinungeno<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> aufgelegter Klassiker.Als Vor-Leser, die ein bisschen Ordnung in dieBücherstapel bringen möchten, die jeweils imFrühjahr und im Herbst von den Verlagen aufgetürmtwerden.Ob die von den »Vorlesern« gelobten Titel wohlin die Bestsellerlisten springen? Den von Mo<strong>der</strong>atorenund Redaktion lange diskutierten undsorgfältig ausgesuchten Büchern sei es von Herzenzu gönnen. Und <strong>der</strong> Relevanz <strong>der</strong> Sendungwird es nicht schaden, wenn die Zuschauer amTag nach <strong>der</strong> Ausstrahlung ihre Buchhandlungenaufsuchen o<strong>der</strong> online herumstöbern. Dennoch,ein verlängerter Arm <strong>des</strong> Bücherbusiness möchtenwir nicht sein, dürfen es auch gar nicht. Aberüber jede Leserin und über jeden Leser, <strong>der</strong> durchdie Tipps <strong>der</strong> Sendung zu neuer Begeisterungam Buch findet, freut sich die Mannschaft <strong>der</strong>»Vorleser«. Amelie Fried und Ijoma Mangold sindbereit, die aufregenden, mitunter fremdartigen, ja,bisweilen beängstigenden Welten, in die wir beimLesen eintauchen können, unseren Zuschauernals genussvolle Anregung zu präsentieren. Friedund Mangold, zwei Menschen, zwei Meinungen.Bei den »Vorlesern« kommt <strong>der</strong> Diskurs, die Kontroversenicht zu kurz. Und wenn es sein muss,dann wird auch ein Verriss für Klarheit sorgen.»Fernsehen macht Dumme dümmer und Klugeklüger«. Diese etwas gemeine These aus <strong>der</strong>Medientheorie ist immer mal wie<strong>der</strong> gerne vonMarcel Reich-Ranicki aufgegriffen worden. DerLiteraturpapst, <strong>der</strong> mit dem »Literarischen Quartett«im ZDF Fernsehgeschichte geschriebenhat, ist ein Meister <strong>der</strong> provokanten Zuspitzung,doch wir im ZDF schließen uns selbstverständlichhöchstens dem zweiten Teil <strong>der</strong> These an. Klügerwerden vor dem Bildschirm? Ja, warum dennnicht? Und dies vor allem, wenn es um Literaturim Fernsehen geht. Leseför<strong>der</strong>ung steht seit jeherauf dem Programm. So gibt es nun schon seit 30Jahren den renommierten »aspekte«-Literaturpreisfür deutschsprachige Debüts, den zum Beispieleinst die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müllererhielt und sie vor den Drangsalierungen <strong>der</strong> rumänischenSecuritate schützen konnte. Das ZDF-Kulturmagazin »aspekte« hat zudem vor über 20Jahren das »Literarische Quartett« erfunden. Mit»Lesen!« und Elke Heidenreich konnte das ZDFdann erneut beweisen, wie erfolgreich und mitreißendeine Büchersendung sein kann – mehrfachpreisgekrönt, unerreicht die Bestsellerlisten überfünf Jahre maßgeblich mitbestimmend. Gemeinsammit <strong>der</strong> Stadt Mainz und 3sat richtet das ZDF»Die Vorleser« Ijoma Mangoldund Amelie Fried mit ihrem GastWalter Sittler»Die Vorleser« sind da!I 137


seit 25 Jahren den Mainzer Stadtschreiberpreisaus, den es für das Lebenswerk renommierterdeutschsprachiger Schriftstellerinnen und Schriftstellergibt. Mit <strong>der</strong> Stiftung Lesen unterstützt dasZDF den Welttag <strong>des</strong> Buches, zusammen mitdem Börsenverein <strong>des</strong> Deutschen Buchhandelsübertragen wir alle zwei Jahre die Verleihung <strong>des</strong>wichtigsten Kulturpreises, den unser Land zuvergeben hat, den Friedenspreis <strong>des</strong> DeutschenBuchhandels live aus <strong>der</strong> Frankfurter Paulskirche.Das »Blaue Sofa« ist seit vielen Jahren ein Markenzeichen<strong>des</strong> ZDF geworden, auf den Buchmessenin Leipzig und Frankfurt am Main drängt sichdie schreibende Prominenz auf dem berühmtenMöbelstück zu amüsanten und informativen Gesprächen.Die größte Leseaktion ist dem ZDFim Jahr 2004 gelungen. »Unsere Besten – Dasgroße Lesen« suchte nach den Lieblingsbüchern<strong>der</strong> Deutschen. Und 250 000 Menschen habensich an <strong>der</strong> Wahl beteiligt. Mit fast vier MillionenZuschauern konnte die große Abschlusssendungmit dem Countdown <strong>der</strong> beliebtesten 50 Titel einRekor<strong>der</strong>gebnis erzielen. So erfolgreich war keinean<strong>der</strong>e Literatursendung je in Europa.Nun also »Die Vorleser«. Kein Rankingformat,aber es geht doch vor allem um Lieblingsbücher,um Spitzenwerke, um Leseleidenschaften. DasZDF bietet sich erneut als Navigator durch dieunübersichtlich große Bücherwelt an. Mit AmelieFried und Ijoma Mangold konnten zwei kundigeGastgeber verpflichtet werden, die undogmatischund unbestechlich im Einsatz sind. Um Bücher zufinden, die man unbedingt gelesen haben muss,die uns bewegen und in Atem halten. Schließlichpasst alles, was Menschen zu erzählen haben,was menschlich und menschenmöglich ist, zwischenzwei Buchdeckel.138 I2009.Jahrbuch


Weltensammler, Menschenforscher, GipfelstürmerVon Gabriele Wohmann bis zu Monika Maron – 25 Mainzer Stadtschreiber25 Jahre sind im Fernsehen, wie im Leben, einehalbe Ewigkeit. Es scheint, dass wir vor einemVierteljahrhun<strong>der</strong>t in einer an<strong>der</strong>en Welt gelebthaben. Und doch: Einer <strong>der</strong> wichtigsten deutschsprachigenLiteraturpreise feiert ewig frisch undherausfor<strong>der</strong>nd sein silbernes Jubiläum, <strong>der</strong> MainzerStadtschreiberpreis. 1984 haben sich ZDF,3sat und die Stadt Mainz zusammengetan, umeinen Literaturpreis zu verleihen. Der damaligeLeiter <strong>der</strong> »ZDF-Matinee«-Redaktion, Hajo Schedlich,verbündete sich mit dem damaligen MainzerKulturdezernenten Anton Maria Keim. Die Partnerhatten erkannt, dass es eine wichtige öffentlicheAufgabe ist, <strong>der</strong> deutschsprachigen Literatur imboomenden Fernsehzeitalter große Aufmerksamkeitzu verschaffen. Gerade war das Privatfernsehengegründet worden, von »Dschungelcamp«und »DSDS« war allerdings noch keine Rede.Und so klang es feierlich in den Richtlinien <strong>des</strong>Preises: »In einer Zeit, in <strong>der</strong> sich durch Kabel undSatellit das Fernsehen immer weiter ausbreitet,muss es zu seinen vornehmsten Aufgaben, ja,Verpflichtungen gehören, auf die Einmaligkeit unsererSprache als einzig unverzichtbares Mediumhinzuweisen, um <strong>der</strong> Sprachverflachung mit <strong>der</strong>gezielten Pflege unserer Sprache zu begegnen.«Abenteuer FilmemachenLängst sind wir in <strong>der</strong> digitalen und globalisiertenWelt gelandet, die Medienlandschaft hat sichradikal verän<strong>der</strong>t, doch <strong>der</strong> Preis und seine Absichtsind so aktuell geblieben wie damals vor25 Jahren. Zum Jubiläum sind die Preis-Statutenbehutsam auf den aktuellen Stand gebracht worden.Jetzt heißt es positiv-programmatisch: »Wirmöchten den Reichtum unserer Sprache bewahrenund för<strong>der</strong>n. Durch Bildungsdefizite und mangelndeKommunikation droht unsere Gesellschaftsprachloser zu werden. Darum wollen wir auch mitden Mitteln <strong>des</strong> Fernsehens zur Bereicherung undWeiterentwicklung unserer bedrohten Sprachebeitragen.«Der Mainzer Stadtschreiberpreis ist mit einemPreisgeld von 12 500 Euro dotiert und bietetdazu eine extra eingerichtete Dienstwohnung imRenaissanceflügel <strong>des</strong> Mainzer Gutenberg-Museumsan, mittlerweile mit Internetanschluss undDVD-Player. Es ist erwünscht, dass sich die Preisträgermöglichst regelmäßig in <strong>der</strong> Dachwohnungmit romantischem Domblick aufhalten. Und fürdie Mainzer Bürger da sind. Hanns-Josef Ortheilerfand für sie eine Stadtschreiber-Zeitung, IlijaTrojanow kümmerte sich um jugendliche Schreibtalente,diskutierte mit Trainer-Star Jürgen Kloppund schrieb sogar mit dem indischen Autor RanjidHoskote ein Buch über die Weltkulturen.Patrick Roth und Michael Kleeberg trafen KardinalKarl Lehmann zu öffentlichen Gesprächen, SarahWerner von BergenDie Stadtschreiber in historischerReihenfolge: Gabriele Wohmann(1985), H.C. Artmann (1986),Ludwig Harig (1987), Sarah Kirsch(1988), Horst Bienek (1989) undGünter Kunert (1990)Weltensammler, Menschenforscher, GipfelstürmerI 139


Helga Schütz (1991), KatjaBehrens (1992), Dieter Kühn(1993), Libuše Moniková (1994),Peter Härtling (1995) und F. C.Delius (1996)Kirsch dichtete im Garten <strong>des</strong> Kulturdezernenten,und alle Stadtschreiber sprachen ausgiebig denWeinen <strong>der</strong> Region zu – und zu den Mainzerinnenund Mainzern auf zahlreichen Lesungen.Was den Preis einmalig und ihn für Autoren <strong>der</strong>ersten Garde beson<strong>der</strong>s reizvoll macht: Die jeweiligenStadtschreiber nehmen an einem bis heuteungewöhnlichen und aufregenden Experiment teil.Sie wechseln für einige Zeit ihren Beruf und werdenzu Filmemachern. Denn zusammen mit demZDF produzieren die Preisträger eine Dokumentationnach freier Themenwahl. DeutschsprachigeLiteraten lassen sich auf das bisweilen von ihnenargwöhnisch beäugte Fernsehmedium ein.Die bisherigen 25 Träger <strong>des</strong> Mainzer Stadtschreiberpreiseshaben alle höchst originelle Zugängezu ihrem Thema gefunden. Mit ganz unterschiedlichenTemperamenten hergestellt, hatten dieFilme, die »Elektronischen Tagebücher«, alle einefaszinierende, unverwechselbare Handschrift.Über ihre Abenteuer berichten die Schriftstellerzudem alljährlich in einer Stadtschreiber-Son<strong>der</strong>sendungin 3sat.Schriftsteller mit großem NamenDie erste Preisträgerin hieß 1985 Gabriele Wohmann,sie setzte die Maßstäbe. Es folgten <strong>der</strong> ÖsterreicherH.C. Artmann und deutsche Autorinnenund Autoren wie Ludwig Harig, Sarah Kirsch,Horst Bienek, Günter Kunert, Helga Schütz, DieterKühn und Peter Härtling. Der Schweizer PeterBichsel drehte im Zug, Katja Behrens in Israel, LibušeMoniková reiste nach Grönland, F. C. Deliusweckte in Schweden Kurt Tucholsky aus seinemewigen Schlaf auf, Erich Loest reiste auf Karl MaysSpuren nach Ägypten, Tilman Spengler auf denkriegerischen Balkan. Hanns-Josef Ortheil, <strong>der</strong>gleich zwei Mal als Stadtschreiber amtierte, nachdemBrigitte Kronauer den Preis zurückgegebenhatte, reiste nach Rom, Venedig und Prag auf denSpuren seiner Werke, Katja Lange-Müller nachAmerika zum Malerfreund Kedron Barrett, <strong>der</strong>Schweizer Urs Widmer wan<strong>der</strong>te von den Gipfeln<strong>der</strong> Alpen bis zum Mainzer Dom.Sten Nadolny musste krankheitshalber auf seinenFilm verzichten, dafür suchte <strong>der</strong> ÖsterreicherRaoul Schrott in Deutschland Orte mit den NamenHimmel und Hölle auf. Was einstmals ein spiele-Peter Bichsel (1997), Erich Loest(1998), Tilman Spengler (1999),Hanns-Josef Ortheil (2000 und2001), Katja Lange-Müller (2002)und Urs Widmer (2003)140 I2009.Jahrbuch


Raoul Schrott (2004), Sten Nadolny(2005), Patrick Roth (2006), IlijaTrojanow (2007), Michael Kleeberg(2008) und Monika Maron (2009)risches Experiment war, wenn Schriftsteller dasMedium wechseln, ist heute keinesfalls anachronistischgeworden, im Gegenteil. Allein die Filme<strong>der</strong> letzten Mainzer Stadtschreiber zeigen, welcheine Bereicherung ihre Arbeit für das Kulturprogramm<strong>des</strong> ZDF ist. Patrick Roths unverbrauchterBlick auf die Doppelbödigkeit Hollywoods, IlijaTrojanows ergreifende Zeugen, die erstmals imFernsehen über die Verbrechen <strong>der</strong> kommunistischenHerrscher in Bulgarien berichteten, MichaelKleebergs tiefe Einblicke in den Libanon und aufdie Bruchlinien <strong>des</strong> Nahen Ostens haben uns denan<strong>der</strong>en Blick beschert, die an<strong>der</strong>e Perspektive,wie sie nur im öffentlich-rechtlichen Fernsehen,wie sie exklusiv im ZDF zu sehen ist.Und dann Monika Maron, die 25. Mainzer Stadtschreiberin.Die Chronistin deutsch-deutscherErinnerungen macht sich in ihrem Film nocheinmal auf nach Bitterfeld. Der Stadt, die einstals dreckigster Ort Europas bezeichnet wurdeund heute eine neue Blüte als Metropole <strong>der</strong> Solarindustrieerlebt. Dort, wo ihr erster, berühmterRoman Flugasche spielte, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> DDR wegen<strong>der</strong> drastischen Darstellung einer verfehlten Umweltpolitiknicht erscheinen durfte. Monika Maronschaut nach vorne und zurück. Eine Reise in diedeutsche Provinz, eine aufschlussreiche Dokumentation,wie es <strong>der</strong> Zufall so will, im 20. Jahr<strong>des</strong> Mauerfalls. Das Abenteuer Mainzer Stadtschreiberpreis,es geht weiter.Weltensammler, Menschenforscher, GipfelstürmerI 141


Der Mann aus <strong>der</strong> PfalzEine Charakterstudie als großer FernsehfilmPeter ArensUnser Interesse an einem beson<strong>der</strong>en Filmporträtüber den Kanzler <strong>der</strong> Einheit Helmut Kohl begannnach <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>des</strong> ersten Bandsseiner Erinnerungen im Jahr 2004. Reportagenund Dokumentationen über den RegierungschefHelmut Kohl hatte es in den Jahren zuvor einigegegeben. Wir wollten ein an<strong>der</strong>es Bild <strong>des</strong> Politikersund <strong>des</strong> Menschen Helmut Kohl zeichnen.Etwa zur gleichen Zeit lernte <strong>der</strong> DokumentarfilmerThomas Schadt den Bun<strong>des</strong>kanzler bei einerFeier zu Ehren <strong>des</strong> langjährigen Bonn-Korrespondenten<strong>der</strong> Rheinpfalz, Klaus Hofmann, kennen.Gemeinsam mit <strong>des</strong>sen Sohn, dem ProduzentenNico Hofmann, trafen Helmut Kohl und ThomasSchadt an jenem Abend eine erste Vereinbarungzu einem umfassenden Filmprojekt, und das ZDFschlug ein.2006 besuchte Thomas Schadt den Kanzler mehrereMale zu Hause in Oggersheim. Auf Grundlagedieser intensiven Gespräche – hinzu kamen KohlsSchriften, Reden, TV-Auftritte, außerdem Zeitungsartikelund Gespräche mit Zeitzeugen – schriebenThomas Schadt und Koautor Jochen Bitzer dasDrehbuch zu einem Film, <strong>der</strong> sich auf zwei Zeitachsenkonzentrierte: den Aufstieg <strong>des</strong> jungenPfälzers zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz 1969 und das dramatische Jahr 1989, alsKohl um den Erhalt seiner Macht ringen mussteund <strong>der</strong> Fall <strong>der</strong> Mauer Europa verän<strong>der</strong>te. DerFilm sollte verdeutlichen, wie unaufhaltsam es denjungen Kohl in die (Nachkriegs-)Politik drängte,und wie unmissverständlich er nach Gestaltungund Führung verlangte, erst in <strong>der</strong> unterschätztenProvinz, dann in Bonn auf nationaler Bühne.Der junge Kohl, <strong>der</strong> Krieg, Not und Flüchtlingselen<strong>der</strong>lebt hat, profiliert sich früh als Lokalpolitiker.Idealistisch, frankophil, europäisch – Kohl istein Stürmer und Dränger. Sein Lehrer, Pfarrer JohannesFinck, bescheinigt ihm zwar, das politischeHerz am rechten Fleck zu haben, hält ihn aber alsRedner und politischen Führer für unreif. Der Filmüberrascht in <strong>der</strong> Rückschau mit stimmungsvollenSzenen, die Helmut Kohl in ungewohntem Lichtzeigen. Etwa, wenn es <strong>der</strong> pfälzische Rabauke mitdem Gesetz nicht so genau nimmt und bei Nachtund Nebel die deutsch-französischen Schlagbäume<strong>der</strong> kleinkarierten Nachkriegswelt beiseiteräumt. O<strong>der</strong>, wenn er Holzkohle organisiert, um<strong>der</strong> hübschen Hannelore eine gut beheizte Tanzstundezu bescheren. Als solch lässigen Draufgängerhaben sich wohl nur wenige den jungenHelmut Kohl vorgestellt. Kohl ist ein Rebell, <strong>der</strong>Thomas Thieme als Helmut Kohlin seinem Büro im KanzleramtHelmut Kohl (Stephan Grossmann)lernt Hannelore (RosalieThomass) beim Tanzen kennen142 I2009.Jahrbuch


Mitterand (Erick Desmarestz)und Kohl (Thomas Thieme)debattieren über die deutscheWie<strong>der</strong>vereinigungStephan Grossmann als <strong>der</strong> jungeKohldie erstarrte rheinland-pfälzische CDU aufmischtund die Verwaltung eines ganzen Bun<strong>des</strong>lan<strong>des</strong>mo<strong>der</strong>nisieren wird.Zeitsprung ins Jahr 1989. Während sich die Lagein <strong>der</strong> DDR immer weiter zuspitzt und eine wachsendeZahl von DDR-Bürgern gegen die Politik<strong>der</strong> SED protestiert, durchlebt Kohl politisch undgesundheitlich seine größte Krise. Nach einerReihe von CDU-Wahlnie<strong>der</strong>lagen wird er ausgerechnetin dem Moment, als sich eine ernstzu nehmende Opposition auch in den eigenenReihen formiert, von einer schmerzhaften Prostataerkrankungheimgesucht. Doch gute Ärzteund unerschütterliche Disziplin halten ihn wach,und schließlich weiß er den unerwarteten Verlauf<strong>der</strong> Weltgeschichte in seinen größten politischenErfolg umzumünzen. Die überraschende Öffnung<strong>der</strong> ungarischen Grenze, die mit dem BremerParteitag <strong>der</strong> CDU zusammenfällt, verhilft ihm zumSieg über seine innerparteilichen Gegner.Stephan Großmann (junger Kohl) und ThomasThieme (älterer Kohl) spielen diese historischenSzenen mit großer Überzeugungskraft. Sie treffenals Schauspieler die richtige Entscheidung, indemsie beschließen, Kohl nicht zu imitieren, son<strong>der</strong>nihn zu interpretieren. Neben ihrer Schauspielkunstwartet <strong>der</strong> Film mit einer zweiten Beson<strong>der</strong>heit auf:Er wird aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>des</strong> älteren HelmutKohl erzählt. Indem die Stimme <strong>des</strong> SchauspielersThomas Thieme aus dem Off in einem inneren,fiktiven Monolog den Film vorantreibt, kommt <strong>der</strong>Zuschauer mit den Gedanken und Absichten <strong>des</strong>Kanzlers in unmittelbare Berührung. Ursprünglichhatten wir an ein Dokudrama gedacht, das dieszenischen Passagen mit dem OriginalinterviewKohls kombinieren sollte. Als Helmut Kohl <strong>der</strong>Stephan Grossmann als Kohl imJahr 1963Helmut Kohl (Stephan Grossmann)legt sich mit den »Alten«<strong>der</strong> Lan<strong>des</strong>-CDU anDer Mann aus <strong>der</strong> PfalzI 143


Helmut Kohl (Thomas Thieme) mitHorst Teltschik (Jürgen Heinrich)und Rudolf Seiters (Erich Krieg) in<strong>der</strong> Kanzlersuite im Hotel Bellevuein DresdenVerwendung <strong>des</strong> Interviews für den Film abernicht zustimmte – weil er diesen damit autorisierthätte, was er nicht wollte –, entschieden wir unsfür einen fiktionalen Fernsehfilm. Ein Glücksgriff,denn damit erreichte <strong>der</strong> Film eine innere, ästhetischeGeschlossenheit, die einem Dokudramanicht gelungen wäre.Ein Fernsehfilm kann einer Dokumentation auchinhaltlich voraus sein. Er darf sich gestalteterBil<strong>der</strong> und erzählter Geschichten bedienen unddie entscheidenden Wendepunkte einer Biografiemit eigenen subjektiven, emotionalen Mittelnumsetzen. Mit Zwischentönen, auf die die faktisch-politischeBerichterstattung in <strong>der</strong> Regelverzichten muss. Gerade im Fall Helmut Kohlsführt <strong>der</strong> Fernsehfilm zu einer wesentlichen Blickerweiterung:Es geht nicht allein um eine Chronik<strong>der</strong> fraglichen Ereignisse, son<strong>der</strong>n um einemehr o<strong>der</strong> weniger stille Psychologie <strong>der</strong> Macht,ihre Spielformen und Wirkungsweisen, um denobsessiven Kraftaufwand, den ein Staatsmannaufbringen muss, seine Rastlosigkeit und seinGetriebensein. »Der Mann aus <strong>der</strong> Pfalz« ist eineCharakterstudie über Macht und Einsamkeit, überVertrauen und Misstrauen, Erfolg und Scheitern,zudem ein Lehrstück politischen Denkens undHandelns. Stellvertretend für die vielen diesbezüglichenSzenen sei <strong>der</strong> Bremer Parteitag 1989genannt. Der kranke Helmut Kohl erwehrt sich miteiner strategischen Meisterleistung seiner Kritikerund behauptet seine Macht.Der Film zeigt, dass Helmut Kohl politische Entwicklungenhäufig allein durch seine Persönlichkeitgeprägt hat, mit einem intuitiven Sinn für das Praktischeund den Gewinn – und für den Menschenauf <strong>der</strong> Straße. Als am 19. Dezember 1989 vor<strong>der</strong> Ruine <strong>der</strong> Frauenkirche in Dresden eine euphorisierteMenge den Kanzler-Namen skandiert,lässt Schadt – in <strong>der</strong> vielleicht beeindruckendstenSzene <strong>des</strong> Films – Helmut Kohl am Hotelfensterinnehalten. Die Menschen erwarten einen Auftrittihres Kanzlers, den dieser nicht vorbereitet hat.Schließlich sagt er sich nach innerem Kampf: »Ichgehe da jetzt raus, spreche als Mann aus demVolk. Das war schon immer meine Stärke«.Offen gestanden, gingen wir während <strong>der</strong> Produktionnicht davon aus, dass »Der Mann aus<strong>der</strong> Pfalz« bei Öffentlichkeit und Fernsehkritikeinhelliges Lob hervorrufen würde. Dafür warenProtagonist und Sujet zu umstritten und war diegeschil<strong>der</strong>te Vergangenheit zu frisch, um nicht mitden eigenen Vorstellungen und Erinnerungsmusternmancher Betrachter zu kollidieren.Die Resonanz war schließlich überragend, vonBILD bis taz. Der Spiegel lobte den Fernsehfilm alsein wegweisen<strong>des</strong> Beispiel für die »neue Souveränitätbeim Nachzeichnen historischer Porträts«. DieFrankfurter Allgemeine Zeitung befand, durch denkünstlerischen Ansatz komme man »<strong>der</strong> innerenWahrheit näher als das bislang im Film Dagewesene«.Und die Süddeutsche Zeitung, sich <strong>der</strong>Authentizitätsprobleme historisieren<strong>der</strong> Gegenwartsfilmebewusst, lobte: Man sehe in Kohl einenMann, »<strong>der</strong> zweifelt, leidet, sich erinnert«. Undman spüre: »So wird es wohl gewesen sein injenen Tagen <strong>der</strong> Jahre 1989/90«.»So wird es wohl gewesen sein.« Ein besseresArbeitszeugnis kann einem zeitgeschichtlichenFernsehfilm kaum ausgestellt werden.144 I2009.Jahrbuch


»logo!« – Alles Gute, Nachrichten!Zum 20. Geburtstag unserer Kin<strong>der</strong>nachrichtensendung»Ich grüße Euch! Ab jetzt am Nachmittag immer:logo!«. Mit diesen Worten begrüßte Mo<strong>der</strong>atorDirk Chatelain am 9. Januar 1989 die Zuschauer<strong>des</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendprogramms im ZDF. Eswar <strong>der</strong> Startschuss für die regelmäßige, bis heuteeinzige werktägliche Kin<strong>der</strong>nachrichtensendungin Deutschland: »logo! – Neues von hier undan<strong>der</strong>swo«.Die Überlegung von Susanne Müller, <strong>der</strong> Initiatorin<strong>des</strong> Projekts, und ihrem damaligen RedaktionsleiterMarkus Schächter: Kin<strong>der</strong> bekommen vielesvom Weltgeschehen mit, können das meiste abernicht verstehen und einordnen. Kin<strong>der</strong> haben einRecht auf Information, das wurde 1989 sogar in<strong>der</strong> UN-Kin<strong>der</strong>rechtskonvention verankert. DochNachrichten sind für Kin<strong>der</strong> kaum zu verstehen.Eine extra Nachrichtensendung für Kin<strong>der</strong> war vondaher die folgerichtige Konsequenz.Nicht alle haben in den Anfangsjahren daran geglaubt,dass sich die Kin<strong>der</strong>nachrichten tatsächlichetablieren und »logo!« so erfolgreich werdenwürde. So warnten Bewahrpädagogen, dass manKin<strong>der</strong> vor dem Wissen um das Weltgeschehenzu behüten habe, statt sie damit zu konfrontieren.Eine Haltung, die schon damals umstritten warund angesichts <strong>der</strong> rasanten Medienentwicklungabsurd ist. Kin<strong>der</strong> informieren sich und solltenaltersgerecht informiert werden. Kindgerechte Informationenermöglicht es ihnen, sich mit einemThema auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Das bringt emotionaleSicherheit. Ängstliches Verschweigen erzeugthingegen Ängste.Aber auch ein Teil <strong>der</strong> Kolleginnen und Kollegenwar skeptisch. »Kin<strong>der</strong> machen Nachrichten« –das musste sich die erste Generation <strong>der</strong> »logo!«-Macher schon öfter mal anhören. Ja, klar: Die Redaktionbestand nicht nur aus Nachrichtenleuten,son<strong>der</strong>n aus einem bunten Team mit unterschiedlichstemHintergrund. Aber alle brannten für dasProjekt, diskutierten sich die Köpfe heiß um dierichtige Erklärform, darum, welche Sprache angemessensei o<strong>der</strong> darüber, ob »logo!« parteilich auf<strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> stehen dürfe.Mit »logo!« wurden Direktionsgrenzen überschritten:als Sendung <strong>der</strong> Programmdirektion wurde(und wird) »logo!« vom Produktionsmanagement<strong>der</strong> Chefredaktion betreut. Auch das schien somanchem in den Anfangszeiten ein Ding <strong>der</strong> Unmöglichkeit.Viele Kolleginnen und Kollegen unterstützendas junge Genre tatkräftig. Peter Hahnemo<strong>der</strong>ierte die Sendung zu Beginn, Marina Rupertiarbeitete wochenweise als Schlussredakteurin,Gerd Helbig schickte wun<strong>der</strong>bare Stücke aus denUSA, mit Hildegard Werth konnte »logo!« ins Allfliegen, Frank Hof erklärte, wie Livesendungenfunktionieren. Nicht nur in <strong>der</strong> ersten Stunde gabes prominente Unterstützung. Später kamen vonSteffen Seibert Beiträge aus New York, beispielsweiseüber den damals neuen Trendsport Skateboarden,bei den Winterspielen in Japan stellteThomas Euting den »logo!«-Reportern Schlafplatzund Hühnersuppe zu Verfügung. Auch heute arbeitenviele Auslandskorrespondenten gerne fürdie Sendung. Carsten Thurau findet zum Beispielimmer wie<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, die Geschichten erzählen,was perfekt zu »logo!« passt. Alle Kollegen sehenes als Herausfor<strong>der</strong>ung, für Kin<strong>der</strong> zu arbeiten,die ja kaum o<strong>der</strong> kein Vorwissen mitbringen.Wurden 1989 noch 179 Sendungen produziert,waren es im Jahr 2009 über 500. Neben denTV-Sendungen kann man »logo!« heute auch alsStream o<strong>der</strong> Podcast sehen, und viele Zeitungendrucken einen »logo!«-Erklärstück-Artikel auf ihrenEva Radlicki»logo!« – Alles Gute, Nachrichten!I 145


Kin<strong>der</strong>seiten. Kin<strong>der</strong> nutzen heute ungleich mehrMedien als vor 20 Jahren. Man bedenke: Als»logo!« zu senden anfing, waren Handys nochweitgehend unbekannt. Das mediale Angebotist heute dagegen riesig, nichts zwingt ein Kind,Nachrichten im Fernsehen zu schauen. Doch seit20 Jahren gucken Kin<strong>der</strong> »logo!« – freiwillig und instetig steigen<strong>der</strong> Zahl. Dabei interessieren Kin<strong>der</strong>sich nicht für Politik – nicht vor 20 Jahren und auchheute nicht. Doch wenn sie verstehen, was Politikunmittelbar mit ihrem Leben zu tun hat, wird siefür Kin<strong>der</strong> interessant. Kin<strong>der</strong> haben feste moralischeMaßstäbe, nach denen sie die Ereignisse inihrer Umgebung einordnen, zum Beispiel gerechto<strong>der</strong> gemein, hilfsbereit o<strong>der</strong> egoistisch, mächtigo<strong>der</strong> schwach. Bei diesen Werten holt »logo!«sie ab. Je<strong>des</strong> Nachrichtenthema wird daraufhinüberprüft, welche Frage sich aus dem kindlichenWertekodex zu dem jeweiligen Ereignis ableitenlässt. Weil »logo!« diese Perspektive einnimmt,interessieren sich Kin<strong>der</strong> für alle Themen in <strong>der</strong>Sendung – eben auch für Politik.Die Sendung berichtet auch über bedrückendeEreignisse: den 11. September, den Amoklauf vonWinnenden o<strong>der</strong> auch über ein verschwundenesKind – es gibt keine Tabuthemen. Bei »logo!« gibtes aber keine reißerischen Bil<strong>der</strong> – im Gegenteil.Stark emotionalisierende Bil<strong>der</strong> würden vom erklärendenund einordnenden Inhalt <strong>der</strong> Beiträgeablenken. Das bedeutet aber nicht, dass »logo!«beschönigt. »logo!« hilft Kin<strong>der</strong>n dabei, die Nachrichteinzuordnen und zu verstehen. Gerade anTagen mit dramatischen Nachrichten wird dieVerantwortung von »logo!« gegenüber den Zuschauernbeson<strong>der</strong>s deutlich.Jenseits <strong>der</strong> Aufgabe, Kin<strong>der</strong> altersgerecht zuinformieren, stärkt »logo!« das Bewusstsein fürdemokratische Prozesse. Ob in <strong>der</strong> Rubrik »Redezeit«o<strong>der</strong> bei den »logo!«-Kin<strong>der</strong>reportern, Kin<strong>der</strong>spielen in <strong>der</strong> Sendung eine aktive Rolle. Das starkstrapazierte Schlagwort »Kin<strong>der</strong> ernst nehmen« bedeutet,dass »logo!« sich an den Bedürfnissen vonKin<strong>der</strong>n orientiert und dass die Meinung von Kin<strong>der</strong>nintensiv abgefragt und dargestellt wird: In <strong>der</strong>»logo!«-Redezeit, bei den »logo!«-Kin<strong>der</strong>reporterno<strong>der</strong> in Chats, Foren und Blogs – überall könnensie ihre Fragen stellen, ihre Interessen formulierenund sich aktiv beteiligen. 1991 wurde die erste»Redezeit« gesendet. Vor <strong>der</strong> Fernsehkamera tragenKin<strong>der</strong> ihr Anliegen verantwortlichen Politikernvor und for<strong>der</strong>n Lösungen ein. Im Laufe <strong>der</strong> Jahrekam da schon manch ein Verantwortlicher insSchwitzen. Die »logo!«-Kin<strong>der</strong>reporter fühlen denGroßen <strong>der</strong> Welt auf den Zahn. Dafür trainierensie mit <strong>der</strong> Redaktion, um auf die Antworten reagierenzu können und sich nicht einschüchtern zulassen. Dann entlocken sie Politikern und an<strong>der</strong>enPromis Antworten fern <strong>der</strong> floskelhaften Sprache,die sie sonst oft benutzen. Im Bun<strong>des</strong>tagswahlkampf2009 haben die »logo!«-Kin<strong>der</strong>reporterDas »logo!«-Team aktuell: AndreasKorn, Jule Gölsdorf, Anja Rothund Kim AdlerDas »logo!«-Team damals: PeterHahne, Barbara Biermann, DirkChatelain, Ulli Angermann146 I2009.Jahrbuch


»logo!«-Kin<strong>der</strong>reporter Chrisinterviewt Bun<strong>des</strong>kanzlerinAngela MerkelDie Jubiläumsshow mitJohannes B. Kerneralle Spitzenpolitiker befragt. Die ungewöhnlichenInterviews sorgten wie immer für Interesse weitüber die Sendung hinaus.Zum 20. Geburtstag mit dem Umzug in dasneue ZDF-Nachrichtenstudio gehört »logo!« jetztdeutlich sichtbar zur ZDF-Nachrichtenfamilie. ImGeburtstagsjahr war die »logo!«-Show im ZDF-Abendprogramm am 27. Juni in Zusammenarbeitmit <strong>der</strong> Hauptredaktion Show ein beson<strong>der</strong>esHighlight, das zeigt, wie familientauglich »logo!«ist. Ab 2010 werden im KI.KA die Sendelückenam Wochenende geschlossen und »logo!« wirdan jedem Tag <strong>des</strong> <strong>Jahres</strong> ausgestrahlt. Da bleibtnur zu sagen: »logo!«-Nachrichten – seid Ihr großgeworden!»logo!« – Alles Gute, Nachrichten!I 147


»37°« – Rückblick auf 15 JahreDenn nicht allein die Politik prägt das Leben <strong>der</strong> MenschenPeter ArensWer eine Jubiläumsrede auf einen guten Freundschreibt, sollte sich einfach an die beson<strong>der</strong>en,gemeinsamen Momente erinnern und um dieseherum die Laudatio komponieren. Dann gelangtman am ehesten zum Kern <strong>des</strong> Menschen und<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Beziehung, die man zu ihm hat.Ich versuche nun das gleiche, wenn ich an meine15 Jahre mit »37°« zurück denke: Auch hier könnenes die beson<strong>der</strong>en Filmmomente sein, die dieganze Reihe auf den Punkt bringen und ihr schlagen<strong>des</strong>Herz freilegen. Wahrscheinlich würdenalle an »37°« beteiligten Redakteure jeweils an<strong>der</strong>eBeispiele nennen, was ein gutes Zeichen für denimmensen Reichtum dieser Programmidee ist.Mein beson<strong>der</strong>er Filmmoment ist klar. In einemFilm über hyperaktive und gehandicapte Kin<strong>der</strong>zeigt dieser erst gegen Ende, dass die Muttereines nervlich erkrankten Jungen jeden Abend mitdiesem zu Bett gehen muss, und das immer um20 Uhr. An<strong>der</strong>s ist <strong>der</strong> Junge nicht zu bändigen,seine Mutter hat seit vielen Jahren keinen Abendmehr erlebt. Diese Szene, die das Existenziellescheinbar beiläufig erzählt, habe ich seither nichtmehr aus dem Kopf bekommen.In formatästhetischer Hinsicht würde ich behaupten,dass in dieser Szene auch die beson<strong>der</strong>eStärke von filmischer Reportage verborgen ist. DieMenschen und ihre Milieus mit <strong>der</strong> Kamera einzufangen,statt über sie zu schreiben – wobei ichweiß, welch ungeheure analytische Kraft das geschriebeneWort hat –, ist in manchen Kontextenunübertreffliches Stilmittel. Bei »37°« versuchenwir, so weit es geht, unseren Stoff vor die Kamerazu bekommen: nicht über ihn zu sprechen, son<strong>der</strong>nihn zu zeigen, nicht im Kommentar zu sagen,was unsere Helden denken und fühlen, son<strong>der</strong>nsie selbst dies sagen zu lassen, in professionellund einfühlsam geführten Interviews. Ein »37°«-Film über Armut in den Städten fokussiert alleinauf die Betroffenen, kommt ohne Service undVerbrauchertipps daher, ohne politische Statementsvon Sozialämtern und Kommunalpolitikern,ohne Allwissenheit und Verurteilungen. Die fehlendepolitische Einordnung entspricht dabei nichtimmer den Sehgewohnheiten <strong>der</strong> Zuschauer. Unddennoch ist <strong>der</strong> radikale, ausschließliche Blick aufunsere Helden, hinter denen das Thema bisweilenzurücktritt, genau das Markenzeichen von »37°«und vielleicht auch <strong>des</strong>sen Erfolgsgeheimnis.Oft erzählen sich die Filme gleichsam von selbst,wenn die Autorinnen und Autoren aufmerksamgenug mit den Helden unterwegs sind. Wir habenwenige Formatregeln, eher Leitmottos: Nicht,was die Menschen vergleichbar macht, son<strong>der</strong>n,was sie voneinan<strong>der</strong> unterscheidet, dem gehörtunser Interesse. Wir suchen Themen, hinter denenwir ein psychologisches und gesellschaftlichesMuster erkennen können. Wir versuchen immer,herauszufinden, wie Probleme o<strong>der</strong> Konflikte begonnenhaben. Vielleicht ist das <strong>der</strong> Grund fürunsere häufigen Filme über Kin<strong>der</strong> und Jugendliche:Drogenmissbrauch und Jugendkriminalität,Schulstress, Kin<strong>der</strong>armut, Verwöhnungsverwahrlosung,Entfremdung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> von den Eltern.Dass die Jungen in <strong>der</strong> späten Primetime einesgroßen Sen<strong>der</strong>s so oft vorkommen, ist eher unüblich– wobei es so wichtig wäre.Wir haben die Erfahrung gemacht, dass »37°«-Filme nie aufgehübscht werden müssen. Siekönnen ungeschminkt daherkommen, ohne dassdie Geschichten, dass Text, Schnitt und Musikdramatisiert werden, wie in mo<strong>der</strong>nen Reportagenlei<strong>der</strong> oft üblich. Das macht die Filme glaubhaft,bei den Zuschauern und übrigens auch bei denPorträtierten. So sehr, dass <strong>der</strong> Hinweis <strong>der</strong> Auto-148 I2009.Jahrbuch


Auf Ellesmere College ist KrawattePflicht. Szene aus »EinsameKlasse!«Plakatmotiv zum Jubiläumren, für »37°« zu arbeiten, bei beson<strong>der</strong>s sensiblenThemen ein wichtiger Türöffner ist. Oft genug wirduns von den angefragten Protagonisten gesagt,dass sie für das Fernsehen nicht zur Verfügungstehen, dass sie für »37°« aber eine Ausnahmemachen. Wie in diesem Jahr bei unserem Filmüber Kin<strong>der</strong> mit behin<strong>der</strong>ten Eltern, die uns ihrlogistisch und seelisch schwieriges Leben drehenließen. O<strong>der</strong> bei »Generation Porno«, woJugendliche und ihre überraschten Eltern mitunseren Autoren über Pornokonsum im Netz undviel zu frühen Sex sprachen. Dabei hat »37°« trotzheikler Themen nie verbrannte Erde hinterlassen,in 15 Jahren nicht ein Mal.Noch etwas liegt mir am Herzen, und das betrifftunsere Zuschauer. Wie oft haben wir zum Beispielvom Kampf <strong>der</strong> Menschen mit schweren Krankheitenund Behin<strong>der</strong>ungen berichtet. Es warenalles an<strong>der</strong>e als einfache Filme, und dennochhatten sie in <strong>der</strong> Regel ein großes Publikum. Diegleiche Erfahrung machten wir bei Filmen überArmut, wobei die Mittellosen, wie Rilke sagt,von innen leuchten können. Unsere Erkenntnislautet: Die Zuschauer lassen sich in großer Zahlvom Unglück an<strong>der</strong>er ergreifen, sie leiden mitund zeigen Empathie. »Leben auf kleinstem Fuß«porträtierte eine Familie in Brandenburg, die durchdie Krankheit ihres Vaters in existenzielle sozialeNot geraten ist. Der Film rief bei unserem Publikumeine unglaubliche Solidarität hervor, schonam nächsten Tag waren fast 1 000 Anrufe und E-Mails mit Hilfsangeboten in <strong>der</strong> Redaktion eingegangen.Auch wenn wir gelegentlich an unseremDeutschsein verzweifeln, belegen Reaktionen wiediese, dass die Deutschen ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühlund eine große Hilfsbereitschaftfür Menschen in Not haben.Aus <strong>der</strong> kleinen, feinen Reihe mit dem merkwürdiggenialen Titel ist ein aussagestarker und einflussreicherProgrammplatz geworden, <strong>der</strong> sicheinmischt in unser tägliches Gemeinwesen. »37°«ist kein Politik- o<strong>der</strong> Kulturformat im traditionellenSinne, son<strong>der</strong>n interpretiert diese Genres als eineKultur <strong>der</strong> Umgangsformen und <strong>des</strong> Miteinan<strong>der</strong>s.Getreu dem sozialen Vertrag, dass <strong>der</strong> Menschfür den Menschen da ist. »37°« ist so zu einereigenständigen, einzigartigen Marke im Dickicht<strong>der</strong> Reportageformate geworden – und das istdas größte Kompliment, das man einer Sen<strong>der</strong>eihemachen kann.»37°« – Rückblick auf 15 JahreI 149


Die Sternstunden <strong>der</strong> DeutschenGuido KnoppAm Anfang war die Mauer, o<strong>der</strong> besser, <strong>der</strong>en Fall.Zweifellos eine Sternstunde <strong>der</strong> Geschichte. EinMoment, ganz wie ihn Stefan Zweig 1927 in seinerNovellensammlung Sternstunden <strong>der</strong> Menschheitbeschrieben hat: »Was ansonsten gemächlichund nebeneinan<strong>der</strong> abläuft, komprimiert sich ineinen einzigen Augenblick, <strong>der</strong> alles bestimmt undalles entscheidet.«Soweit, so gut. Aber die deutsche Geschichte hatmehr zu bieten, o<strong>der</strong>? Das war <strong>der</strong> Startschusszu einer redaktionsinternen Diskussion, die imGrunde bis heute andauert: Welche Augenblickeempfinden die Deutschen als Sternstundenihrer Geschichte? Was hat sie berührt, geprägt,auf welche Ereignisse sind sie beson<strong>der</strong>s stolz?Schnell war klar: Das können nur die Deutschenselbst beantworten. Wir haben nachgefragt – vorurteilsfreiund ohne historische Scheuklappen.Unsere breit angelegte Umfrage bei Menschenaller Altersgruppen machte deutlich: Nicht alleinpolitische Ereignisse wie <strong>der</strong> Fall <strong>der</strong> Mauerhaben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt,son<strong>der</strong>n auch emotionale historische Momentewie beispielsweise die Rückkehr <strong>der</strong> letztenKriegsgefangenen aus sowjetischen Lagern, die»Heimkehr <strong>der</strong> Zehntausend« im Jahr 1955. Auchbahnbrechende wissenschaftliche Leistungenund Erfindungen »made in Germany« wie Benz’Automobil o<strong>der</strong> die Entdeckung <strong>der</strong> Seuchenerregerdurch Robert Koch haben viele Deutsche vorAugen, wenn sie an die großen Momente ihrer Geschichtedenken – ebenso sportliche Höhepunktewie den Wimbledon-Sieg von Boris Becker o<strong>der</strong>das »Wun<strong>der</strong> von Bern«. Neben <strong>der</strong> KaiserkrönungKarls <strong>des</strong> Großen mag sich die Erfindung<strong>der</strong> Zahnpasta und <strong>der</strong> Haribo-Goldbären eherbescheiden ausnehmen, aber nicht je<strong>der</strong> denkteben bei »Sternstunden« an politische Großereignisse.Und so wurden die »Sternstunden <strong>der</strong>Deutschen« zu einem bunten Mix aus politischenMeilensteinen, emotionalen Höhepunkten, genialenErfindungen, großartigen Entdeckungen undkulturellen Errungenschaften.Präsentiert wurde die Reihe von den Mo<strong>der</strong>atorenSteffen Seibert und Dunja Hayali. Im Mittelpunkt<strong>der</strong> ersten vier Sendungen standen die 20 Ereignisse<strong>der</strong> deutschen Geschichte, die in <strong>der</strong> Umfrageam häufigsten genannt wurden. SpannendeGesprächspartner wie die Urenkelin von Carl Benz,Jutta Merce<strong>des</strong> Benz, sowie originelle Requisitenwie die Schraubstollenschuhe, die beim Wun<strong>der</strong>von Bern 1954 zum Erfolg führten, ergänztendie »Sternstunden«-Filme. Nach je<strong>der</strong> Sendungwaren die Zuschauer gebeten, per Telefon- undOnlinevoting aus den jeweils fünf Beiträgen ihrenpersönlichen Tagessieger zu bestimmen.Die vier »Top«-Sternstunden <strong>der</strong> vier vorangegangenenDienstage standen am 8. Dezember nocheinmal zur Wahl – unterstützt von prominenten»Paten« und Zeitzeugen, die von ihren ganz persönlichen»Sternstunden« erzählten. Am Ende <strong>der</strong>Sendung stand sie dann fest: Die Sternstunde <strong>der</strong>Deutschen. Während Steffen Seibert die Sendungim Studio vor Publikum mo<strong>der</strong>ierte, wurde DunjaHayali von spannenden Orten – etwa einemÜbungsflugzeug <strong>der</strong> GSG9 o<strong>der</strong> dem Panikraum<strong>der</strong> Technischen Universität Hamburg-Harburg– zugeschaltet.Eine <strong>der</strong> größten Herausfor<strong>der</strong>ungen für die filmischePräsentation <strong>der</strong> 100 Sternstunden war<strong>der</strong> Faktor Zeit: Innerhalb weniger Monate wurdenin den ZDF-Archiven Hun<strong>der</strong>te Stunden Materialgesichtet. Wo Archivbil<strong>der</strong> fehlten, wurde aufwändiginszeniert. In Polen schuf das Team um150 I2009.Jahrbuch


»WISO« – 25 Jahre Berichte aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> GesellschaftThomas J. KramerGerade nach diesem Jahr <strong>der</strong> weltweiten Finanzkriseist die Rolle insbeson<strong>der</strong>e von Ratgeber- undWirtschaftsformaten im Fernsehen offenkundig.Wann, wenn nicht in diesen Monaten, war <strong>der</strong>Kontroll- und Erklärauftrag besser begründet?Zudem hat sich gezeigt: Es gibt in einer solchenZeit großes Interesse und das Bedürfnis <strong>der</strong>Zuschauer nach Aufklärung und Erklärung, nachSicherheit und Anleitung. Aber auch den Wunschnach einer Berichterstattung mit Kompetenz undGlaubwürdigkeit, Augenmaß und Tiefgang.Nach dem Jahr <strong>der</strong> Pleite von Lehman Brothersund den verschwundenen Milliarden <strong>der</strong> Banken,nach einer Finanzkrise mit weltweitem Ausmaßund staatlichen Schutzschirmen von unvorstellbarerGröße kann man ganz deutlich konstatieren:Es bedarf mehr denn je einer Wächter- undErklärerfunktion für die Märkte und Mächte <strong>der</strong>Wirtschaft. Denn: Wer kann diese kompliziertenMechanismen, die weltweit verschlungenen Strukturenund die gewählten Wege aus <strong>der</strong> Krisenachhaltig erklären? Wer recherchiert die Details<strong>der</strong> Ungeheuerlichkeiten, etwa die endgültigeSumme von 538 Millionen Euro Verlust bei <strong>der</strong>KfW? Wer erklärt die Funktionsweise <strong>der</strong> großenstaatlichen Schutzschirme o<strong>der</strong> das konkreteVorgehen bei <strong>der</strong> Abwrackprämie? Wer legt denFinger in die offenen Wunden <strong>der</strong> Bilanzen <strong>der</strong>deutschen Lan<strong>des</strong>banken? Wer, wenn nicht dasFernsehen, und hier speziell Wirtschafts- und Verbrauchersendungenwie »WISO«?Das Jahr <strong>der</strong> KriseDie weltweite Finanzkrise hat sehr gut gezeigt,wie wichtig Differenzierung und Vertiefung dieserkomplexen Themen im ZDF ist. Zentrale Frage:Wie berichten wir angemessen, ohne Panik zuverbreiten? Im Raum stand die konkrete Gefahr,dass die Menschen in einer Art Herdeneffekt ihrGeld von den Banken holen und die gesamteGeldwirtschaft zum Erliegen kommt. Dabei bahntesich die Krise schleichend an. Schon vor dem Zusammenbruch<strong>der</strong> Lehman Brothers am 15. September2008 hat »WISO« begonnen, sich intensivund vielschichtig mit den Ursachen, Folgen undLösungsmöglichkeiten <strong>der</strong> Krise zu beschäftigen.Erste Berichte über mögliche Auswirkungen <strong>der</strong>Finanzakrobatik <strong>der</strong> USA datieren schon vomJanuar 2008, Tenor: Viele deutsche Banken warenschon damals durch riskante Spekulationen inden Strudel <strong>der</strong> Finanzkrise <strong>der</strong> USA geraten,allen voran die Lan<strong>des</strong>banken. Auch über denEinbruch bei <strong>der</strong> Autoindustrie berichtete »WISO«schon im Februar 2008, als hierzulande Verbandschefsetwaige Auswirkungen <strong>der</strong> US-Autokrise aufdie deutschen Autobauer noch dementierten.Die Häuser von Lakeisha WilliamsAn Fallbeispielen hat »WISO« schon am 21. April2008 aus Cleveland in den USA verdeutlicht,durch welche Praktiken es zur Immobilienkriseund damit zur Finanzkrise in Amerika kam.Skrupellosigkeit von Immobilienhändlern undmangeln<strong>des</strong> Verantwortungsbewusstsein <strong>der</strong> kreditgebendenBanken waren ausschlaggebendeFaktoren dabei. Es handelte sich keineswegsum undurchschaubare weltwirtschaftliche Vorgänge.»WISO« porträtierte die 23-jährige arbeitsloseKrankenschwester Lakeisha Williams, die achtpraktisch baufällige Häuser auf Kredit kaufte, diesich durch die Mieteinnahmen selbst finanzierensollten. Alle Kreditansprüche landeten letztlichbei <strong>der</strong> Deutschen Bank in Frankfurt. Der Gang<strong>der</strong> »WISO«-Kamera durch unbewohnte und ausgeplün<strong>der</strong>teRuinen in Cleveland zeigte deutlich:Keine Bank konnte hier auf Rückzahlung <strong>der</strong> Darlehenssummehoffen. Insgesamt spricht die Zahl152 I2009.Jahrbuch


von knapp 100 Beiträgen und Erklärstücken alleinbei »WISO« zu den unterschiedlichsten Aspekten<strong>der</strong> Krise eine deutliche Sprache.Reaktion mit AugenmaßVier grundlegende Reaktionsmuster <strong>der</strong> Redaktionhaben sich dabei bewährt. Nämlich zuallererstErklärungen liefern und dabei Problemein weltweite Zusammenhänge stellen. Zweitens,durchgehend differenziert berichten ohne plakativeSchuldzuweisungen – Morddrohungen gegenBankmanager und ein »bank run« wie bei NorthernRock in England blieben in Deutschland aus.Drittens, eine Nähe bringende Personalisierungdurch Zeigen von Einzelschicksalen: Wie gehenbetroffene Bürger, etwa Island-Bankgeschädigte,beispielhaft mit den Problemen um? Und viertens,konkrete individuelle Handlungsmöglichkeitenaufzeigen: Was kann <strong>der</strong> Einzelne tun, um in seinerLebenssituation zu reagieren, welche Möglichkeitengibt es für private Wege aus <strong>der</strong> Krise?»Schwabenschmiede« und »Soll ich jetzt ...?«Beispielhaft sind dabei zwei »WISO«-Serien mitden Titeln: »Soll ich jetzt …?« und »Schwabenschmiede«.»Soll ich jetzt … etwa Gold kaufen,in Immobilien investieren, aus Aktien aussteigen,Uhren als Geldanlage kaufen? O<strong>der</strong> gar eineKreuzfahrt buchen?« Im Mittelpunkt stehen konkreteAntworten und Handlungsanweisungen aufdie zentralen Fragen <strong>der</strong> Zuschauer in <strong>der</strong> Krise.O<strong>der</strong> die Berichte aus <strong>der</strong> »Schwabenschmiede«.Eine Serie, produziert vom Lan<strong>des</strong>studio Stuttgartmit Filmbeiträgen aus den unterschiedlichenPerspektiven eines mittelständischen Unternehmens:Wie lebt <strong>der</strong> Arbeiter mit Kurzarbeit? Wieorganisiert <strong>der</strong> Vorarbeiter die wenigen Aufträge?Wie kommt <strong>der</strong> Geschäftsführer durch die Krise?Spannende Geschichten, wie sie sich tausendfachin unserer Gesellschaft in diesen Monatenabgespielt haben, bei »WISO« zu sehen, um dieKrise begreifbar und lösbar zu machen.Mehr Komplexität für alleIn <strong>der</strong> Krise manifestieren sich globale Entwicklungen,die den Alltag <strong>der</strong> Zuschauer schon längerbestimmen. Zur Gründungszeit von »WISO« kamdas Telefon noch von <strong>der</strong> Post, in Grau o<strong>der</strong> Grün.Bei »WISO« saß dann <strong>der</strong> Wirtschaftsminister mitZigarre in <strong>der</strong> Hand und parlierte über seine volkswirtschaftlichenPolitikziele. Bei <strong>der</strong> Bahn warenalle noch beamtet – mit entsprechendem Tonfall.Und die Verbände, Kirchen und Vereine hattennoch wirklich großen Einfluss auf das, was dieGesellschaft bewegte. Im Gegensatz dazu gibt esheute viel mehr als diese Dualität zwischen »WI«und »SO«, zwischen Wirtschaft und Sozialem,dem Gründungstitel vor nun 25 Jahren.Es gibt als Themen etwa die vielfältigen Finanzdienstleistungen,komplexe Immobilienfinanzierungen,den Bereich <strong>der</strong> etwa 20 persönlichenVersicherungen, von <strong>der</strong> Hausrat- bis zur Elementarschädenversicherung.Dazugekommen ist aus<strong>der</strong> früher vermeintlich »sicheren Rente« <strong>der</strong> großeBereich Vorruhestand, Altersteilzeit und Riesterrente.Es sind aber auch so unterschiedliche Bereichewie Reiserecht, <strong>der</strong> ganze Fächer an Autothemen,Ernährung, Technik und Internet, Steuernund Gebühren, Mieten und Wohnen. Dazu gehörtauch <strong>der</strong> Gesundheitsbereich und dieKrankenversicherung,das neu eingeführte Elterngeld unddie Pflegeversicherung. Aber auch Ausbildung,Arbeitsmarkt und Arbeitsrechtbis zu Hartz IV, alsoalle Lebensbereiche von <strong>der</strong> Wiege bis zur Bahre.Eines haben all diese Wissensbereiche gemeinsam:Sie sind furchtbar kompliziert für den Bürgerund gefährlich kostenträchtig, denn: Unwissenheitschützt nicht vor Schaden. Da hilft nur vorher Aufklärungo<strong>der</strong> hinterher <strong>der</strong> »WISO«-Effekt.Bürokratie schafft UnsicherheitAuch dank <strong>der</strong> Regelungswut <strong>der</strong> EU-Bürokratiein Brüssel, aber auch <strong>des</strong> deutschen Gesetzgebersund <strong>der</strong> Gerichte, gibt es eine großeVerunsicherung in vielen Lebensbereichen. In»WISO« – 25 Jahre Berichte aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> GesellschaftI 153


Das ist ja <strong>der</strong> Hammer!40 Jahre »Län<strong>der</strong>spiegel« – Ein Klassiker mit starker ZuschauerbindungEs sind die kleinen Geschichten, die den »Län<strong>der</strong>spiegel«groß gemacht haben. Sie schaffenes meist nicht in die Nachrichtensendungen o<strong>der</strong>auf die Titelseiten <strong>der</strong> Zeitungen. Und doch sindsie für die Betroffenen oft von existenzieller Bedeutung.Wenn Familien erfahren müssen, dasssie ihr Haus unwissend auf verseuchtem Bodengebaut haben, obwohl <strong>der</strong> Baubehörde das Problemlange vorher bekannt war. Wenn ein Rentner,<strong>der</strong> ehrenamtlich Wan<strong>der</strong>wege pflegt, von einerProzesslawine erdrückt wird, weil in seinem Revierübermütige Touristen zu Schaden gekommensind. Und wenn eine Frau dem Entschädigungsantragihres verstorbenen Vaters nachgeht undvom zuständigen Amt für offene Vermögensfragenmit <strong>der</strong> Antwort abgespeist wird, dass <strong>der</strong>Fall aus dem Jahre 1990 voraussichtlich 2014 zurBearbeitung ansteht.All das sind Stoffe für den »Hammer <strong>der</strong> Woche«,erwiesenermaßen das Markenzeichen <strong>des</strong> Magazins.Der »Län<strong>der</strong>spiegel« als Anwalt genervterund enttäuschter Bürger, die in den Mühlen <strong>der</strong>Bürokratie zerrieben wurden o<strong>der</strong> am Behördenirrsinnverzweifelt sind. Einige Tausend Anfragenbekommt die Redaktion pro Jahr auf den Tisch– per Post o<strong>der</strong> per Mail an hammer@zdf.de.Sorgen und Nöte aus ganz Deutschland, und invielen Fällen kann die Redaktion tatsächlich etwasbewegen. Der »Hammer <strong>der</strong> Woche« ist laut Sendungstestseine zentrale, für viele »Län<strong>der</strong>spiegel«-Zuschauersogar die wichtigste Sehmotivationüberhaupt am Samstagnachmittag. Die Rubrikschafft große Identifikationspotenziale und sorgtfür eine starke Zuschauerbindung.Der »Län<strong>der</strong>spiegel« ist <strong>der</strong> Klassiker <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>berichterstattungim deutschen Fernsehen. Seit40 Jahren ist das Magazin auf Sendung – stetsaktuell und zeitgemäß, ohne dabei dem Zeitgeistzu erliegen. Und immer gilt – damals wie heute:Themen, die <strong>der</strong> »Län<strong>der</strong>spiegel« anpackt, müssenso interessant, so spannend und so aktuellsein, dass sie in Bayern genauso gut ankommenwie in Brandenburg, in Hessen o<strong>der</strong> in Baden-Württemberg. Die neue Stadtbahn zwischen denwichtigsten Ruhrmetropolen, <strong>der</strong> geplante Saar-Pfalz-Kanal und die heftig umstrittenen GebietsundVerwaltungsreformen in Nie<strong>der</strong>sachsen undSchleswig-Holstein – das waren die Themen <strong>der</strong>ersten »Län<strong>der</strong>spiegel«-Sendung am 4. Januar1969. Für unseren heutigen TV-Geschmack optischund dramaturgisch fraglos zu wenig opulentund damals ja auch noch in schwarzweiß, journalistischaber genauso klar und zupackend wieheute und nah an den Sorgen und Wünschen<strong>der</strong> Menschen in Deutschland. Diesem Credofühlt sich das Redaktionsteam bis heute verpflichtet.Und das erwarten die Zuschauer auch von»ihrem« »Län<strong>der</strong>spiegel« und halten dem Magazindafür die Treue.Die Sicherung <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>kompetenz <strong>des</strong> ZDFist seit Sen<strong>des</strong>tart Kernaufgabe für den »Län<strong>der</strong>spiegel«.Wer regiert mit wem? Wo zerbrechenKoalitionen, wo werden neue politische BündnisseRalph SchumacherRalph Schumacher vor <strong>der</strong>Frauenkirche in DresdenDas ist ja <strong>der</strong> Hammer!I 155


geschmiedet? Aber auch: Welches Land gehtneue Wege – in <strong>der</strong> Bildungspolitik zum Beispielo<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> immer wichtiger werdenden Frage<strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung generationenübergreifen<strong>der</strong> Betreuungsangebote.Dabei bietet die Redaktion imProgrammumfeld <strong>des</strong> späten Samstagnachmittagsjeweils eine attraktive Magazinmischung, diedie Information in den Mittelpunkt stellt, die aberganz bewusst auch auf unterhaltsame Elementeund Farben setzt.Ob Landtagswahlen o<strong>der</strong> Koalitionsverhandlungen,Regierungskrisen o<strong>der</strong> Reformvorhaben,<strong>der</strong> »Län<strong>der</strong>spiegel« ist immer dabei. Die Redaktionschaut dabei nicht nur auf die politischeEbene, son<strong>der</strong>n analysiert auch, wie schwierigewirtschaftliche und soziale Verhältnisse die Stimmungin Deutschland beeinflussen.Bürgernah und alltagsrelevant ist die Grundausrichtung<strong>des</strong> gesamten Magazins. Nehmen wirden Gesundheitsfonds – ein abstraktes Monstrum,das kaum einer versteht. Aber auf die Frage,ob Wettbewerb unter den Krankenkassen nötigund damit unterschiedliche Beitragssätze sinnvollsind, haben die meisten Patienten – also dieKunden – sehr konkrete Antworten. O<strong>der</strong> nehmenwir die Arbeit <strong>der</strong> Fö<strong>der</strong>alismuskommission, diefür Otto-Normalverbraucher schwer zu ergründenwar. Dass aber Lan<strong>des</strong>grenzen in heutigenZeiten noch Nachteile bei <strong>der</strong> Schulwahl und jedeMenge Probleme bei <strong>der</strong> Erstattung von Schülerbeför<strong>der</strong>ungskostenbedeuten können, lässt vieleZuschauer aufhorchen und macht die große Politikerklärbar. Und so spielt die konkrete Lebenswirklichkeit<strong>der</strong> Zuschauerinnen und Zuschauerbei <strong>der</strong> Auswahl und <strong>der</strong> Umsetzung <strong>der</strong> Beitragsthemeneine zentrale Rolle. Berichte über denAtomausstieg, über Ärztemangel o<strong>der</strong> Altersarmutgibt es viele auf den diversen Kanälen. Entscheidendaber sind emotionalisierende Geschichtenund glaubwürdige Protagonisten. Und die Redaktionbemüht sich stets um ein differenziertes Bild,zeigt die Ängste <strong>der</strong> Menschen in Gorleben vorden Risiken eines Atommüll-Endlagers ebensowie die Sorgen <strong>der</strong> Beschäftigten am Kraftwerk-Standort Biblis.Die vertiefende, hintergründige Berichterstattungzur Lan<strong>des</strong>politik ist seit eh und je integraler Bestandteil<strong>des</strong> Magazins. Der »Län<strong>der</strong>spiegel« siehtdie Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong> aber nicht nur als politische Gebilde.Das Magazin begreift sich ebenso als <strong>der</strong>Sendeplatz im ZDF-Programm, <strong>der</strong> den Reichtumund die Vielfalt <strong>der</strong> unterschiedlichen Regionenund ihrer Menschen spiegelt. Reportagen ausdeutschen Ferienregionen und Porträts über Städtemit beson<strong>der</strong>en Ideen und Projekten finden sichdaher in nahezu je<strong>der</strong> Sendung.Und daher verlässt <strong>der</strong> »Län<strong>der</strong>spiegel« auchregelmäßig sein Studio auf dem Mainzer Ler-Der »Län<strong>der</strong>spiegel« mit mobilerProduktionseinheit live in einerBerghütteImmer on top: Dreh auf <strong>der</strong>Kneifelspitze im BerchtesgadenerLand156 I2009.Jahrbuch


chenberg und sendet das Magazin live vor Ort.Fünf bis sechs Mal pro Jahr, in <strong>der</strong> sommerlichenUrlaubszeit, aber auch aus Anlass zentraler innenpolitischerEreignisse, sucht sich die Redaktionoptisch attraktive Standorte in den Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n.Ziel ist, politische Stimmungen undgesellschaftliche Befindlichkeiten bei Land undLeuten herauszuarbeiten und gleichzeitig auchdie Vor-Ort-Präsenz <strong>des</strong> ZDF zu stärken. Der »Län<strong>der</strong>spiegel«als Live-Event – Public Viewing undMainzelmännchen-T-Shirts inklusive. 2009 wurdenunter an<strong>der</strong>em mit Erfurt, Potsdam und Dresdendrei ostdeutsche Metropolen ausgewählt, die imVorfeld <strong>der</strong> jeweiligen Landtagswahlen im Fokusstanden und außerdem im Jahr 20 nach demMauerfall viel Stoff für intensive Aufbau-Ost-Bilanzenboten. Außenübertragungen sind auch in<strong>der</strong> Zuschauerakzeptanz beson<strong>der</strong>s erfolgreichund tragen fraglos zum Renommee <strong>der</strong> Sendungbei.Das ist ja <strong>der</strong> Hammer!I 157


»Ich kann Kanzler!«Roman BeulerNaja, das stimmt so natürlich nicht, zumin<strong>des</strong>tnicht für mich. Aber immerhin durfte ich an einemaufsehenerregenden ZDF-Projekt mitwirken, ebenan »Ich kann Kanzler!«. Das begann schon mit<strong>der</strong> redaktionsübergreifenden Zusammenarbeit.In einem Team aus <strong>der</strong> Innenpolitik, <strong>der</strong> Redaktion»hallo deutschland« und <strong>der</strong> HauptredaktionNeue Medien zu arbeiten, hat neben dem Reiz <strong>der</strong>professionellen Herausfor<strong>der</strong>ung auch einfachgroßen Spaß gemacht.Aber erst einmal zurück zum Ursprung <strong>der</strong> Idee.Vor zwei Jahren stellte uns Panagiotis Trakaliaridisaus <strong>der</strong> strategischen <strong>Programme</strong>ntwicklung in<strong>der</strong> Programmkonferenz eine kanadische Showvor, die es geschafft hatte, Politik auf eine Art darzustellen,die unterhaltsam ist und Spaß macht.»Geht so etwas?« haben wir natürlich alle gefragt.Besteht Politik im Fernsehen denn nicht immeraus den O-Tönen von Mandatsträgern, Generalsekretäreno<strong>der</strong> Ministern? Und ist das Bild vomGang über den Flur als Antexter nicht schon dieVollendung <strong>der</strong> Kreativität in <strong>der</strong> Politikberichterstattung?Aber eine Politikshow, noch dazu imGewand einer Castingsendung – wie soll dasgehen?Es wird gehen, waren Bettina Schausten undNikolaus Bren<strong>der</strong> überzeugt. Als das ZDF dieRechte am kanadischen Format »Next great lea<strong>der</strong>«erworben hatte, wurde redaktionsübergreifendein Team zusammengestellt, das sich mitVerve auf die Aufgabe stürzte, um den Erfolg, dendas Format in Kanada hatte, auch in Deutschlandmöglich zu machen.Im Superwahljahr 2009 hatten wir die Gelegenheit,diese Idee für das deutsche Fernsehen unddas Internet umzusetzen – und die Resonanzwar umwerfend: Rund 2 500 junge Menschen imAlter von 18 bis 35 Jahren bewarben sich onlineals »Kanzler«. Sie machten uns die Auswahl nichtleicht: Etliche Tage verbrachten wir damit, diejenigenzu finden, denen wir die besten Chanceneinräumten. Übrig blieben 40 Kandidatinnen undKandidaten, die sich und ihre Idee für Deutschlandonline darstellen durften. Unter »kanzler.zdf.de« konnte sich je<strong>der</strong> Internetuser ein Bild von denjungen Frauen und Männern machen, von ihrenÜberzeugungen und ihrem Engagement für Politik– und natürlich durfte auch je<strong>der</strong> seinen Kommentarim Netz dazu abgeben. In einer Demokratieist <strong>der</strong> Austausch von Meinungen schließlich eine<strong>der</strong> wichtigsten Voraussetzungen für die Bildungeines politischen Urteils.40 Kandidaten, 40 politische Profile, 40 Ideen: Derehemalige Deutsche Bun<strong>des</strong>tag in Bonn war einpassen<strong>der</strong> Rahmen für einen ersten Wettstreit <strong>der</strong>Kandidaten. Hier traten die politischen Jungtalenteans Rednerpult und präsentierten sich unsererprominenten Jury: Anke Engelke, Günther Jauchund Henning Scherf, die mit Wissen und Witz denIdeen <strong>der</strong> Bewerber auf den Grund gingen undnach zwei Tagen <strong>der</strong> Auswahl die schwere Aufgabehatten, die Besten <strong>der</strong> Besten herauszufiltern.Es fiel ihnen schwer – denn selten traten in einerCasting-Situation so viele außergewöhnliche Persönlichkeitenmit ihren Ideen gegeneinan<strong>der</strong> an.Hier konnte sich Cora Zeugmann vorstellen, die27-Jährige, die sogar für Barack Obama in denUSA Wahlkampf gemacht hatte. O<strong>der</strong> Mirko Wolf:<strong>der</strong> Ex-Boxer und Personal Trainer, <strong>der</strong> als Patenfür seine Bewerbung einen Scheich aus Abu Dhabimit ins Rennen genommen hatte. Je<strong>der</strong> Kandidathatte seine Stärken, aber für mehr als sechs jungeFrauen und Männer war im »Endspiel« am 19. Juninun mal kein Platz.158 I2009.Jahrbuch


Die Kandidaten beim Vorentscheidim Bonner PlenarsaalDelano Osterbrauck, JacobSchrot, Siegfried Walch, NurayKaraca, Antje Krug und PhilipKalischSchon zu diesem Zeitpunkt war uns klar, dassdas Projekt für alle Beteiligten ein Gewinn ist.Die Resonanz zu »Ich kann Kanzler!« in <strong>der</strong> Öffentlichkeitund in den Medien war positiv. DieZDF-Webuser, die Politiker und die Journalistensprachen darüber. »Ich kann Kanzler!« wurde– obwohl grammatikalisch natürlich falsch – zueinem geflügelten Wort in <strong>der</strong> Poltikberichterstattung.Nun wäre das ja nicht das erste Mal, dasses mit einem guten Slogan gelingt, die deutscheSprache zu bereichern. Und was Verona Pooth mit»Da werden Sie geholfen« gelungen ist, das hattenwir jetzt auch geschafft. Gerade die Tatsache,dass schon im Titel eine erkennbare Ironie liegtund <strong>der</strong> »Spaßfaktor« von Politik betont wird, hattegeholfen, so viele junge Menschen und übrigensauch ZDF-Kolleginnen und -Kollegen für das Projektzu begeistern.Aus den »Vorwahlen« im Bonner Bun<strong>des</strong>tag wur<strong>des</strong>chließlich die erste Fernsehsendung unseresProjekts, wir brachten sie als 45-minütige Dokumentationins Hauptprogramm. Die Sendung waruns wichtig, weil wir den Zuschauern zeigen wollten,wie verschieden die Ideen, die Beweggründeund das Auftreten <strong>der</strong> Kandidatinnen und Kandidatengewesen waren. »Ich kann Kanzler!« sollteeben auch zeigen, dass politisches Engagementsich auch auf an<strong>der</strong>en Wegen Bahn brechenkann als nur den traditionellen, parteipolitischen.Und es sollte vor allem eine Auffor<strong>der</strong>ung sein,Politik eigenverantwortlich zu gestalten und Initiativezu entwickeln, sozusagen eine Bürgerpflicht.Welcher Fernsehsen<strong>der</strong> in Deutschland, wennnicht das ZDF, wäre denn in <strong>der</strong> Lage, dieses soausführlich und unterhaltsam auf den Schirm zubringen?Dann kam mit <strong>der</strong> Einschaltquote erst einmal diegroße Ernüchterung: nur 1,14 Millionen Zuschauer(4,2 Prozent Marktanteil) wollten die Dokumentation»Ich kann Kanzler! – Die Vorentscheidung«sehen. Aber in <strong>der</strong> Politik wie beim Fernsehen gilt:Kurz vor dem Ziel sollte man nicht aufgeben.Denn unabhängig von <strong>der</strong> niedrigen Einschaltquotewaren wir überzeugt, dass unser Formatetwas leisten und bewegen kann. Es kann zeigen,dass in Deutschland keine Politikverdrossenheitherrscht, son<strong>der</strong>n dass sich viele junge Menschenmit Verve einmischen wollen und dass siegewillt sind, für ihre Idee einzustehen und diesezu vertreten. Politik in einer Demokratie lebt vonÖffentlichkeit und die wollten wir mit unseremProjekt herstellen.Unser persönliches Sommermärchen hatte alsoerst angefangen. Jetzt fuhren wir nach Berlin. ImZentrum <strong>der</strong> deutschen Politik, <strong>der</strong> Hauptstadtund vor einem Publikum, das repräsentativ dasdeutsche Wahlvolk spiegelte, kam es zum politisch-spielerischenShowdown.»Ich kann Kanzler!«I 159


Vorspann zu »KAVKA«Markus Kavkabenshilfe für einsame Bauern, gestresste jungeEltern o<strong>der</strong> aufstrebende Stars hinausgehen, istoffenbar groß.Unsere eigene Bilanz nach »KAVKA« Nummereins war ambivalent: Die Ingredienzien habengestimmt, die Mischung noch nicht ganz. Die Locationlieferte tatsächlich die richtige Atmosphäre:tolle Bil<strong>der</strong> vor toller Kulisse. Selten hat man imZDF ein so junges, urbanes Publikum gesehen.Auch die für das Format so wichtige Haltungstimmte: Markus Kavka hatte sich nicht verbogen,er sprach mit den Leuten, nicht übersie. Einspieler und Verpackung passten zumgesamten »Look and Feel«. Nachholbedarf gabes dagegen in punkto Sendungsdramaturgie,Mo<strong>der</strong>atorenrolle und technischer Umsetzung <strong>der</strong>Webcam-Schalten.Nach einer Auswertung <strong>der</strong> Zuschauer- und Kollegenscheltesowie <strong>der</strong> Twitter- und Forumseinträgehaben wir die Sendung im Sommer weiterentwickelt:mehr Studiogäste, die das Thema ausverschiedenen Perspektiven beleuchten, weg von<strong>der</strong> Kleinteiligkeit <strong>der</strong> Elemente. Markus Kavkasollte sich ausschließlich auf eine kleine Talkrundekonzentrieren. Für die Interaktion mit Publikumund Netzgemeinde haben wir Jo Schück als Sidekickan Bord geholt.Im Oktober gingen wir mit »KAVKA« Nummer zweian den Start, Thema: »Generation Warmduscher– Wo bleibt <strong>der</strong> Aufstand <strong>der</strong> Jungen?« Umweltsünden,Staatsverschuldung, Job-Misere. Warumgehen junge Menschen nicht auf die Barrikaden,wun<strong>der</strong>n sich einige <strong>der</strong> 68er-(Groß-)Eltern. DieJungen selbst sehen das Leben in <strong>der</strong> gefühltenDauerkrise aber pragmatisch. Weil sie die Welt162 I2009.Jahrbuch


nicht in Gut und Böse, Richtig und Falsch einteilenkönnen und wollen? Weil sie ganz einfachund selbstverständlich Müll trennen, mit <strong>der</strong> Bahnfahren und sich in NGOs engagieren, anstattlautstark For<strong>der</strong>ungen zu stellen? O<strong>der</strong> weil ihnendie eigene Karriere einfach wichtiger ist als dasGemeinwohl?Warum die Jungen so sind, wie sie sind, darüberentwickelte sich eine Diskussion zwischen demZEIT-Feuilletonchef Jens Jessen, <strong>der</strong> politischenAktivistin Hanna Poddig und einer bekennendenNichtwählerin, Erntekönigin und jungen Mutter.Die gerade von jungen Leuten unterstützte undselbst ernannte Protestpartei <strong>der</strong> »Piraten« stattete<strong>der</strong> Sendung zu Wasser einen Besuch ab undlegte mit einem bunten Floß an <strong>der</strong> Außenterrasse<strong>des</strong> Watergate-Clubs an.Unser Fazit nach »KAVKA« zwei: Die Än<strong>der</strong>ungenim Format haben sich gelohnt. Auch die Onlinepressehonorierte unseren zweiten Anlauf: »Werzusieht, fühlt sich nachher tatsächlich angesprochenund fragt sich: Wann bin ich das letzte Malauf die Straße gegangen? Und wie drückt manam besten aus, dass man nicht einverstandenmit dem ist, was gerade in <strong>der</strong> Politik passiert?So kann öffentlich-rechtliche Grundversorgungfunktionieren, wenn sie sich traut, Debatten anzuregen.Wenn das ZDF klug ist, macht es weiterdamit.« (faz.net)Natürlich lief auch beim zweiten Mal nicht allesglatt. Zum Beispiel gab es trotz unterschiedlicherPositionen <strong>der</strong> Studiogäste noch zu wenigSchlagabtausch. Auch die Kommentare <strong>der</strong> Zuschauerhätten die Gespräche im Studio stärkeraufheizen können. Mehr Lebendigkeit und Meinungsaustausch– das Diskussionspotenzial hättenoch besser ausgenutzt werden können.Ob das Experiment funktioniert hat, ob es zumZDF passt, darüber müssen nun an<strong>der</strong>e befinden.Auf alle Fälle hat es Riesenspaß gemacht,gemeinsam mit einem tollen Team aus Produktionund Technik etwas Neues zu probieren. Dank <strong>der</strong>Unterstützung so erfahrener und für alles offenerKollegen wie Juergen Grosse sind wir unseremZiel, manches an<strong>der</strong>s und neu zu machen, einStück näher gekommen: mit jungen Menschen inihrer Sprache über politische Themen zu sprechenund gleichzeitig eine unaufdringliche Coolness zuvermitteln. Etliche Mails und Twitter-Beiträge, vieleAnrufe per Webcam und das gute Feedback vonFreunden und Kollegen bestärken uns darin: Bitteweitermachen …!Watergate-Affäre – Der junge Polit-Talk mit »KAVKA« live aus BerlinI 163


Die Leichtathletik-WM im ZDF – Mit Topsport und Spitzentechnik zumErlebnisfernsehenAchim HammerDie 12. Leichtathletikweltmeisterschaften in Berlinwaren im Jahr 2009 das weltweit größte Sportereignis.Der Fokus <strong>der</strong> Weltöffentlichkeit lag fürneun Tage auf diesem sportlichen Event.Das Projekt BERTA 2009Das ZDF war dabei als fe<strong>der</strong>führen<strong>der</strong> Sen<strong>der</strong>für die Erstellung <strong>des</strong> Internationalen Signals verantwortlich.BERTA 2009 (Berlin Radio TelevisionAthletics) nannte sich die Gemeinschaftsproduktionvon ARD und ZDF. Erstmals wurde von einerdeutschen Fernsehanstalt ein Sportereignis dieserGrößenordnung im hochauflösenden HDTV-Formaterstellt und international angeboten.Die Vielfalt <strong>der</strong> Leichtathletik und die Parallelität<strong>der</strong> Ereignisse erfor<strong>der</strong>ten naturgemäß eineaufwändige Aufnahme- und Wie<strong>der</strong>gabetechnik.BERTA hatte sich verpflichtet, diese Weltmeisterschaftenauf höchstem fernsehtechnischemNiveau auszurichten. Zur Erstellung <strong>des</strong> Signalskam mo<strong>der</strong>nste und zugleich bewährte Technikzum Einsatz. Der immense produktionstechnischeAufwand bedeutete eine enorme Herausfor<strong>der</strong>ungan Material und Mitarbeiter. So konnten schließlichneben den eindrucksvollen sportlichen Leistungenvor allem auch die vielfältigen Emotionen anschaulichin Bild und Ton wie<strong>der</strong>gegeben werden– die WM wurde zum »Erlebnisfernsehen«.Drei große Übertragungssysteme wurden indreijähriger Vorarbeit schrittweise konzipiert. Diebeiden größten TV Compounds (Übertragungszentren)wurden in direkter Nachbarschaft zumOlympiastadion errichtet. Das »International BroadcastCenter« (IBC) beheimatete als Containerdorfund Ü-Wagenpark die internationalen TV-Stationenund diente als übergeordnetes Schalt- undSendezentrum von BERTA. Dazu gesellte sich <strong>der</strong>Hostbroadcaster-Bereich für die Signalerstellung<strong>der</strong> Lauf- und Technikdisziplinen im Stadion. Eindrittes System wurde als so genannte Außenstellefür die Geh- und Marathonwettbewerbe am BrandenburgerTor errichtet.Sechs Regien verarbeiteten insgesamt 72 Kamerasaus dem Stadion, 24 von den Marathonrennenund 17 Kameras von <strong>der</strong> Gehstrecke. Nebendem endgemischten Weltbild »Integrated Feed«wurden von BERTA weitere acht Signale vonden verschiedenen Disziplinen und zahlreicheeinzeln anwählbare Kameras (Isolated Cameras)angeboten. Um den Zuschauern in allerWelt ein attraktives Fernsehbild zu liefern, kamÜbertragung aus demOlympiastadion in BerlinStadionatmosphäre live164 I2009.Jahrbuch


Aufbau <strong>der</strong> ReporterplätzeAchim Hammer am Ort <strong>des</strong>Geschehensneben <strong>der</strong> bewährten Technik auch innovativesSpezialequipment zur Geltung. Eine an Drahtseilenaufgehängte fliegende Kamera (Spi<strong>der</strong>cam),eine mitfahrende Schienenkamera (Trackcam),mehrere hochauflösende Highspeed- und Superzeitlupenkameras,Kameras an Kränen sowieferngesteuerte, um mehrere Achsen drehbareRemote-Systeme, lieferten eindrucksvolle undbrillante Bil<strong>der</strong> aus dem Stadion.Drahtlose Aufnahmetechnik am Hubschrauberund auf Motorrä<strong>der</strong>n vermittelte eindrucksvolleBil<strong>der</strong> von <strong>der</strong> kulturellen Vielfalt Berlins und hautnaheEinstellungen auf beziehungsweise neben<strong>der</strong> Marathon- und Gehstrecke.Das Host-Signal wurde über neun Tage hinwegin 170 Län<strong>der</strong> ausgestrahlt. Das hochwertigeProgrammangebot umfasste dabei ein Volumenvon insgesamt 68 Stunden. 138 Kommentarstellenwurden von den Radio- und TV-Anstalten amOrt genutzt. Insgesamt 25 Län<strong>der</strong> bedienten sichaus dem großen Angebot <strong>der</strong> Einzelsignale undmischten sich hieraus ihr eigenes unilateralesEndbild, so auch das ZDF.Die Mitarbeiter von BERTA haben sich einer großenHerausfor<strong>der</strong>ung gestellt. Das professionelleArbeiten, das Engagement und die Teamfähigkeit<strong>der</strong> Kolleginnen und Kollegen haben maßgeblichzum Erfolg <strong>der</strong> Unternehmung beigetragen.Die Resonanz auf das Projekt »BERTA 2009«fiel insgesamt sehr positiv aus. So äußerten diePresse und die ausländischen Fernsehanstaltengroßes Lob und Anerkennung, sowohl für dieprofessionelle Konzeption als auch die Umsetzung<strong>des</strong> Vorhabens. Die Übertragungen sindmehrfach für nationale und internationale Preisenominiert.Der HD-ShowcaseDie Übertragungen von den Leichtathletik-Weltmeisterschaften2009 in Berlin waren deutschlandweitdas erste Programmvorhaben und damitauch die erste sportliche Großveranstaltung, die ineinem öffentlich-rechtlichen Hauptprogramm imHDTV-Format ausgestrahlt wurde. Es war zudemdas erste von drei HD-Showcases, das demRegelbetrieb, beginnend mit den OlympischenWinterspielen 2010 in Vancouver, vorangestelltwurde. Der brandneue High-Definition-ÜbertragungswagenMP4 <strong>des</strong> ZDF war die Schaltzentrale<strong>der</strong> nationalen Berichterstattung von ZDF undARD. Er bestand seine Feuertaufe mit Bravour,und das Arbeiten auf und mit dem Fahrzeug ließkeine Wünsche offen.Die HDTV-Premiere in <strong>der</strong> Sportberichterstattung<strong>des</strong> ZDF darf als gelungen bezeichnet werden.Dank <strong>der</strong> hervorragenden technischen Vorbereitungund Umsetzung gelang die Umstellung aufdas HD-Format problemlos, und es wurde einDie Leichtathletik-WM im ZDF – Mit Topsport und Spitzentechnik zum ErlebnisfernsehenI 165


Wohl dem, <strong>der</strong> den Überblickbehält: SchaltraumKabelbrücke im OlympiastadionBildsignal erstellt, das es in den Sportübertragungen<strong>des</strong> ZDF in so hoher Qualität und Brillanznoch nie zuvor gegeben hatte.Das Programmvolumen im ZDF betrug rund 26Stunden, jeweils verteilt auf eine Vormittags- undauf eine Primetimesendung an insgesamt vierSendetagen. Das Sendekonzept richtete sichdabei an den Livewettkämpfen aus. Erklärstücke,die Dank neu erstellter, dreidimensionaler Animationenfaszinierende Einblicke in die unterschiedlichenDisziplinen boten, Hintergrundstorys, nationaleund internationale Porträts und viele weitereElemente ergänzten das Liveprogramm. Auchdas Thema Doping wurde in <strong>der</strong> Berichterstattung<strong>des</strong> ZDF nicht ausgelassen, sowohl in aufklärenden,kritischen Beiträgen und Interviews als auchin den Livereportagen <strong>der</strong> Kommentatoren. DieMischung aus Information und Emotion wurdeals gelungen bewertet und schließlich mit demDeutschen Fernsehpreis in <strong>der</strong> Kategorie BesteSportsendung belohnt.Die Leichtathletik-Sendungen waren sehr gut eingeschaltetund erreichten insgesamt durchschnittlich3,20 Millionen Zuschauer und 22,1 ProzentMarktanteil. Damit lag das ZDF deutlich vor <strong>der</strong>ARD (2,97 Millionen, 20,7 Prozent Marktanteil). In<strong>der</strong> Primetime lag <strong>der</strong> Durchschnittswert bei 5,51Millionen Zuschauern (23,2 Prozent Marktanteil).Spitzenreiter war erwartungsgemäß das 100-Meter-Finale <strong>der</strong> Herren mit 8,91 Millionen Zuschauern(29,6 Prozent Marktanteil), aber auch technischeDisziplinen, die in <strong>der</strong> Gunst <strong>des</strong> Publikums ofthinter den Laufdisziplinen zurücktreten, wurdendank <strong>der</strong> guten Leistungen deutscher Athletinnenund Athleten außerordentlich gut angenommen.So erreichte zum Beispiel <strong>der</strong> Hochsprung <strong>der</strong>Frauen 8,08 Millionen (29,9 Prozent Marktanteil)o<strong>der</strong> das Kugelstoßen <strong>der</strong> Frauen 7,45 MillionenZuschauer (24,7 Prozent Marktanteil).FazitDie Leichtathletik-Weltmeisterschaften waren fürdas ZDF als Produzent <strong>des</strong> internationalen BildundTonsignals und auch im nationalen <strong>Programme</strong>in großer Erfolg. Der Sen<strong>der</strong> konnte seine produktionstechnischeKompetenz und die programmlicheQualität eindrucksvoll unter Beweis stellen.Bemerkenswert war auch die überdurchschnittlichhohe Akzeptanz bei den Fernsehzuschauern.166 I2009.Jahrbuch

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