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Grundlagen der Programmarbeit Programme des Jahres

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26<br />

<strong>Grundlagen</strong> <strong>Programme</strong> <strong>der</strong> <strong>Programmarbeit</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Jahres</strong>


»Sieh’s mal neo!«<br />

Rückblick auf das erste Jahr<br />

Eine unserer dringlichsten aktuellen und zukünftigen<br />

Aufgaben ist es, den drohenden<br />

Generationenabriss aufzuhalten. Bei <strong>der</strong> behutsamen<br />

Verjüngung <strong>des</strong> ZDF-Hauptprogramms<br />

haben wir an einigen Stellen schon<br />

erkennbare Erfolge erzielt, jedoch reichen<br />

diese noch keineswegs aus. Wir müssen<br />

die Verjüngung weiterführen, vorantreiben<br />

und ausbauen, um das ZDF bei jüngeren<br />

Zielgruppen als bedeutenden und relevanten<br />

Sen<strong>der</strong> zu stärken. Aber die Erkenntnis, dass<br />

es zunehmend schwierig wird, mit einem<br />

Haupt- und Vollprogramm alleine alle Publikumsschichten<br />

zu erreichen, führte zu einer<br />

weiteren Maßnahme in <strong>der</strong> strategischen<br />

Neuausrichtung <strong>des</strong> ZDF für die digitale Fernsehzukunft:<br />

Unser neuer Digitalkanal ZDFneo<br />

ging am 1. November 2009 an den Start.<br />

Die Ziele waren sportlich: ein junges Publikum<br />

zwischen 25 und 49 Jahren zu begeistern, neue<br />

Zuschauerschichten für die ZDF-Familie und ihr<br />

Programm zu erschließen, Innovationsmotor für<br />

das Hauptprogramm zu sein und eine attraktive<br />

öffentlich-rechtliche Alternative zu den kommerziellen<br />

Sen<strong>der</strong>n zu bieten. Mit großem Pioniergeist<br />

machte sich das neo-Team rund um Norbert<br />

Himmler und Simone Emmelius ans Werk, wohl<br />

wissend, dass die Positionierung eines neuen Kanals<br />

im unüberschaubaren Sen<strong>der</strong>dschungel <strong>der</strong><br />

deutschen TV-Landschaft nicht einfach werden<br />

würde. Gleich zu Beginn hagelte es Kritik seitens<br />

<strong>der</strong> kommerziellen Sen<strong>der</strong>, die ZDFneo als Bedrohung<br />

sahen – ein Zeichen für uns, dass wir mit<br />

unserem Vorhaben einen durchaus erfolgversprechenden<br />

Weg eingeschlagen hatten. Viel Lob gab<br />

es von <strong>der</strong> Presse: »Klein, aber neo – witzig, cool,<br />

europäisch«, »In dubio pro neo« o<strong>der</strong> »Fernsehen<br />

für junge TV-Gourmets« sind nur drei Beispiele für<br />

die zahlreichen positiven Schlagzeilen zum Start<br />

<strong>des</strong> Sen<strong>der</strong>s.<br />

Eine Aufbruchsstimmung wehte durch die Flure:<br />

Die neo-Plakate an <strong>der</strong> Einfahrt sorgten für kontroverse<br />

Diskussionen. Konzeptideen, die bislang<br />

nicht zum Sen<strong>der</strong>, zur Zielgruppe o<strong>der</strong> zum Sendeplatz<br />

passten, fanden ihren Weg auf die Redaktionstische.<br />

Überall spürte man den Optimismus<br />

und die Hoffnung, dass das ZDF durch ZDFneo<br />

ein Stück weit bunter, mo<strong>der</strong>ner, flexibler und mutiger<br />

werden würde.<br />

Ein Jahr nach dem Launch kann man mit Stolz<br />

sagen: Wir haben schon sehr viel erreicht! Im<br />

ersten Jahr hat ZDFneo seine Zuschauerresonanz<br />

kontinuierlich erhöht. Im Oktober 2010 erreichte<br />

<strong>der</strong> Digitalkanal erstmals 0,3 Prozent Monatsmarktanteil,<br />

sowohl bei allen Zuschauern als<br />

auch bei den 14- bis 49-Jährigen. Somit hatte<br />

sich <strong>der</strong> Marktanteil im Vergleich zum Startmonat<br />

verdreifacht – und damit das Quotenziel für das<br />

erste Jahr (0,2 Prozent) übertroffen. Beson<strong>der</strong>s<br />

erfreulich daran ist, dass das Ziel, mit ZDFneo<br />

jüngere Zuschauer zu begeistern, aufgegangen<br />

ist. So erreichen wir eine deutlich ausgeglichenere<br />

Zuschauerstruktur als im ZDF – und das zu einem<br />

»Sieh’s mal neo!«<br />

I 63<br />

Thomas Bellut<br />

Programmdirektor <strong>des</strong> ZDF<br />

Die »Mad Men« aus <strong>der</strong> preisgekrönten<br />

Serie: Pete Campbell<br />

(Vincent Kartheiser), Harry Crane<br />

(Rich Sommer), Don Draper<br />

(Jon Hamm), Salvatore Romano<br />

(Bryan Batt), Roger Sterling (John<br />

Slattery) und Paul Kinsey (Michael<br />

Gladis)


Maite Kelly und Theo West<br />

entlarven die Tricks <strong>der</strong> Industrie:<br />

»Da wird mir übel«<br />

Serkan Cetinkaya ist Mittelpunkt<br />

<strong>der</strong> schrägen Migrantencomedy<br />

»Süper Tiger Show«<br />

64 I<br />

beträchtlichen Teil mit Übernahmen aus dem<br />

Hauptprogramm, die im mo<strong>der</strong>nen Programmumfeld<br />

von ZDFneo offenbar auch an<strong>der</strong>e und jüngere<br />

Zuschauergruppen ansprechen.<br />

Im Digitalmarkt, also den Haushalten, die ZDFneo<br />

empfangen können, erzielte <strong>der</strong> erfolgreichste<br />

öffentlich-rechtliche Digitalkanal 0,7 Prozent bei<br />

allen Zuschauern und 0,6 Prozent bei 14- bis 49-<br />

Jährigen. Damit ist es ZDFneo in vergleichsweise<br />

kurzer Zeit gelungen, länger etablierte Sen<strong>der</strong> wie<br />

Das Vierte o<strong>der</strong> Comedy Central hinter sich zu<br />

lassen. Beson<strong>der</strong>s erfolgreich lief ZDFneo in <strong>der</strong><br />

Primetime ab 21 Uhr mit Krimis wie »Inspector<br />

Barnaby«, »Das Duo« o<strong>der</strong> »Wilsberg«, wo Marktanteile<br />

bis zu 1,7 Prozent erreicht wurden. Doch<br />

auch im Tagesprogramm führte die Umstellung<br />

von horizontaler auf vertikale Blockprogrammierung<br />

zu merklichen Zugewinnen. Hier hat sich gezeigt,<br />

dass es für kleine Sen<strong>der</strong> sehr viel einfacher<br />

ist, Zuschauer mit einer attraktiven Programmfolge<br />

so lange wie möglich zu halten, als sie täglich<br />

zur gleichen Zeit zum Einschalten zu bewegen.<br />

ZDFneo verdankt seinen Erfolg einer anspruchsvollen<br />

und spannenden Kombination <strong>der</strong> Genres<br />

Dokumentation/Reportage/Factual, Comedy/<br />

Show/Musik/Talk und Fiktion (Fernsehfilm, Spielfilm,<br />

Serie). Die Factual-Entertainment-Formate im<br />

ersten ZDFneo-Jahr waren ungewöhnlich, innovativ<br />

und nah an <strong>der</strong> Lebenswirklichkeit <strong>der</strong> Zu-<br />

2010.Jahrbuch<br />

schauer: Menschen am Rande <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

gründeten in Berlin einen »Straßenchor«, junge<br />

Leute verwirklichten mit originellen Geschäftsideen<br />

ihren »Plan B«, »Da wird mir übel« riskierte<br />

einen erschreckenden Blick auf die industrielle<br />

Lebensmittelproduktion, Heide Simonis und Gülcan<br />

Kamps wetteiferten als »Promi-Pauker« um<br />

den besten Unterricht, ein Hotel wurde nur mit<br />

Recyclingmaterialien komplett renoviert. Hier ist<br />

es gelungen, ein Genre, das bislang vornehmlich<br />

den kommerziellen Anbietern vorbehalten war,<br />

mit Anspruch und doch unterhaltsam für das<br />

öffentlich-rechtliche Fernsehen zu erschließen.<br />

Neben diesen Angeboten bot ZDFneo ein breites<br />

Angebot an Reportagen und Dokumentationen.<br />

Hier nenne ich stellvertretend für viele weitere Eigenproduktionen<br />

die Dokumentation »Brief an die<br />

Eltern« – ein berühren<strong>der</strong> Film, für den die junge<br />

Autorin mit dem Axel-Springer-Nachwuchspreis<br />

ausgezeichnet wurde.<br />

Im Innovationsfeld Comedy und Musik hat ZDFneo<br />

– den Interessen <strong>der</strong> jüngeren Zuschauer<br />

folgend – ebenfalls beson<strong>der</strong>e Anstrengungen<br />

unternommen: Das »Comedy Lab« mit Klaus<br />

Jürgen »Knacki« Deuser bot begabten, aber<br />

noch unbekannteren Comedians ein Versuchslaboratorium.<br />

Mit <strong>der</strong> »Süper Tiger Show« holte<br />

ZDFneo ein Format aus dem Internet auf die<br />

»große Bühne« <strong>des</strong> Fernsehens und machte den<br />

deutsch-türkischen Comedian Serkan Cetinkaya


zum Mittelpunkt einer halbstündigen, schrägen<br />

Migrantencomedy aus einem Kreuzberger Hinterhofkeller.<br />

Unter dem Label »neoMusic« haben wir<br />

den Grundstein für ein attraktives, zuverlässig auffindbares<br />

Musikangebot gelegt, <strong>des</strong>sen Spektrum<br />

von <strong>der</strong> Übertragung von Konzertmitschnitten<br />

über eine Chartshow bis hin zum Musiktalk reicht.<br />

Marta Jandová, schlagfertige Leadsängerin <strong>der</strong><br />

Band »Die Happy«, ist die Gastgeberin und das<br />

Musikgesicht von ZDFneo.<br />

Sicherlich waren nicht alle neuentwickelten Formate<br />

Quotenerfolge und sicherlich hat nicht je<strong>des</strong><br />

Konzept auf Anhieb wunschgemäß funktioniert.<br />

Dennoch wurde hier von allen Beteiligten extrem<br />

viel Entwicklungsarbeit geleistet. Wir haben<br />

einiges ausprobiert, Mut bewiesen, viele Erfahrungen<br />

gesammelt und unsere Kompetenz in<br />

Genres ausgebaut, die bislang nicht zu den<br />

ZDF-typischen zählten. Eine Investition in die<br />

Zukunft und eine erfreuliche Steigerung unserer<br />

Innovationsfähigkeit.<br />

Viel Aufmerksamkeit und positives Feedback hat<br />

sich ZDFneo durch seine fiktionalen Angebote<br />

erworben. Die internationale Kaufserie nach langer<br />

»Durststrecke« wie<strong>der</strong> ins ZDF zu holen – das<br />

war schon lange ein großes Anliegen von mir.<br />

Mit ZDFneo war das nun möglich, und bei Serienfans<br />

ist <strong>der</strong> Sen<strong>der</strong> mittlerweile zu einer festen<br />

und beliebten Adresse geworden. Wir sind stolz,<br />

unter an<strong>der</strong>em die mit mehreren Emmys und Golden<br />

Globes ausgezeichneten Serien »30 Rock«<br />

und »Mad Men« als Free-TV-Premieren zu präsentieren.<br />

Neben weiteren amerikanischen und<br />

britischen Serien konnte und kann sich ZDFneo<br />

zudem auf ein breites Fundament erstklassiger<br />

Fernsehfilme und Spielfilme <strong>des</strong> Hauptprogramms<br />

stützen. Krimis wie »Nachtschicht« und »Inspector<br />

Lynley«, aber auch Komödien wie »Bella Vita« o<strong>der</strong><br />

»Schade um das schöne Geld« erzielten in <strong>der</strong><br />

neo-Primetime hervorragenden Zuspruch in allen<br />

Zielgruppen.<br />

Ohne die Mitarbeit und Unterstützung vieler Abteilungen<br />

<strong>des</strong> Mutterschiffs ZDF ist ein Projekt wie<br />

ZDFneo nicht zu stemmen. So hat beispielsweise<br />

die Hauptabteilung Kommunikation ein eigenes<br />

Marketingteam geschaffen, das mit bunten, originellen<br />

und manchmal auch anregend-kontroversen<br />

Kampagnen die Etablierung <strong>des</strong> Kanals vorangetrieben<br />

hat. Mit einem Eigenetat von 30 Millionen<br />

Euro einen kompletten Kanal zu bestücken,<br />

ist schier unmöglich, und trotz höchstem Engagement<br />

bei allen neo-Kolleginnen und -Kollegen ist<br />

auch im personellen Bereich Unterstützung durch<br />

die Redaktionen <strong>der</strong> Programmdirektion vonnöten.<br />

»Synergie« ist das oft missbrauchte, hier aber<br />

hun<strong>der</strong>tprozentig zutreffende Stichwort. Sowohl<br />

finanziell und personell als auch inhaltlich arbeiten<br />

ZDFneo und Hauptprogramm eng zusammen.<br />

Es war schön zu beobachten, wie die gesamte<br />

Programmdirektion an einem Strang zog, um dem<br />

neuen Digitalkanal zum Erfolg zu verhelfen – allen<br />

finanziellen Einbußen und Mehrbelastungen zum<br />

Trotz. Für alle ein großer Kraftakt, <strong>der</strong> sich rückblickend<br />

auf das erste neo-Jahr aber eindeutig<br />

gelohnt hat.<br />

ZDFneo profitiert vom Hauptprogramm, seinen<br />

vielen attraktiven und hochwertigen Fernsehfilmen<br />

und Unterhaltungsformaten, den Hochglanz-<br />

»Terra X«-Dokumentationen und auch den Kultserien,<br />

die bei vielen jungen Zuschauern Kindheitserinnerungen<br />

und frühe Fernseherlebnisse wie<strong>der</strong><br />

aufleben lassen. Und auch das Hauptprogramm<br />

profitiert von ZDFneo: Formate können hier probiert<br />

werden, Erfahrungswerte gesammelt, Protagonisten<br />

getestet werden. Das positive Image,<br />

das ZDFneo bei jungen Zuschauern hat, wirkt<br />

sich spürbar positiv auch auf den Hauptsen<strong>der</strong><br />

aus. Mein Wunsch und mein Bestreben ist es, zukünftig<br />

dieses für beide Seiten gewinnbringende<br />

Wechselspiel noch weiter auszubauen, zu beför<strong>der</strong>n<br />

und zu vertiefen – den Blick ganz klar nach<br />

vorn auf Innovation, Verjüngung und Zukunftsfähigkeit<br />

gerichtet.<br />

»Sieh’s mal neo!«<br />

I 65


Peter Arens<br />

Leiter <strong>der</strong> Hauptredaktion Kultur<br />

und Wissenschaft<br />

Wissenschaftler wissen heute,<br />

dass sich Weiße Haie zu<br />

bestimmten Zeiten in Gruppen<br />

organisieren<br />

Die Meeresbiologin Alison Kock<br />

und ihr Studienobjekt:<br />

<strong>der</strong> Große Weiße Hai<br />

66 I<br />

Nur wer fasziniert ist, lernt auch<br />

»Terra X: Universum <strong>der</strong> Ozeane« – Die große internationale Wissenschaftsdoku im ZDF<br />

Zur thematischen Unerschöpflichkeit <strong>der</strong><br />

Weltmeere gehört auch die ozeanische Anzahl<br />

kluger Gedanken und Zitate über diesen<br />

großen Sehnsuchtsort. Vor vielen Jahren sah<br />

ich eine Dokumentation über den österreichischen<br />

Meeresforscher Hans Hass (geboren<br />

1919), <strong>der</strong> für mich unvergesslich in die<br />

Kamera sagte: »Es gibt viele wun<strong>der</strong>schöne,<br />

geheimnisvolle Orte auf dieser Welt. Aber <strong>der</strong><br />

schönste und geheimnisvollste von allen ist<br />

das Meer.«<br />

Der schönste Ort – das Meer. Der Gedanke von<br />

Hans Hass war eine passgenaue Vorlage für<br />

unser Bestreben, die Welt <strong>der</strong> Ozeane in einer<br />

aufwändigen großen Bildungsdokumentation abzubilden:<br />

Deren geheimnisvolle Seite zu zeigen<br />

und <strong>der</strong>en Schönheit einzufangen, sollte die Zuschauer<br />

für die Weltmeere neu begeistern. Mit<br />

einem kleinen pädagogischen Hintergedanken,<br />

denn <strong>der</strong> Mensch geht bekanntlich nur mit dem<br />

gut um, was er kennt und was er liebt. Unsere<br />

Wissenschaftsdoku bediente sich <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nsten<br />

filmischen Mittel, die uns zur Verfügung standen:<br />

außergewöhnliche Unterwasseraufnahmen, detailgenaue<br />

Re-Enactments und atemberaubende<br />

Computeranimationen in 3D von Fischen aus <strong>der</strong><br />

2010.Jahrbuch<br />

Urzeit <strong>der</strong> Meere, wie dem Megalodon und dem<br />

Pantodonten, von <strong>der</strong> ersten Zelle, die vor Milliarden<br />

Jahren im Ozean entstand.<br />

Aber es ging in »Universum <strong>der</strong> Ozeane« nicht<br />

allein darum, die Faszination <strong>der</strong> Natur zu beschwören.<br />

Auch wollten wir keine Gesamtschau<br />

<strong>der</strong> Meere angehen – im Sinne eines reinen<br />

Wildlife-Programms, wie dies die BBC vor einigen<br />

Jahren mit ihrem beeindruckenden »Blue Planet«<br />

gemacht hat. Son<strong>der</strong>n wir versuchten, dem Ozean<br />

als Phänomen auf die Spur zu kommen: Wie sind<br />

die Meere entstanden? Was berichtet die Forschungsgeschichte<br />

<strong>der</strong> Ozeane? Und wie ist das<br />

Verhältnis <strong>des</strong> Menschen zum Meer? Drei Viertel<br />

<strong>der</strong> Erdoberfläche sind von den Weltmeeren bedeckt,<br />

und doch wissen wir weniger über sie als<br />

über ferne Planeten. Nur die oberen Schichten<br />

sind von Licht durchdrungen, darunter herrscht<br />

ewige Finsternis – und rätselhaftes Leben. Laut<br />

Colin Devey vom IFM-GEOMAR kennen wir »grob<br />

über zehn Prozent <strong>des</strong> Meeresbodens«, genau<br />

kennen wir »unter ein Prozent«.<br />

Der Bestsellerautor Frank Schätzing hat die Reihe<br />

präsentiert. Mit ihm könnte man bei einem Kölsch<br />

in seiner Heimatstadt sicher viele populärwis-


senschaftliche Fernsehsendungen erfinden. Aber<br />

hier war <strong>der</strong> Stoff bereits greifbar. Schätzing<br />

hatte den Schwarm und danach die Nachrichten<br />

aus dem unbekannten Universum vorgelegt, eine<br />

engagiert erzählte Geschichte <strong>der</strong> Ozeane. Bei<strong>des</strong><br />

eignete sich wun<strong>der</strong>bar als Spiritus rector, als<br />

Impulsgeber <strong>des</strong> Fernsehevents. Sein Wissen,<br />

sein beson<strong>der</strong>er Tonfall, seine Erzählkunst kamen<br />

zusammen mit unserer Kompetenz, plastische<br />

Bil<strong>der</strong>welten zu entwerfen. Wir mussten stark auswählen<br />

– die ozeanische Inhaltsfülle seiner Bücher<br />

ließ sich nicht im Min<strong>des</strong>ten abbilden, aber den<br />

Spirit zu erfassen, das ging schon. Sein Debut als<br />

TV-Mo<strong>der</strong>ator hatte Schätzing 2007 mit dem internationalen<br />

ZDF-Dreiteiler »2057« über die Welt<br />

<strong>der</strong> Zukunft gegeben. Gerade bei den Themen<br />

Zukunft (siehe auch seinen Roman Limit 2009)<br />

und Ozeane ist Schätzing ein beson<strong>der</strong>s authentischer,<br />

da extrem kenntnisreicher Vermittler. Seine<br />

erzählerische Umsetzung von Wissenschaft ist<br />

exakt die Vorgehensweise von »Terra X«.<br />

»Universum <strong>der</strong> Ozeane« reflektiert Erdgeschichte,<br />

Forschungsentwicklung und immer auch unser<br />

Verhalten dem Meer gegenüber, das größtenteils<br />

ausbeuterisch geworden ist. So wie Schätzing die<br />

Zukunft nicht als unentrinnbares Schicksal sieht,<br />

son<strong>der</strong>n als einen gestaltbaren Raum, den <strong>der</strong><br />

Mensch endlich positiv nutzen muss, so verlangt<br />

er vom Menschen neue moralische Anstrengungen<br />

dem Meer gegenüber, um dadurch mit<br />

unseren Vorgehensweisen das Element nicht nur<br />

negativ zu verän<strong>der</strong>n. Die Meere sind gnadenlos<br />

überfischt, <strong>der</strong> lukrative Thunfisch vom Aussterben<br />

bedroht, <strong>der</strong> Hai zunehmend hingeschlachtet, da<br />

seiner Flossen beraubt für angeblich die Manneskraft<br />

stärkende Haifischsuppen. Das wurde<br />

im Dreiteiler genauso thematisiert wie die Ölkatastrophe<br />

im Golf von Mexiko, denn ohne eine<br />

Berücksichtigung dieser Jahrhun<strong>der</strong>tkatastrophe<br />

im Tiefseebergbau darf keine Meeresbilanz mehr<br />

auskommen. Wie sehr die Meere den Menschen<br />

beschäftigen, spiegelte sich auch in <strong>der</strong> großen<br />

Bestürzung, mit <strong>der</strong> die Weltöffentlichkeit Anteil<br />

an <strong>der</strong> Katastrophe im Golf von Mexiko nahm.<br />

Hoffentlich erweist sich diese Katastrophe nicht<br />

als Menetekel, son<strong>der</strong>n ist <strong>der</strong> Schock, <strong>der</strong> zum<br />

Umdenken zwingt.<br />

So erwies sich »Universum <strong>der</strong> Ozeane« nicht<br />

nur als ein faszinieren<strong>des</strong> Stück Naturfernsehen,<br />

son<strong>der</strong>n auch als eine journalistische, kritische<br />

Betrachtung <strong>des</strong> Zustands, in dem dieser Lebensraum<br />

sich befindet. Aus diesem Grund haben wir<br />

uns beson<strong>der</strong>s in Teil eins mit dem großen Forschungsprojekt<br />

»Census of marine life« befasst,<br />

das im Jahr 2000 ins Leben gerufen wurde und<br />

im Sommer 2010 erste Ergebnisse veröffentlichte.<br />

Rund 2 000 Forscher haben eine Art Volkszählung<br />

<strong>der</strong> Lebewesen <strong>der</strong> Meere unternommen, <strong>der</strong><br />

Tiere und Pflanzen – mit den globalen Wan<strong>der</strong>bewegungen<br />

von Fischen, Haien und Walen,<br />

Nur wer fasziniert ist, lernt auch<br />

I 67<br />

Frank Schätzing berichtet über<br />

das Leben im Ozean. Das<br />

Floß und das haiverseuchte<br />

Gewässer sind vom Computer<br />

zusammengesetzt<br />

Volkszählung in den Ozeanen:<br />

Je<strong>des</strong> Lebewesen in den<br />

Weltmeeren wird fotografiert und<br />

katalogisiert


Frank Schätzing katapultiert sich<br />

in die ferne Erdvergangenheit,<br />

als eine drei Kilometer dicke<br />

Eisschicht den Planeten überzog<br />

Vor viereinhalb Milliarden Jahren<br />

kam es auf <strong>der</strong> Erdumlaufbahn<br />

zum Crash: Die Erde stieß mit<br />

ihrem Schwesterplaneten Theia<br />

zusammen. Theia überstand die<br />

Katastrophe nicht, ihre Reste vergrößerten<br />

die Erde und bildeten<br />

den Mond<br />

68 I<br />

akribisch, mit mo<strong>der</strong>nsten Forschungsmethoden<br />

– ein gigantisches Projekt. Natürlich kann<br />

die Erkenntnishöhe mo<strong>der</strong>ner Naturwissenschaft<br />

nicht unmittelbar ins Fernsehen übersetzt werden,<br />

auch weil Verständlichkeit und Zugänglichkeit<br />

nicht das primäre Ziel von Forschung sind. Doch<br />

die Forscher zu zeigen und ein Gefühl für ihre<br />

Arbeit zu schaffen, ist uns immer wie<strong>der</strong> ein Anliegen.<br />

Und so war unsere Kamera live dabei, als <strong>der</strong><br />

Tauchroboter <strong>des</strong> deutschen Forschungsschiffs<br />

Meteor in 3 000 Metern Tiefe die heißen Schlote<br />

<strong>der</strong> schwarzen Raucher messen konnte: 407 Grad<br />

Celsius, so heißes Wasser wie hier am so genannten<br />

Drachenschlund wurde noch nirgends auf <strong>der</strong><br />

Welt gemessen, einer <strong>der</strong> magischen Momente in<br />

unserem Dreiteiler.<br />

»Universum <strong>der</strong> Ozeane« (Gruppe 5 Filmproduktion<br />

Köln, Regie Stefan Schnei<strong>der</strong>) ist eine<br />

internationale Koproduktion, für die wir ARTE und<br />

National Geographic US als Partner gewinnen<br />

konnten. Fast drei Millionen Euro stecken in dem<br />

Projekt, das entspricht dem Minutenpreis eines<br />

gut ausgestatteten deutschen Fernsehfilms. Das<br />

sieht man dem Programm auch an. Ich bin <strong>der</strong><br />

festen Überzeugung, dass die Weltmeere und die<br />

Wissenschaft im Fernsehen diese finanzielle Zuwendung<br />

verdient haben. Wir haben vor einigen<br />

Jahren damit begonnen, beson<strong>der</strong>e »Terra X«-<br />

2010.Jahrbuch<br />

<strong>Programme</strong> mit großem Aufwand zu produzieren,<br />

ähnlich dem Product Value von Show und Fiktion,<br />

und diese Neuorientierung und Nobilitierung im<br />

Genre <strong>der</strong> Bildungsdokumentation hat sich wahrlich<br />

bezahlt gemacht. Dazu gehört auch, dass die<br />

aufwändigen Computeranimationen inzwischen<br />

am Fernsehstandort Deutschland entstehen, noch<br />

vor einigen Jahren waren wir gezwungen, die CGI-<br />

Sequenzen in England produzieren zu lassen.<br />

Unsere »Terra X«-<strong>Programme</strong> am Sonntagabend<br />

sollen nicht allein die akademische Elite ansprechen,<br />

son<strong>der</strong>n vor allem jene, die sich (weiter-)<br />

bilden wollen. Vermitteln, Gestalten und Erinnern<br />

von Weltbildung ist Kultur, wie wir sie interpretieren.<br />

»Terra X« ist Primetime-Femsehen, mit<br />

großer Wertschätzung beim Publikum und einer<br />

beson<strong>der</strong>s hohen Akzeptanz beim jungen Publikum.<br />

Wir hatten gerade im Jahr 2010 mit den<br />

Reihen »Superbauten«, »Deutschland von oben«<br />

und »Universum <strong>der</strong> Ozeane« spektakulär viele<br />

Zuschauer, teilweise über fünf Millionen. Manche<br />

wun<strong>der</strong>t noch immer, wie überaus erfolgreich Bildungsfernsehen<br />

heute sein kann.<br />

»Bildungsfernsehen, das nicht unterhält, ist nicht<br />

akzeptabel.« Das sagte mir einmal ein hoch angesehener<br />

Kulturredakteur <strong>der</strong> BBC. Unsere Losung<br />

dazu lautet: Nur wer fasziniert ist, lernt auch.


Deutschland – Die neue Liebe zum eigenen Land und »Terra X«<br />

Es mag son<strong>der</strong>bar klingen, den Trend zu<br />

deutschen Themen bei »Terra X« und im<br />

Dokumentargenre mit einem Rundblick in<br />

die Welt zu veranschaulichen. Aber es hilft<br />

weiter. Der Fokus auf »Home Sweet Home«<br />

im Fernsehen ist ein internationales Phänomen:<br />

Doch das Interesse an heimischen<br />

Gefilden und nationaler Geschichte eint das<br />

globale Publikum nur scheinbar, denn die<br />

Beweggründe <strong>der</strong> Sen<strong>der</strong>vertreter wie <strong>der</strong><br />

Zuschauer aus den verschiedenen Kulturkreisen<br />

sind so unterschiedlich wie die Titel ihrer<br />

Lieblingssendungen.<br />

Auszug aus einem Gespräch mit den Kollegen<br />

vom National Geographic Channel:<br />

»An was wird in Amerika momentan gearbeitet,<br />

was läuft gut, hat die besten Quoten im<br />

Doku-Bereich?«<br />

»Factual Entertainment, nach wie vor. Die härtesten<br />

Trucker, die waghalsigsten Fischer, die verwegensten<br />

Antiquitätensucher und Selbstversuche aller<br />

Art. Wir machen immer weniger Dokumentationen<br />

ohne Erlebnisfaktor.«<br />

»Und wo soll <strong>der</strong> Erlebnisfaktor eingefangen werden<br />

– rein geografisch?«<br />

»Das amerikanische Publikum will amerikanische<br />

Protagonisten in amerikanischer Umgebung.«<br />

Na, klar: Je näher die eigene Lebenswirklichkeit<br />

abgebildet wird, umso besser. Auf diese Formel<br />

können sich alle Programm-Macher <strong>der</strong> Welt<br />

sicher einigen. Aber die Erzählformen und dramaturgischen<br />

Vorlieben unterscheiden sich in den<br />

unterschiedlichen Län<strong>der</strong>n fundamental: Amerikanische<br />

Autoren präsentieren die Resultate ihrer<br />

Arbeit am liebsten marktschreierisch direkt am<br />

Anfang, während wir Deutschen uns die Ergebnisse<br />

gerne bis zum Ende aufsparen – wir lieben<br />

eben in allen Genres den Krimi. In England stellt<br />

sich die Frage nicht, Hauptsache, das Programm<br />

ist zu je<strong>der</strong> Zeit möglichst unterhaltsam. Für die<br />

Franzosen kann es wie<strong>der</strong>um nicht originell genug<br />

sein, was eine Zusammenarbeit mit den Kollegen<br />

aus den Vereinigten Staaten fast unmöglich<br />

macht, denn die Amerikaner setzen vor allem auf<br />

Fakten mit Abenteuer. Und noch eine Hürde liegt<br />

im Weg: Wenn die amerikanischen Dokuersteller<br />

beispielsweise an ihr Publikum denken, dann<br />

haben sie vor allem jüngere Männer vor Augen,<br />

während in <strong>der</strong> Alten Welt auch die Älteren angesprochen<br />

werden sollten.<br />

Treffen mit den Kollegen vom History Channel:<br />

»Wie sind die Gestaltungskriterien für die Dokus<br />

vom History Channel?«<br />

»Schnell geschnitten, schnell zum Punkt, viele<br />

Rekapitulationen.«<br />

»Was bleibt noch für Koproduktionen?«<br />

»Wenn wir etwas Klassisches finden, dann gerne,<br />

möchte man denn in Deutschland etwas aus<br />

Ägypten, Südamerika o<strong>der</strong> Wildlife-<strong>Programme</strong><br />

sehen?«<br />

Die Antike, Archäologie und Naturprogramme –<br />

das war traditionell <strong>der</strong> gemeinsame Nenner,<br />

Deutschland – Die neue Liebe zum eigenen Land und »Terra X«<br />

I 69<br />

Alexan<strong>der</strong> Hesse<br />

Hauptredaktion Kultur und<br />

Wissenschaft, Redaktionsleiter<br />

Geschichte und Gesellschaft<br />

»Superbauten – Schloss Neuschwanstein«:<br />

König Ludwig II.<br />

(Jon G. Goldsworthy, links)<br />

überwacht jeden Bauabschnitt<br />

seines Schlossbaus


»Deutschland von oben«: Das<br />

Münchner Oktoberfest bei Nacht<br />

Hallig Nordstrand in <strong>der</strong> Nordsee<br />

70 I<br />

wenn es um kostenattraktive internationale Koproduktionen<br />

ging. Aber die Schnittmengen werden<br />

kleiner – für alle. Denn wenn Amerikaner beispielsweise<br />

kühne Regionen als Drehorte suchen, dann<br />

bleiben sie mittlerweile zuhause, es ist ja abenteuerlich<br />

genug zwischen Alaska (Eispanzer, noch)<br />

und dem Golf von Mexiko (Ölteppich, wie<strong>der</strong>). Die<br />

Briten begnügen sich im Natursektor mit verfilmten<br />

Bil<strong>der</strong>büchern – wir aber nicht! Die Franzosen<br />

setzen weiterhin auf opulente Dokudramen, die<br />

hierzulande wie in England und Amerika schon<br />

lange nicht mehr en vogue sind. Grundsätzlich<br />

will je<strong>der</strong> Partner bei gemeinsamen Projekten den<br />

Ton angeben und den Bezug zu seiner Heimat<br />

hergestellt wissen – und da ist <strong>der</strong> Produktionsort<br />

natürlich ein großer Verhandlungspunkt. So wie<br />

die Auswahl <strong>der</strong> Experten. Keine Koproduktion<br />

ohne Gefeilsche, wer wie viele muttersprachliche<br />

O-Ton-Geber bekommt. Keine Koproduktion ohne<br />

Gerangel, wo welche Umschaltpunkte bedient<br />

werden müssen. Keine Koproduktion ohne Gezerre<br />

um »Look and Feel« für seinen Slot.<br />

Gedächtnisprotokoll <strong>des</strong> Gesprächs mit <strong>der</strong> BBC:<br />

»Welches Dokuprogramm läuft im UK, das beson<strong>der</strong>s<br />

auffällig ist?«<br />

»Unsere Premiumprogramme aus dem Naturbereich.<br />

Aber auch ›Digging for Britain‹.«<br />

»Digging for Britain?«<br />

»Alle wichtigen archäologischen Ausgrabungen in<br />

England werden besucht, sehr jung.«<br />

2010.Jahrbuch<br />

»Mo<strong>der</strong>iert o<strong>der</strong> unmo<strong>der</strong>iert?«<br />

»Mo<strong>der</strong>iert: Eine 37-jährige Journalistin führt durchs<br />

Programm. Auch mo<strong>der</strong>iert: Unsere ›Story of England‹<br />

Michael Woods, ein bekannter Historiker, erklärt<br />

anhand eines Dorfes in Leicestershire die gesamte<br />

Geschichte Englands. Sehr erfolgreich!«.<br />

Mo<strong>der</strong>iert o<strong>der</strong> unmo<strong>der</strong>iert – die Frage steht<br />

immer am Anfang einer möglichen Zusammenarbeit.<br />

Das präsentierte Programm hat auch bei<br />

uns, bei »Terra X«, Karriere gemacht: Maximilian<br />

Schell entführt in die märchenhafte »Imperium«-<br />

Reihe, Sebastian Koch hat die »Superbauten«<br />

erklärt, Frank Schätzing das »Universum <strong>der</strong> Ozeane«.<br />

Und Dirk Steffens nimmt die Zuschauer bei<br />

den talentierten Tieren und faszinierenden Orten<br />

an die Hand. Mit Mo<strong>der</strong>atoren werden Dokus episodenhafter,<br />

direkter und persönlicher – aber bleiben<br />

in <strong>der</strong> Regel unverkäuflich. Je<strong>des</strong> Land hat für<br />

den Job vor <strong>der</strong> Kamera seine eigenen Helden,<br />

und nur in seltenen Fällen schaffen wir es, zwei<br />

Mo<strong>der</strong>atoren aus zwei Län<strong>der</strong>n durch die gleichen<br />

Sets zu schleusen (so wie Thomas Reiter und sein<br />

BBC-Pendant Iain Stewart für »Terra X: Expedition<br />

Erde« beziehungsweise »Power of the Planet«).<br />

Aber <strong>der</strong> große Vorteil von mo<strong>der</strong>ierten Dokus<br />

neben den kürzeren Aufmerksamkeitsspannen:<br />

Egal, wo und wie <strong>der</strong> Berichtsgegenstand liegt,<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ator ist einer von »uns« und sorgt für<br />

den Bezug zu seinen Landsleuten und für die<br />

Einordnung in »unser« Wertesystem.


Kaum ein Sen<strong>der</strong>, <strong>der</strong> momentan nicht auf die Geschichte<br />

und Kultur <strong>des</strong> eigenen Lan<strong>des</strong> schaut<br />

und – damit gar keine Zweifel aufkommen – die<br />

Verortung oft deutlich im Titel herausstreicht:<br />

»Story of England«, »History of Britain« (BBC),<br />

»America – The History of Us« (History Channel),<br />

»Die Deutschen«, »Deutschland von oben« – auch<br />

wir haben mit den Geschichten vor <strong>der</strong> eigenen<br />

Haustür viele Zuschauer gewonnen. Ob »Limes«<br />

o<strong>der</strong> die »Superbauten«, »Rungholt« o<strong>der</strong> »Deutsche<br />

Hanse«: Der Zauber hat sich nach und nach<br />

von den exotischen und mythischen Plätzen <strong>der</strong><br />

Welt auf den heimischen Kulturkreis gelegt. Terra<br />

Deutschland als spannende Terra Inkognita. Die<br />

Welt scheint weitestgehend ausgeleuchtet zu sein:<br />

Fernreisen sind längst zur Normalität geworden;<br />

im Amazonas-Regenwald gibt es komfortable<br />

Führungen; Passagierschiffe fahren fast bis zum<br />

Nordpol und in die Antarktis; und die Olympische<br />

Flagge war neulich auch auf dem Mount Everest.<br />

Es lebe das Heimat-TV!<br />

Treffen mit France Télévisions:<br />

»Was waren in Frankreich im Dokusegment die<br />

Hits?«<br />

»Hochwertige Geschichts-Dokumentationsdramen<br />

wie »Versailles«, »Les Rois Maudits«<br />

(über französische Könige <strong>des</strong> 14.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts). O<strong>der</strong> auch »Die französischen<br />

Küsten«.<br />

»Was ist neu?«<br />

»Immer mehr Hosts im Programm.«<br />

»Wie lauten denn die thematischen Kriterien?«<br />

»Wir fragen bei je<strong>der</strong> Akquisition: Was ist relevant<br />

für unsere Zuschauer? Wie berührt es unser Publikum?<br />

Was hat es mit unserer Identität, mit unserer<br />

Gemeinschaft und mit unserem Kulturkreis zu<br />

tun?«<br />

Warum also allenthalben die neue Lust am eigenen<br />

Land? Ist es die Gegenbewegung zu<br />

vermehrt rational motivierten politischen Gemeinschaften,<br />

wirtschaftlichen Bündnissen und erdumspannen<strong>der</strong><br />

Kommunikation? Führen ähnliche<br />

Wertewünsche, vereinheitlichte Stadtbil<strong>der</strong> und<br />

<strong>der</strong> Spagat zwischen globalem Denken, aber<br />

zwangsläufig lokalem Fühlen, zur Renaissance<br />

<strong>der</strong> Regionen? Und bekommen die historischen<br />

Spuren eines Volkes gerade in wirtschaftlichen<br />

Krisenzeiten ein an<strong>der</strong>es Gewicht, weil sich die<br />

ökonomische Unsicherheit Haltepunkte sucht?<br />

In Deutschland musste sich über ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

eine neue nationale Identität entwickeln,<br />

<strong>der</strong> Zweite Weltkrieg aufgearbeitet werden, auch<br />

mit Hun<strong>der</strong>ten Dokumentationen, bis <strong>der</strong> Patient<br />

schließlich reif war für frühere Verabredungen mit<br />

<strong>der</strong> Geschichte. Nach Wie<strong>der</strong>vereinigung und<br />

Fußball-WM im eigenen Land (bis heute gilt <strong>der</strong><br />

4. Juli 1954 – <strong>der</strong> Tag, an dem Deutschland zum<br />

ersten Mal Fußballweltmeister wurde – als eine Art<br />

»inoffizielle« Geburtsstunde <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>republik)<br />

Deutschland – Die neue Liebe zum eigenen Land und »Terra X«<br />

I 71<br />

»Deutschland von oben«: Der<br />

Leuchtturm von Westerhever<br />

Solaranlage Lieberose in<br />

Brandenburg


72 I<br />

scheint das Interesse an den eigenen Wurzeln<br />

und Landschaften größer denn je. Denn nur<br />

<strong>der</strong> freimütige Blick in die Vergangenheit erklärt<br />

– durch Läuterungen und Lehren – das Hier<br />

und Jetzt.<br />

»Wir sind, was Ihr gewesen seid; wir werden<br />

sein, was Ihr seid«, besangen schon die Spartaner<br />

ihre Verbindung zur Ahnenwelt und zum<br />

Vaterland. Hierzulande ist nach wenig Ruhm und<br />

viel Reue ein neues Selbstverständnis entstanden.<br />

Etwas, dem wir mit <strong>der</strong> enormen Resonanz<br />

an den deutschen Themen bei »Terra X« gerne<br />

entgegenkommen.<br />

2010.Jahrbuch<br />

Treffen mit NHK (Japan):<br />

»Welche Themen wollen denn die Japaner<br />

sehen?«<br />

»Alles, was im Weltall spielt. Der Kosmos fasziniert<br />

unsere Zuschauer.«<br />

»Tatsächlich? Keine eigene Geschichte und<br />

Regionen?«<br />

»Nein, nein. Momentan nicht.«<br />

»Das Weltall-Programm ist ja schließlich genau das<br />

Gegenteil von nah und national.«<br />

»Ja, die Dinge sind in Bewegung – ständig. Wenn<br />

man glaubt, die Themen-Golda<strong>der</strong> gefunden zu<br />

haben, sollte man schon längst an die nächste<br />

denken.«


Miles & More<br />

Bildungsfernsehen für alle<br />

Wissensvermittlung im Fernsehen kann viele<br />

Wege gehen. Der von »Faszination Erde«<br />

führt in je<strong>der</strong> Staffel rund um den ganzen<br />

Planeten. Das kostet Zeit, Geld und Nerven.<br />

Warum also machen wir das eigentlich?<br />

Es ist gut gelaufen: Ein Dutzend gebrochene<br />

Gesichtsknochen in Griechenland, ein rätselhaftes<br />

Tropenfieber in Ruanda, ein Bärenangriff in<br />

Alaska, ein gefräßiger Darmparasit in Indonesien<br />

und Montezumas Rache in Mexiko. Nach fast<br />

drei Jahren als reisen<strong>der</strong> »Terra X«-Mo<strong>der</strong>ator, vor<br />

allem für »Faszination Erde«, aber auch für »Expedition<br />

Erde«, habe ich meinen Job so richtig lieben<br />

gelernt. So was kann passieren, die Ganz-weitweg-Doku<br />

birgt halt ganz beson<strong>der</strong>e Gefahren.<br />

Aber ebensolche Chancen.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e »Faszination Erde« kann aus einem<br />

Themenpool schöpfen, <strong>der</strong> so groß ist wie die<br />

Welt. Buchstäblich. Das Format ist eine Art naturwissenschaftlicher<br />

Reiseführer, <strong>der</strong> die Zuschauer<br />

in die entlegensten Winkel unseres Planeten mitnimmt<br />

und ihnen fakultätsübergreifend erstaunliche<br />

Zusammenhänge erläutert: Polynesische<br />

Entdecker, die dank <strong>des</strong> El-Niño-Effektes die<br />

halbe Welt umsegeln; Spinnen, die im Jetstream<br />

tiefgefroren neuentstandene Inseln anfliegen; tektonische<br />

Plattenkollisionen und Erdauffaltungen,<br />

denen die japanische Küche ihre ausgefallenen<br />

Rezepte verdankt.<br />

Dass »sowas von sowas« kommt, scheint das<br />

Publikum genauso zu faszinieren wie uns, die Macher<br />

<strong>des</strong> Programms. Die Resonanz ist erfreulich,<br />

hervorragend sogar, auch die beim jüngeren Publikum.<br />

Wissenschaft macht Quote! Dabei pflegen<br />

die zuständigen Redakteurinnen und Redakteure<br />

ein geradezu anachronistisches Berufsverständ-<br />

nis: Sie führen endlose Diskussionen über Inhalte,<br />

Fakten und Forschungsergebnisse, weigern sich<br />

standhaft, die Realität zu »scripten« und schöpfen<br />

ihre Themenideen nicht aus BILD und Gala,<br />

son<strong>der</strong>n aus biologischen, historischen o<strong>der</strong> geologischen<br />

Wissenschaftspublikationen. Es gibt<br />

ein Wort für diese Art <strong>der</strong> Fernsehmacherei, und<br />

es ist kein schönes. Sprechen wir es dennoch<br />

aus: Wir machen Bildungsfernsehen! Igitt! Und<br />

weil es so fürchterlich klingt, gleich nochmal, und<br />

jetzt bitte jede einzelne Silbe betonen: Bil-dungsfern-se-hen!<br />

Das hört sich so sexy an wie Zahnschmerz<br />

o<strong>der</strong> Fußpilz, so zielgruppentauglich wie<br />

Treppenliftwerbung o<strong>der</strong> Heizdeckenreklame; es<br />

klingt nach staubigem Schulfernsehen, langweiliger<br />

Besserwisserei und professoraler Überheblichkeit.<br />

Deshalb müsste das Konzept von »Faszination<br />

Erde« – die Verknüpfung wissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse verschiedener Fakultäten in einem<br />

regionalen Rahmen – eigentlich ein sicherer Garant<br />

für immer neue Abschaltrekorde sein. Ist<br />

es aber nicht. Dafür gibt es sicher verschiedene<br />

Gründe, etwa die Einbettung in die Erfolgsreihe<br />

»Terra X«, aber drei Zutaten, die im Rezeptbuch<br />

<strong>der</strong> Formatköchinnen und -köche stehen, möchte<br />

ich beson<strong>der</strong>s hervorheben, weil sie unsere exotische<br />

Dokumentationsreihe schmackhaft und bekömmlich<br />

machen:<br />

Authentizität<br />

Nach zwei Jahrzehnten »Globetrotting« weiß ich:<br />

Reisen bildet nicht! Aber man lernt eine Menge.<br />

Zum Beispiel, wie man die Kotztüte in einem<br />

Kleinflugzeug benutzt, während <strong>der</strong> übermütige<br />

Buschpilot die Gesetze <strong>der</strong> Flugphysik empirisch<br />

überprüft (gar nicht!); dass die Seekrankheit tatsächlich<br />

grün im Gesicht macht (auch gelb!);<br />

wie eine auf offenem Feuer gegrillte Vogelspinne<br />

schmeckt (wie Shrimps!); o<strong>der</strong> wie man den Ge-<br />

Miles & More<br />

I 73<br />

Dirk Steffens<br />

Redaktion Naturwissenschaft und<br />

Technik, Mo<strong>der</strong>ator verschiedener<br />

Wissenschaftssendungen im ZDF


»Steffens entdeckt«: Ein halb<br />

betäubtes, wil<strong>des</strong> Nashorn wird<br />

für den Transport vorbereitet<br />

74 I<br />

ruch von Tigerpipi aus dem Mo<strong>der</strong>ationshemd<br />

entfernt (verbrennen!). So was lernt man. Jede<br />

Menge nutzloses Zeug also. Wer sich tatsächlich<br />

bilden möchte, darf sich keinesfalls aufs Reisen<br />

beschränken. Recherche ist gefor<strong>der</strong>t. Man muss<br />

dafür lange Wege gehen, viele Leute treffen und<br />

noch mehr Fragen stellen. Das ist meistens lästig,<br />

oft anstrengend, manchmal zermürbend. Aber es<br />

lohnt sich immer.<br />

Natürlich ist die Frage berechtigt, ob es eigentlich<br />

vernünftig ist, so viel Zeit und Geld in aufwändige<br />

Drehs vor Ort zu stecken. Wir leben ja schließlich<br />

in einem Jahrzehnt, in dem jede Doktorarbeit,<br />

je<strong>der</strong> Forschungsbericht, je<strong>des</strong> Studienergebnis<br />

nur einen Mausklick weit entfernt ist; in dem Webcams<br />

Wildtiere auf den heimischen Schreibtisch<br />

zaubern und Wikipedia zu allem und jedem die<br />

nötigen Informationen bereithält. Warum sollte<br />

man also in dieser mo<strong>der</strong>nen und vernetzten Welt<br />

endlose Stunden in Flugzeugen, Kleinbussen<br />

und Booten verbringen? Warum reiben sich die<br />

Kollegen auf im Kampf mit fernen Bürokratien,<br />

beschaffen Drehgenehmigungen, führen Übergepäckverhandlungen,<br />

kümmern sich um Impfungen,<br />

Expeditionsvorbereitungen, Dolmetscher<br />

und Stringer? Warum gehen sie das Risiko ein,<br />

mit ihrem Dreh zu scheitern, weil Wetterkapriolen,<br />

politische Unruhen, Flugausfälle, Reifenpannen,<br />

wilde Tiere, Krankheiten, Überfälle, Vulkanausbrüche<br />

o<strong>der</strong> ein korrupter Zollbeamter jede auch<br />

2010.Jahrbuch<br />

noch so akribische Vorbereitung in einer einzigen<br />

Sekunde zunichte machen könnten?<br />

Ich bin davon überzeugt, dass Zuschauer ihre<br />

Entscheidung, ob sie einem Programm und auch<br />

<strong>des</strong>sen Präsentator vertrauen, ob sie ihm ihre Zeit<br />

schenken, überwiegend emotional treffen. Vermitteln<br />

muss sich daher unter an<strong>der</strong>em das Gefühl:<br />

Diese Sendung, dieser Film und auch dieser<br />

Mo<strong>der</strong>ator, die nehmen mich ernst. Die belehren<br />

nicht, die interessieren sich. Und vor allem: Die<br />

wissen auch wirklich, wovon sie reden, die sind<br />

da, vor Ort, die haben nachgefragt und das alles<br />

nicht nur »gegoogelt« (das kann <strong>der</strong> Zuschauer<br />

nämlich selbst!). Die sind tatsächlich auf den<br />

Vulkan gestiefelt, haben die Schlange wirklich in<br />

<strong>der</strong> Hand gehalten, sind mit Haien getaucht, in die<br />

Gletscherspalte gekrochen und auf den riesigen<br />

Baum im Regenwald geklettert. Deshalb wissen<br />

die, wie heiß es da oben ist, wie giftig die Injektion,<br />

wie bissig <strong>der</strong> Raubfisch, wie brüchig das<br />

Eis und wie unerforscht das Blätterdach ist. Und<br />

<strong>des</strong>halb können sie dieses Wissen auch noch mit<br />

persönlichen Erfahrungen anreichern. Das schafft<br />

Authentizität und damit Glaubwürdigkeit. Das ist<br />

unersetztlich.<br />

Kompetenz<br />

Ich leide regelmäßig unter dem Gefühl, ein bisschen<br />

dämlich zu sein. Nun sind Selbstzweifel<br />

grundsätzlich ja nichts Schlechtes, aber wenn<br />

man Mo<strong>der</strong>ator einer Wissenschafts-Dokumentationsreihe<br />

ist, dann darf sowas auch nicht überhandnehmen.<br />

Schuld an meiner Verunsicherung<br />

sind natürlich die lieben Kollegen in München:<br />

Ich kann zum Beispiel nicht erschöpfend aus<br />

dem Stegreif erklären, warum <strong>der</strong> durch Vulkanismus<br />

hoch gehaltene Phosphorgehalt <strong>des</strong><br />

Serengeti-Grases die jährliche Wan<strong>der</strong>ung von<br />

an<strong>der</strong>thalb Millionen Gnus triggert; wie genau das<br />

Ortungssystem im Gehirn <strong>der</strong> Meeresschildkröten<br />

funktioniert, mit <strong>des</strong>sen Hilfe die Tiere auch<br />

Jahrzehnte nach ihrer Geburt noch exakt an den


Strand zurückfinden, an dem sie einst aus dem Ei<br />

geschlüpft sind; o<strong>der</strong> in welcher Form <strong>der</strong> siebenjährige<br />

Rhythmus <strong>des</strong> Klimaphänomens »El Niño«<br />

die Besiedlungsgeschichte Ozeaniens durch die<br />

Polynesier beeinflusst haben könnte. Sorry, aber<br />

ich muss sowas erstmal nachschlagen. Und wenn<br />

Sie das vor einer Themenkonferenz von »Faszination<br />

Erde« nicht tun, dann ist das Mist, das kann<br />

ich Ihnen sagen!<br />

Denn wenn Sie sich ohne solche Kenntnisse<br />

dorthin wagen, dann sehen Sie nach ein paar Minuten<br />

ziemlich alt aus, alle verdrehen genervt die<br />

Augen und fangen an, mit Ihnen zu sprechen wie<br />

mit einem Vorschulkind: »Schau mal Dirk, es ist<br />

doch ganz einfach zu verstehen ....«. Das wissen<br />

die doch nur, weil sie es gerade selbst irgendwo<br />

gelesen haben, versuche ich mich dann zu beruhigen.<br />

Aber eigentlich ist das schnuppe, denn<br />

wichtig für die Sendung ist nur, dass sie es wissen<br />

– und nicht seit wann! So ein Faktenhunger<br />

führt letztlich zu einem wahren Fakten-Feuerwerk<br />

in <strong>der</strong> Sendung. In einem einzigen Halbsatz von<br />

»Faszination Erde« werden manchmal Gedanken<br />

versendet, über die man auch einen kompletten<br />

Wissenschaftsfilm drehen könnte. Das kann man<br />

kritisieren, man kann es aber auch loben, denn es<br />

ermöglicht uns, zwei Rezeptions-Niveaus gleichzeitig<br />

zu bedienen. Zum einen erlauben die wuchtigen<br />

Bil<strong>der</strong> dem am Sonntagabend vielleicht noch<br />

durch Braten und Kuchen beschwerten Publikum<br />

eine eher lässige Rezeption, geprägt von einer<br />

trägen Verdauung und einem leichten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.<br />

Sie genießen einfach den<br />

schönen Film und das Gefühl, anstrengungsfrei<br />

vielleicht sogar noch den ein o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Wissenshappen aufzuschnappen. Gleichzeitig<br />

können aber auch die hyperaufmerksamen und<br />

wissensdurstigen Datenschlucker befriedigt werden,<br />

die mit viel Vorwissen einschalten und keine<br />

Lust haben, ihre Zeit mit Belanglosigkeiten zu<br />

verplempern. Diese Zielgruppe kann ziemlich anstrengend<br />

sein, und ich bin ausgesprochen froh<br />

darüber, eine Redaktion an <strong>der</strong> Seite zu haben,<br />

in <strong>der</strong> lauter kompetente Naturwissenschaftler die<br />

Themen abklopfen, bevor sie den Weg in unsere<br />

Sendung finden. Würden wir pfuschen, liefen uns<br />

die »Datenschlucker« davon. Natürlich lassen sich<br />

Fehler nie ganz vermeiden. Aber offenbar sind es<br />

nicht beson<strong>der</strong>s viele, denn das Format wird akzeptiert,<br />

es wird als kompetent und glaubwürdig<br />

wahrgenommen. Ein Verdienst <strong>der</strong> Kolleginnen<br />

und Kollegen in <strong>der</strong> Redaktion Naturwissenschaft<br />

und Technik. Danke, Leute! Und versprochen: Ich<br />

bereite mich auf die nächste Themenkonferenz<br />

wirklich ganz pedantisch vor!<br />

Unterhaltung<br />

Bernhard Grzimek, <strong>der</strong> für seinen in den 50er Jahren<br />

gedrehten Film »Serengeti darf nicht sterben«<br />

als erster Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

einen Oscar erhielt, hatte als Erfolgsrezept für<br />

Miles & More<br />

I 75<br />

Gymnastik mit einem Faultier.<br />

Dreharbeiten zu »Supertiere – mit<br />

Dirk Steffens« im Frankfurter<br />

Senckenbergmuseum<br />

Einträchtig schwimmen Dirk<br />

Steffens und ein Kartoffel-Zackenbarsch<br />

nebeneinan<strong>der</strong> her. Szene<br />

aus »Steffens entdeckt«


Dirk Steffens zeigt schickes<br />

Schuhwerk<br />

76 I<br />

Dokumentationen die Formel 70/30 formuliert.<br />

70 Prozent Unterhaltung und 30 Prozent Information!<br />

Nicht umgekehrt! So viel zu dem immer<br />

wie<strong>der</strong> vorgetragenen Sermon, früher seien die<br />

elektronischen Medien viel ernsthafter und glaubwürdiger<br />

gewesen. Das mag in <strong>der</strong> persönlichen<br />

Erinnerung <strong>des</strong> Einzelnen so scheinen – korrekt<br />

ist es aber nicht. Das ZDF war damals noch gar<br />

nicht gegründet, die »Tagesschau«, eine filmische<br />

Boulevardsendung ohne Sprecher, und investigative<br />

Reportagen, gab es gar nicht. Die Frühzeit<br />

<strong>der</strong> Wissenschafts- und Naturdokumentation war<br />

vor allem geprägt von dem ungebremsten Willen<br />

zu unterhalten, um ein möglichst großes Publikum<br />

vor die Mattscheiben o<strong>der</strong> in die Kinos zu locken.<br />

Hans Hass inszenierte seine komplette Reise<br />

mit <strong>der</strong> »Xarifa« wie einen Spielfilm, Walt Disney<br />

ließ die Wildnis zu lustiger Musik wild sein, Bernhard<br />

Grzimek verpackte seine Tiergeschichten in<br />

Spielszenen, in denen er und sein Sohn Michael<br />

als Hauptdarsteller fungierten.<br />

Dies folgt <strong>der</strong> Erkenntnis, dass es nicht ausreicht,<br />

einfach nur möglichst viele Fakten in eine Dokumentation<br />

zu quetschen. Man muss diese Fakten<br />

auch verdaubar aufbereiten, daher ist die Form<br />

<strong>der</strong> Wissensvermittlung von elementarer Bedeutung.<br />

Eine Sendung, die es nicht schafft, gleichzeitig<br />

informierend und emotional ansprechend<br />

zu sein, hat im mo<strong>der</strong>nen TV-Markt nur geringe<br />

Chancen. Das kann man bejubeln o<strong>der</strong> bejammern<br />

– än<strong>der</strong>n lässt es sich nicht.<br />

Grzimek baute in seine Filme bereits Re-Enactment-Elemente<br />

ein, als es diesen Begriff noch<br />

gar nicht gab. Heute ist »Terra X« im deutschen<br />

Fernsehmarkt führend darin, dieses Stilmittel zielgerichtet<br />

einzusetzen. Bei seiner später ausgestrahlten<br />

Reihe »Ein Platz für wilde Tiere« brachte<br />

<strong>der</strong> Frankfurter Zoodirektor immer ein Tier mit ins<br />

Studio und setzte ganz bewusst darauf, dass sich<br />

seine »Komo<strong>der</strong>atoren« während <strong>der</strong> Livesendung<br />

keineswegs an irgendein Drehbuch hielten,<br />

2010.Jahrbuch<br />

son<strong>der</strong>n jede Menge Unsinn verzapften. Genau<br />

diese Unberechenbarkeit machte den Reiz aus.<br />

Sie war unterhaltend! Ich kann mich noch heute<br />

lebhaft daran erinnern, wie begeistert ich als Kind-<br />

Zuschauer je<strong>des</strong> Mal war, wenn <strong>der</strong> Schimpanse<br />

nach seiner Brille grabschte o<strong>der</strong> während <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ation eine Raubkatze über den Schreibtisch<br />

schlich. Grzimeks Konzept war genauso einfach<br />

wie genial – und es reichte für drei Jahrzehnte und<br />

175 Folgen.<br />

Natürlich können wir diese alten Ideen nicht<br />

einfach kopieren, wir müssen uns schon selber<br />

etwas einfallen lassen. Aber das Prinzip bleibt<br />

gültig: Ein leichter, ein unterhalten<strong>der</strong> Rahmen ist<br />

die vielversprechendste Form, Bildungsfernsehen<br />

massenkompatibel zu gestalten – und das ist<br />

schließlich unser Programmauftrag: Bildungsfernsehen<br />

für alle! O<strong>der</strong> zumin<strong>des</strong>t für möglichst viele.<br />

Unterhaltung kann dabei viele Formen annehmen:<br />

Sie kann sich als Humor manifestieren o<strong>der</strong><br />

als formale Flappsigkeit. Sie kann in pompösen<br />

Bil<strong>der</strong>n, mit symphonischer Musik, in rasanten<br />

Schnitten, exklusiven Einstellungen und digitalen<br />

Animationen auftauchen. Sie kann aber auch als<br />

gewollte Spannung daherkommen, wie in einem<br />

Actionfilm. Das alles ist erlaubt, so lange wir<br />

die journalistischen Grundtugenden achten. »In<br />

<strong>der</strong> Form anarchisch, beim Inhalt pedantisch« –<br />

so gefällt mir persönlich Bildungsfernsehen am<br />

besten.


Bei »Faszination Erde« ist im Idealfall jede Mo<strong>der</strong>ation<br />

auch eine Aktion, in <strong>der</strong> ich stellvertretend<br />

für die Zuschauer Erfahrungen, Eindrücke und<br />

Erkenntnisse sammle. So soll Wissen sinnlich<br />

werden. Deshalb blickt mir beim Mo<strong>der</strong>ieren<br />

manchmal ein Grizzly über die Schulter, <strong>des</strong>halb<br />

erklären wir die Physik einer Magmakammer<br />

auf dem rauchenden Vulkan und die aerodynamischen<br />

Fähigkeiten eines Kondors während<br />

eines Gleitschirmfluges über den Ebenen Patagoniens.<br />

Authentizität, Kompetenz und Unterhaltung<br />

– dieser konzeptionelle Glaubens-Dreisatz<br />

steht hinter unseren zahlreichen Wissensdokus.<br />

Bei »Faszination Erde« ist das so, aber auch bei<br />

an<strong>der</strong>en Formaten, an denen ich mitwirken darf<br />

o<strong>der</strong> durfte. »Expedition Erde« zum Beispiel, die<br />

»Supertiere«, »Steffens entdeckt« o<strong>der</strong> »Natürlich<br />

Steffens!«.<br />

Denn wir wollen populär sein und bleiben, wir<br />

müssen es sogar, denn sonst wird es für dieses<br />

Genre in Zukunft noch schwieriger, sich gegen die<br />

wachsende Programmkonkurrenz zu behaupten.<br />

Und was wäre öffentlich-rechtliches Fernsehen<br />

ohne Wissenschaftsdokumentationen?<br />

Miles & More<br />

I 77


Hiltrud Fischer-Taubert<br />

Hauptredaktion Kultur und<br />

Wissenschaft, Redaktion<br />

»Menschen – das Magazin«<br />

Mit <strong>der</strong> Kampagne »Voll im Leben«<br />

zeigt »Aktion Mensch«, welche<br />

Barrieren Behin<strong>der</strong>te im Alltag<br />

überwinden müssen.<br />

78 I<br />

Zehn Jahre »Aktion Mensch«<br />

Neue Herausfor<strong>der</strong>ung: Inklusion<br />

Am 1. März 2000 wurde aus <strong>der</strong> »Aktion<br />

Sorgenkind« die »Aktion Mensch«. Ein mutiger<br />

Schritt, denn mehr als 90 Prozent <strong>der</strong><br />

Bevölkerung kannten diese Marke, und Marketing-Experten<br />

befürchteten erhebliche Einbußen<br />

bei Lotterieeinnahmen und Spenden<br />

nach einer Namensän<strong>der</strong>ung – und damit<br />

einen Rückgang <strong>der</strong> dringend benötigten<br />

För<strong>der</strong>mittel. Aber für die »Aktion Sorgenkind«<br />

war es ein notwendiger Schritt. Denn<br />

immer mehr Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung fühlten<br />

sich durch »Sorgenkind« reduziert auf<br />

Objekte von Mitleid und Fürsorge. Außerdem<br />

stand <strong>der</strong> Name zunehmend in Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zur konkreten finanziellen Unterstützung<br />

mit dem Ziel, Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu<br />

ermöglichen.<br />

Dabei war <strong>der</strong> Start <strong>der</strong> »Aktion Sorgenkind«<br />

im Oktober 1964 zunächst ein Tabubruch: Zum<br />

ersten Mal wurde eine Lotterie-Unterhaltungssendung<br />

(»Vergißmeinicht« mit Peter Frankenfeld)<br />

gekoppelt mit Spendenaufrufen für behin<strong>der</strong>te<br />

Kin<strong>der</strong>. Hans Mohl, damaliger Leiter <strong>der</strong> Gesundheitsredaktion,<br />

brachte das Leben behin<strong>der</strong>ter<br />

Menschen zum ersten Mal ins Bewusstsein einer<br />

2010.Jahrbuch<br />

breiten Öffentlichkeit. Der Auslöser, Behin<strong>der</strong>ung<br />

als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen, war<br />

die »Contergan-Katastrophe« (nach <strong>der</strong> Einnahme<br />

<strong>des</strong> Schlafmittels Contergan durch Schwangere<br />

wurden mehrere Tausend Kin<strong>der</strong> mit schweren<br />

Missbildungen geboren). Durch die Gründung<br />

eines Vereins 1966, getragen vom ZDF und sechs<br />

Spitzenverbänden <strong>der</strong> Freien Wohlfahrtspflege,<br />

wurde die »Aktion Sorgenkind« institutionalisiert.<br />

In den folgenden Jahrzehnten konnte durch langfristig<br />

angelegte För<strong>der</strong>ung mit den Einnahmen<br />

<strong>der</strong> Lotterie und zusätzlichen Spenden für Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ung vieles erreicht werden:<br />

Bildungschancen, Arbeitsmöglichkeiten, Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Wohnbedingungen. Gleichzeitig<br />

fand ein Paradigmenwechsel statt, Behin<strong>der</strong>ung<br />

nicht mehr als individuelles Defizit, son<strong>der</strong>n als<br />

eine Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Bedingungen<br />

zu sehen: »Behin<strong>der</strong>t ist man nicht,<br />

behin<strong>der</strong>t wird man«. Dieser Entwicklung wurde<br />

1995 mit <strong>der</strong> Kampagne »Ich will kein Mitleid,<br />

ich will Respekt« Rechnung getragen. Im neuen<br />

roten Logo stand jetzt »Aktion« im Vor<strong>der</strong>grund,<br />

das umstrittene »Sorgenkind« wurde deutlich zurückgenommen.<br />

1997 wurde auch Aufklärung als<br />

Vereinsziel verankert und die »Aktion Grundgesetz«<br />

für mehr politische Gleichstellung ins Leben<br />

gerufen – weil Barrieren in den Köpfen ebenso<br />

behin<strong>der</strong>n wie Barrieren im Alltag.<br />

Durch diese systematische Vorbereitung fand die<br />

Namensän<strong>der</strong>ung breite Akzeptanz, als es am<br />

1. März 2000 hieß: » Aus Hilfe wird Partnerschaft,<br />

aus Aktion Sorgenkind wird Aktion Mensch«.<br />

Gleichzeitig wurde die För<strong>der</strong>ung auf die Kin<strong>der</strong>-<br />

und Jugendhilfe erweitert. Die »Aktion Mensch«<br />

wurde zur erfolgreichsten privaten För<strong>der</strong>organisation,<br />

die bisher mit rund drei Milliarden Euro


Hilfe leisten konnte. Allein im Jahr 2009 wurden<br />

13 000 Projekte frei gemeinnütziger Organisationen<br />

mit 166 Millionen Euro unterstützt. Mehr<br />

als 4,5 Millionen Lotterieteilnehmer haben das<br />

ermöglicht.<br />

Aufklärung ist neben <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung sozialer Projekte<br />

ein Ziel <strong>der</strong> »Aktion Mensch«. Mit Maßnahmen<br />

wie dem BIENE-Award, <strong>der</strong> barrierefreie<br />

Internetseiten auszeichnet, <strong>der</strong> Initiative »1 000<br />

Fragen«, mit <strong>der</strong> eine bioethische Diskussion<br />

angestoßen wurde o<strong>der</strong> dieGesellschafter.de, die<br />

im Internet zur Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Frage<br />

»In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?«<br />

anregt, wird ein Diskurs über gesellschaftliche<br />

Fragen initiiert.<br />

»Inklusion« ist jetzt die Herausfor<strong>der</strong>ung für die<br />

»Aktion Mensch«. Die UN-Behin<strong>der</strong>tenrechtskonvention,<br />

die Anfang 2009 von Deutschland ratifiziert<br />

wurde und Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

ein Recht auf Teilhabe in allen gesellschaftlichen<br />

Bereichen gibt, muss schrittweise umgesetzt werden.<br />

Dazu gehört unter an<strong>der</strong>em das Recht auf<br />

den Besuch von Regelkin<strong>der</strong>gärten und -schulen<br />

für alle Kin<strong>der</strong> mit Behin<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong> Abbau von<br />

baulichen Barrieren und Alternativen zum Leben in<br />

großen Heimen. Eine große Aufgabe, denn Inklu-<br />

sion wird die soziale Landschaft in Deutschland<br />

in vielen Bereichen erheblich verän<strong>der</strong>n, und es<br />

werden hohe finanzielle Mittel benötigt.<br />

»Das Wir gewinnt« heißt es bei <strong>der</strong> »Aktion<br />

Mensch«. Mit seinem Engagement als Mitglied<br />

und Medienpartner <strong>der</strong> »Aktion Mensch« zeigt das<br />

ZDF in beson<strong>der</strong>er Weise soziale Verantwortung.<br />

ZDF-Intendant Markus Schächter ist Aufsichtsratsvorsitzen<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> »Aktion Mensch«. Im Kuratorium,<br />

das monatlich die För<strong>der</strong>mittel bewilligt, entscheiden<br />

Vertreter <strong>des</strong> ZDF mit über die Vergabe dieser<br />

Mittel. Die Sen<strong>der</strong>eihe »Menschen – das Magazin«<br />

(samstags, 17.45 Uhr) und die »5-Sterne-Gewinner«<br />

(sonntags, 19.28 Uhr mit Thomas Gottschalk)<br />

zeigen die Welt <strong>der</strong> »Aktion Mensch«.<br />

Zehn Jahre »Aktion Mensch«<br />

I 79<br />

Plakat zur Kampagne »Voll im<br />

Leben«


Reinhold Elschot<br />

Leiter <strong>der</strong> Hauptredaktion<br />

Fernsehspiel<br />

Lina (Nina Kunzendorf) und<br />

Uli (Peter Simonischek) in<br />

»Liebesjahre«<br />

»Ich habe es dir nie erzählt«:<br />

Andi (Roeland Wiesnekker) und<br />

Carla (Barbara Auer) wollen Andis<br />

Tochter schützen<br />

80 I<br />

Vom Glück <strong>des</strong> Erzählens<br />

Der Fernsehfilm <strong>der</strong> Woche im ZDF<br />

Heißt es nicht, um Aristophanes zu bemühen,<br />

Eulen nach Athen tragen, wenn man noch<br />

einmal schreiben will über den Fernsehfilm<br />

<strong>der</strong> Woche, jenen Platz für exzellentes Erzählfernsehen<br />

im ZDF und überhaupt, gern<br />

gesehen, positiv kritisiert und immer wie<strong>der</strong><br />

prämiert? Es ist ja, soviel ist richtig, alles<br />

gesagt, eigentlich – und doch: nein.<br />

Denn <strong>der</strong> Sendeplatz muss sich, wie <strong>der</strong> Fernsehfilm<br />

überhaupt, immer wie<strong>der</strong> neu erfinden: Er<br />

muss vielfältig sein und doch in seiner Vielfalt bei<br />

sich bleiben, er muss verlässlich sein und doch<br />

überraschend, er muss Gewohnheiten schaffen<br />

und doch verstören, er muss zum Mitfühlen animieren<br />

und doch das Mitdenken for<strong>der</strong>n, er muss<br />

spannend sein und doch entlastend, er muss uns<br />

lachen machen und doch fühldenkend, er muss<br />

ernst sein und doch leicht, er muss vom Leben<br />

und <strong>der</strong> Gesellschaft handeln, kurzum: Er muss all<br />

das haben, halten und können, was das Erzählen<br />

im Fernsehen ausmacht. Er muss substanziell<br />

unterhaltsam sein. Am besten ist er dann, wenn<br />

er die Erwartungen <strong>des</strong> Publikums übertrifft: noch<br />

intensiver, noch interessanter, noch tiefer, noch<br />

besser als angenommen. Wer die Erwartungen<br />

nur, sagen wir: bedient, <strong>der</strong> ist selbst bald bedient.<br />

2010.Jahrbuch<br />

Erst das Einssein von Attraktivität und Anspruch,<br />

von Seele, von gefühltem Leben mitten in Thriller<br />

und Komödie macht die Erfolge <strong>des</strong> Fernsehfilms<br />

<strong>der</strong> Woche aus. Und er muss, an<strong>der</strong>er Aspekt,<br />

wissen, dass das Erzählen heute nicht mehr das<br />

Erzählen morgen sein wird.<br />

Über einem Prospekt dieses spannendsten Sendeplatzes<br />

für das Erzählfernsehen <strong>der</strong> Republik<br />

könnte stehen: Glück. Wir möchten unsere Zuschauer<br />

glücklich machen – im Kopf o<strong>der</strong> im Herzen,<br />

im Idealfall da und dort. Dazu bedarf es einigen<br />

Aufwands: intellektuell, emotional, finanziell.<br />

Erzählt wird immer und jeweils konkret, hier also<br />

ein beherzter Griff in die große, schöne Wun<strong>der</strong>tüte<br />

<strong>des</strong> neuen Fernsehfilms <strong>der</strong> Woche, im Herbst<br />

2010 produziert und bald im Programm.<br />

Da sind die »Liebesjahre«, ein herausragen<strong>des</strong><br />

Post-Ehedrama von Matti Geschonneck, eines<br />

Regisseurs, dem das ZDF – Kontinuität! – viele<br />

exzellente Filme verdankt, ein Vierpersonenstück<br />

voller Leben und Lebensschmerz, voller Hoffnungen<br />

und geplatzter Träume mit Iris Berben,<br />

Peter Simonischek, Nina Kunzendorf und Axel<br />

Milberg. Dann »Ich habe es Dir nie erzählt«,<br />

das Drama einer alleinerziehenden Mutter, Bar-


ara Auer, die sich neu verliebt und durch die<br />

Eifersucht ihrer Tochter am Glück, am Lebensglück<br />

gehin<strong>der</strong>t wird. »Schmidt und Schwarz«,<br />

eine Berliner Kriminalkomödie mit dem Star-Paar<br />

Corinna Harfouch und Michael Gwisdek. »Fischer<br />

fischt Frau«, die Landkomödie mit doppelt ernstem<br />

Hintergrund: sich verän<strong>der</strong>nde ökonomische<br />

Verhältnisse und Migration, mit Peter Heinrich Brix<br />

in einer Glanzrolle. Dann »Moor <strong>der</strong> Angst«, ein<br />

Thriller, <strong>der</strong> den Ausnahme-Mimen Franz Xaver<br />

Kroetz zurück ins Fernsehen holt, und Matthias<br />

Glasners Mystery-Thriller »Der Teufel weiß es«<br />

mit Jürgen Vogel und Silke Bodenben<strong>der</strong>, ein<br />

Film, <strong>der</strong> das Genre Mystery im Fernsehen in<br />

seiner starken emotionalen Kraft neu definieren<br />

könnte, und mit »Mör<strong>der</strong>isches Wespennest« ein<br />

weiteres und doch an<strong>der</strong>es Crime-in-nature, ein<br />

Film dieses vom ZDF für den Fernsehfilm in<br />

Deutschland miterfundenen und in alle Weitungen<br />

gepflegten Genres, hier wie<strong>der</strong> vom Dreier-Team<br />

Schönemann-Schmidt-Imboden, die schon die<br />

»Mör<strong>der</strong> auf Amrum« so erfolgreich machten. Und<br />

mit »Riskantes Spiel« das erste Multimediamovie,<br />

das vor allem auf dem Schirm, aber auch im Netz<br />

erzählt wird, vorbereitend, parallel, weitend, intensivierend,<br />

hernach.<br />

Dazu gesellen sich wenige, freilich sehr erfolgreiche<br />

kleine Montags-Reihen wie »Unter an<strong>der</strong>en<br />

Umständen« mit Natalia Wörner und die vielgepriesene<br />

»Nachtschicht«: Der Montag leistet sich<br />

diese Reihen – zu nennen wäre noch »Stralsund«<br />

mit Katharina Wackernagel –, die gleichzeitig<br />

von hoher Qualität und großem Erfolg sind, die<br />

den Zuschauer interessieren; Reihen mit nur<br />

einem Film im Jahr sind hier möglich, weil und<br />

wenn sie zur Stabilisierung <strong>des</strong> Sendeplatzes<br />

beitragen und verlässlich Qualität und Attraktivität<br />

bieten. Und dazu immer mal wie<strong>der</strong> Zweiteiler, die<br />

das filmisch-inhaltliche Fernseh-Erzählen noch<br />

einmal an<strong>der</strong>s ausloten können: Geschonnecks<br />

»Entführt« war sehr erfolgreich, und jetzt kommt<br />

»Operation Kranich – Verschollen am Kap«, ein<br />

attraktiver Film mit Heino Ferch und Barbara Auer,<br />

oberflächlich betrachtet ein Thriller, in Wahrheit ein<br />

Familiendrama und ein Film über den Kampf um<br />

die dramatisch knapper werdenden Wasservorräte<br />

<strong>der</strong> Erde.<br />

Das alles ist Der Fernsehfilm <strong>der</strong> Woche im ZDF.<br />

Der Platz für die besten Ideen, die besten Regisseure,<br />

Autoren, Produzenten, Schauspieler. Die<br />

viel zu erzählen haben und noch viel erzählen können.<br />

Die kleine und große Kunstwerke schaffen,<br />

immer wie<strong>der</strong>, und die – und das ist das Schöne<br />

am Ende <strong>des</strong> linearen Fernsehens – haben viele<br />

Leben: die im ZDF-Hauptprogramm zu sehen<br />

sind, bei ZDFneo, oft auch als Premieren, bei<br />

ARTE, in <strong>der</strong> ZDFmediathek. Repertoirefähigkeit<br />

ist ein Begriff, <strong>der</strong> technisch klingt und mancherorts<br />

einen eher langweilen Beigeschmack hat,<br />

doch ganz falsch: Die großen Theater und Büh-<br />

Vom Glück <strong>des</strong> Erzählens<br />

I 81<br />

»Fischer fischt Frau«: Hein (Peter<br />

Heinrich Brix) macht einen<br />

Heiratsantrag im Linienbus<br />

Vitja (Roeland Wiesnekker) und<br />

Vladimir (Uwe Mansshardt) jagen<br />

eine Mordzeugin. Szene aus<br />

»Mör<strong>der</strong> auf Amrum«.


82 I<br />

nen <strong>der</strong> Welt, sie leben vom Repertoire, von den<br />

Werken, die sich als gut und attraktiv durchgesetzt<br />

haben, und nicht zuletzt dies ist das Pfund, mit<br />

dem die Fiction im Fernsehen wuchern kann und<br />

muss, in Zeiten, in denen das Geld möglicherweise<br />

wie<strong>der</strong> einmal knapper wird: Das Gebührengeld,<br />

es ist gut angelegt, ein Film erreicht etwa bei<br />

ZDFneo und ARTE noch einmal an<strong>der</strong>e Zuschauergruppen,<br />

und bei seiner Wie<strong>der</strong>holung unter<br />

verän<strong>der</strong>ter Konkurrenzlage ist es keine Seltenheit<br />

mehr, dass ein ZDF-Fernsehfilm mehr Zuschauer<br />

erreicht als bei <strong>der</strong> Premiere.<br />

2010.Jahrbuch<br />

Es gibt noch so viel zu erzählen, <strong>der</strong> Stoff, er geht<br />

nie aus: die Geschichten <strong>des</strong> Lebens und die <strong>der</strong><br />

Gesellschaft, immer wie<strong>der</strong> neu interpretiert, im<br />

Drama, im Genre.<br />

Und wenn sich dann ein exzellenter, beson<strong>der</strong>er,<br />

großer, qualitätsvoller Film mit einer guten Akzeptanz<br />

verbindet, weil wir den Menschen etwas zu<br />

sagen, zu erzählen haben, wenn wir die Zuschauer<br />

fesseln, sie auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Möglichkeiten<br />

bestens zu unterhalten vermögen, dann ist das<br />

Glück beinahe vollkommen.


Lachen lohnt sich<br />

Die neue Lust auf Kabarett & Comedy<br />

Die Krise ist vorbei – bankrotten Staaten und<br />

hilflosen Banken wurde geholfen, Deutschland<br />

gewinnt den Eurovision Song Contest<br />

2010, <strong>der</strong> Aufschwung ist da und das ZDF wird<br />

Humor-Meister. Satiresendungen wie »Neues<br />

aus <strong>der</strong> Anstalt« und die »heute-show« setzen<br />

neue Benchmarken für Kabarett und Comedy<br />

im Fernsehen, <strong>der</strong> Glaube an intelligente Unterhaltung<br />

wächst wie<strong>der</strong>, die Freude ist groß,<br />

die Menschheit gerettet – wir sind Papst und<br />

wir sind lustig.<br />

Ja, wir müssen uns immer noch an all die Ironie,<br />

Heiterkeit, den Biss und manche Albernheit<br />

gewöhnen. Jahrelang fiel uns die leichte Muse<br />

beson<strong>der</strong>s schwer – wir wollten ernst sein, während<br />

an<strong>der</strong>e Spaß hatten. Unsere Hilfs- und Mutlosigkeit<br />

drückte <strong>der</strong> in Blei gegossene Satz »Das<br />

ZDF hat ein Humordefizit« aus. Technokratisches<br />

Deutsch, verbales Botox, das menschliche Lachmuskeln<br />

für Monate lähmen konnte. Draußen<br />

in <strong>der</strong> Welt <strong>des</strong> Humors rief man also: »Yes, we<br />

can!«, drinnen klang es zu oft »Yes, we gähn!«.<br />

Das Jahr 2007 brachte dann eine erste humorvolle<br />

Erfrischung. Nach einigen Versuchen<br />

mit fiktionalen Comedys beschloss <strong>der</strong> ZDF-Programmdirektor<br />

Thomas Bellut, ein politisches Kabarettformat<br />

zu starten. Schon sieben Sendungen<br />

später erhielten Urban Priol und Georg Schramm<br />

für »Neues aus <strong>der</strong> Anstalt« den Deutschen Fernsehpreis,<br />

begleitet von einem durchweg positiven<br />

Medienecho. Die wichtigsten Erfolgsfaktoren <strong>des</strong><br />

Programms waren zwei herausragende Protagonisten,<br />

ein Budget, das gute Produktionsbedingungen<br />

und damit gutes Fernsehen ermöglichte,<br />

sowie viel Mut, gepaart mit Gelassenheit, um das<br />

scharfzüngige, bissige Kabarett Monat für Monat<br />

auszuhalten. Die völlig normale Anstalt ZDF hatte<br />

plötzlich eine Anstalt von scheinbar Wahnsinnigen,<br />

die respektlos kein Blatt vor den Mund<br />

nahmen. Hinter <strong>der</strong> gespielten Gestörtheit steckte<br />

fast immer die bittere Wahrheit und eine bisweilen<br />

hochkonzentrierte Dosis Moralin Forte. In <strong>der</strong><br />

Kantine und auf den Fluren <strong>des</strong> »Sendezentrums<br />

eins« wollte man nicht glauben, dass dies so ganz<br />

ohne großen Ärger ging. Das Gefühlspektrum <strong>der</strong><br />

Kollegen reichte von Zuspruch und Freude über<br />

Neugier bis hin zu Mitleid, es klang in etwa wie<br />

das Raunen auf Mainzer Fastnachtssitzungen<br />

– »Uiuiui« und »Auauau« – nur nüchtern.<br />

Heute ist »Neues aus <strong>der</strong> Anstalt« eine starke<br />

Programm-Marke <strong>des</strong> ZDF, eine Trumpfkarte <strong>des</strong><br />

öffentlich-rechtlichen Fernsehens und zugleich<br />

quantitativer wie qualitativer Marktführer im politischen<br />

TV-Kabarett. Nach dem Ausscheiden von<br />

Georg Schramm begann die Sendung im Oktober<br />

2010 einen neuen Lebensabschnitt in einer neuen<br />

Partnerschaft. Mit Frank-Markus Barwasser in<br />

seiner Figur »Erwin Pelzig« konnte ein herausragen<strong>der</strong><br />

Kabarettist und Journalist mit einer unverwechselbaren<br />

Hut- und Handtaschenmode für die<br />

Sendung gewonnen werden. Damit erschlossen<br />

sich ganz neue Krankheitsbil<strong>der</strong> rund um den zerzausten<br />

Anstaltsleiter Urban Priol und sein kleines<br />

Lachen lohnt sich<br />

I 83<br />

Stephan Denzer<br />

Hauptredaktion Show, Teamleiter<br />

Kabarett & Comedy<br />

Ausgezeichnet! Die »heute-show«-<br />

Mo<strong>der</strong>atoren Oliver Welke und<br />

Martina Hill


Das Personal <strong>der</strong> »heute-show«:<br />

Christian Ehring, Ulrich van<br />

Heesen, Tina Hausten und<br />

Oliver Welke<br />

Frank-Markus Barwasser alias<br />

Erwin Pelzig (rechts) ist neuer<br />

Partner von Urban Priol in <strong>der</strong><br />

Politsatire »Neues aus <strong>der</strong> Anstalt«<br />

84 I<br />

Ensemble von konsequent eigentümlichen und<br />

chronisch kritischen Anstaltsinsassen.<br />

Nun gut? Keineswegs! Das ZDF muss und will<br />

etwas gegen den Verlust von jungen Zuschauern<br />

tun. Darüber hinaus haftet dem Sen<strong>der</strong> seit Jahren<br />

ein Image an, das einen chronischen Mangel<br />

an Spaß, Heiterkeit und Leichtigkeit aufweist. Da<br />

<strong>der</strong> Humor <strong>der</strong> unter 50-Jährigen jenseits <strong>des</strong><br />

ZDF seit zwei Jahrzehnten weitgehend durch<br />

Comedy geprägt wurde und diese Zuschauer ein<br />

großes Interesse an <strong>Programme</strong>n zum Lachen<br />

haben, lag es nahe, aufbauend auf dem Erfolg<br />

von »Neues aus <strong>der</strong> Anstalt«, auch eine jüngere<br />

Zuschauergruppe anzuvisieren. Zum Glück waren<br />

wir aus heutiger Sicht offensichtlich vom Wahnsinn<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Euphorie unserer kabarettistischen<br />

Nervenklinik befallen, sonst hätten wir ein <strong>der</strong>art<br />

schwieriges Programm wie die »heute-show« wohl<br />

kaum gewagt. Wie sollte man jüngere Zuschauer<br />

für ein politisches Programm gewinnen? Wie<br />

konnte man dem von Kritikern gefeierten Vorbild<br />

<strong>der</strong> »Daily Show« aus Amerika gerecht werden?<br />

Wir hatten gerade mal ein sehr gutes Fahrrad<br />

gebaut, nun standen wir vor den Konstruktionsplänen<br />

eines Humor-Boliden und fragten uns, wo<br />

die Pedale hin sollten. Heute fährt in punkto Programmqualität<br />

die »heute-show« in <strong>der</strong> höchsten<br />

Gewinnerklasse: Deutscher Comedypreis 2009,<br />

Adolf Grimme Preis 2010, Deutscher Fernsehpreis<br />

2010 und Deutscher Comedypreis 2010. Dazu<br />

2010.Jahrbuch<br />

erklingen nahezu hymnische Lobeslie<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Presse. Qualitativ ist die Satiresendung mit ihrem<br />

Anchor Oliver Welke also ohne Zweifel ein großer<br />

Erfolg, quantitativ übt sie sich im Bezug auf die<br />

Einschaltquoten noch in Bescheidenheit. Die Analyse<br />

ist leicht: Der Humor <strong>der</strong> »heute-show« zielt<br />

auf jüngere Zuschauer, die mittlerweile dem ZDF<br />

zahlreich den Rücken kehren. Zweitens schwindet<br />

seit Jahren das Interesse an Politik und somit die<br />

Grundlage für eine breite Akzeptanz <strong>der</strong> Sendung.<br />

Schließlich stellen <strong>der</strong> Sendeplatz, die Formatlänge<br />

und die weit weniger anspruchsvollen Konkurrenzprogramme<br />

die wohl größte Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

dar. Also Schluss mit lustig?<br />

Würden wir die »heute-show« <strong>des</strong>halb aufgeben,<br />

wir würden eine immer noch sehr lebendige Hoffnung<br />

begraben, wie<strong>der</strong> mehr junge Menschen für<br />

Politik interessieren und gewinnen zu können. Wir<br />

gäben eine Sendung auf, die kreativ und innovativ<br />

den öffentlich-rechtlichen Programmauftrag verkörpert.<br />

Denn inmitten eines Marktes von banaler<br />

Lachware positioniert sich die ZDF-Nachrichtensatire<br />

als ein heiteres, werteorientiertes Informations-<br />

und Comedyprogramm o<strong>der</strong>, kurz gesagt,<br />

als Format mit Public Value. Und noch mehr: Die<br />

»heute-show« setzt einen Akzent hin zu einem frischeren,<br />

jüngeren Image, sie ist damit trotz ihrer<br />

noch ausbaufähigen Quotenbilanz im Hinblick auf<br />

die mittelfristigen Unternehmensziele <strong>des</strong> Sen<strong>der</strong>s<br />

wichtig.


Der Prozess <strong>der</strong> Verjüngung unserer <strong>Programme</strong><br />

scheint hier also wie<strong>der</strong> einmal so schwer wie <strong>der</strong><br />

Stein <strong>des</strong> Sisyphos – mit dem großen Unterschied,<br />

dass die Sendung mit ihrem Mo<strong>der</strong>ator Oliver<br />

Welke und seinem Team aus exzentrischen Reportern<br />

uns bei <strong>der</strong> Arbeit lachen und Spaß haben<br />

lässt. Es entstand hier ein (kleiner) Raum für die in<br />

Deutschland oft nicht messbare Qualität <strong>der</strong> Eigen-<br />

ironie. Der Humor <strong>der</strong> »heute-show« zielt nämlich<br />

nicht nur auf die Schwächen von Politikern o<strong>der</strong><br />

Wählern, er macht auch vor unseren eigenen<br />

ZDF-Sendungen, -Gremien o<strong>der</strong> -Mo<strong>der</strong>atoren,<br />

sogar vor unschuldigen, süßen Mainzelmännchen<br />

nicht halt: Sich selbst nicht so ernst nehmen, über<br />

die eigenen Schwächen schmunzeln – vielleicht<br />

eine Art Lachtherapie, die viele Kraftanstrengungen<br />

<strong>der</strong> Zukunft leichter erscheinen lässt. O<strong>der</strong><br />

mit den Worten <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung: »Wenn<br />

Welke und seine Mannschaft gut in Form sind,<br />

dann knallt es richtig am späten Freitagabend,<br />

dann bekommen fast alle ihr Fett weg, dann kann<br />

sich so mancher als bissig eingestufter Kabarettist<br />

ein ordentliches Scheibchen bei den Satirikern<br />

vom öffentlich-rechtlichen Dienst abschneiden.«<br />

Die Zeitung attestiert <strong>der</strong> Satiresendung damit ein<br />

weiteres wesentliches Qualitätsmerkmal: ihren Mut.<br />

Auf diese Tugend sollten wir uns besinnen, wenn<br />

wir den Prozess <strong>der</strong> Innovation und Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

fortsetzen wollen. Das lernen wir an »Neues aus<br />

<strong>der</strong> Anstalt« und auch von <strong>der</strong> »heute-show«. Wir<br />

müssen mehr Mut als bisher beweisen. Qualitativ<br />

hochwertige Comedy hat im ZDF nicht nur eine Daseinsberechtigung,<br />

son<strong>der</strong>n eine Schlüsselfunktion<br />

im Hinblick auf die dringend notwendige Imagekorrektur<br />

<strong>des</strong> Sen<strong>der</strong>s. Keine doofe Lachware, keine<br />

<strong>der</strong>ben Schenkelklopfer, son<strong>der</strong>n gut gemachte<br />

Sendungen mit Humor brauchen wir, quer durch<br />

alle Genres. Die Spaßgesellschaft <strong>der</strong> 90er Jahre<br />

hat sich überlebt, die Lust am Lachen bleibt aber<br />

auch in Zukunft ein zutiefst menschliches Grundbedürfnis.<br />

Der Kabarettist und Comedian Dieter<br />

Nuhr drückt es etwas bissiger aus: »Das wirklich<br />

Komische ist, dass diejenigen, die das Ende <strong>der</strong><br />

Spaßgesellschaft for<strong>der</strong>n, immer so aussehen, als<br />

ob sie noch nie Spaß gehabt hätten.«<br />

Wie aber können Comedy o<strong>der</strong> Kabarett im ZDF<br />

in <strong>der</strong> Zukunft aussehen? Erstes, unverzichtbares<br />

Kriterium: Die Sendungen und Humorformen<br />

brauchen eine herausragende Qualität innerhalb<br />

ihres jeweiligen Genres. Über Nichts lässt sich so<br />

sehr streiten, wie über die Frage, was »lustig« o<strong>der</strong><br />

»humorvoll« ist. Die damit verbundene zutiefst<br />

subjektive Debatte bringt schnell und unreflektiert<br />

immer wie<strong>der</strong> das Urteil »niveaulos« hervor. Oft<br />

genug wurden so Künstler o<strong>der</strong> Sendeformate<br />

von Kritikern zerrissen, die sie Jahre später mit<br />

gezielt eingesetztem Gedächtnisverlust lobten.<br />

Dieser subjektiv-geschmacklichen Betrachtungsweise<br />

können wir zuerst durch das Feedback<br />

<strong>der</strong> Zuschauer in <strong>der</strong> Medienforschung und dann<br />

erst durch Preise o<strong>der</strong> ein positives Presseecho<br />

begegnen.<br />

Zweitens müssen wir Comedy- und Humorformate<br />

finden, die heiter, schräg und gerne auch<br />

wild die Themen und Werte eines öffentlichrechtlichen<br />

Sen<strong>der</strong>s vertreten. Hier kann <strong>der</strong> 2011<br />

startende Kabarett-Talk mit Erwin Pelzig einen<br />

weiteren Beitrag leisten. Es bleiben darüber hinaus<br />

breite Spielmöglichkeiten, zum Beispiel bei<br />

Sitcoms, Serien, Comedy-Events, Wissenssendungen,<br />

Late-Night-Formaten. Zudem lassen sich<br />

Satire o<strong>der</strong> Comedy-Elemente in die bestehenden<br />

Sendungen mit Erfolg integrieren. Gelungene<br />

Beispiele wie die Rubrik »Toll!« in »Frontal 21«<br />

belegen dies seit Jahren. Zuletzt ist die Erkenntnis<br />

wichtig, dass jede Form von Programminnovation<br />

immer auch zuerst eine Investition sein wird.<br />

Die Entwicklung von erfolgreicher Comedy ist beson<strong>der</strong>s<br />

risikoreich, langwierig und kostenintensiv.<br />

Sie lohnt sich aber, weil je<strong>der</strong> Erfolg Zuschauer<br />

durch das Lachen gewinnen und sie in beson<strong>der</strong>er<br />

Weise binden kann.<br />

Lachen lohnt sich<br />

I 85


Margrit Lenssen<br />

Hauptredaktion Kin<strong>der</strong> und<br />

Jugend, Redaktion »Löwenzahn«<br />

Jens Ripke<br />

Hauptredaktion Kin<strong>der</strong> und<br />

Jugend, Redaktion »Löwenzahn«<br />

86 I<br />

»Einschalten!« – »Löwenzahn« ist 30<br />

Nachhaltig durch ein aktionsreiches Geburtstagsjahr<br />

Die Sendung »Löwenzahn«, die die Zuschauer<br />

bei ZDF tivi und im KI.KA sehen können,<br />

ist bis heute einzigartig. Eine Sendung, die<br />

Wissen im Rahmen eines fiktionalen Formats<br />

vermittelt. Im Geburtstagsjahr bietet »Löwenzahn«<br />

einen kindgerechten Ansatz, sich mit<br />

<strong>der</strong> Thematik <strong>der</strong> Artenvielfalt informativ und<br />

spaßbetont auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Exemplarisch<br />

steht das »Ökosystem Baum« im Mittelpunkt<br />

<strong>der</strong> Geburtstagsaktivitäten.<br />

Ein knallblauer Bauwagen mit Stuhltreppe in einem<br />

verwil<strong>der</strong>ten Garten – das ist das Markenzeichen<br />

von »Löwenzahn«, <strong>der</strong> ersten ökologischen Sendung<br />

für Kin<strong>der</strong>. Hier zog Peter Lustig 1980 mit<br />

Nickelbrille und Latzhose ein. Ein neugieriger Erwachsener,<br />

<strong>der</strong> es sich zur Aufgabe machte, ohne<br />

Vorbehalt zu forschen und nachzufragen. Einer,<br />

<strong>der</strong> mit Lust tüftelte, um Erkenntnisse zu sammeln<br />

und Antworten auf Fragen aus Natur und Technik<br />

zu finden: Wie alt werden Bäume? Wozu nutzen<br />

Staubmilben? Wie entsteht <strong>der</strong> Treibhauseffekt?<br />

Seit 2006 hat Guido Hammesfahr alias Fritz Fuchs<br />

es übernommen, den Zuschauern Aha-Momente<br />

in Sachen Natur und Technik zu verschaffen.<br />

Der Sen<strong>der</strong>eihe »Löwenzahn« sind die Fans treu<br />

geblieben, weil sie wissen, dass etwas Vertrautes<br />

gut bleibt, auch wenn es sich verän<strong>der</strong>t. Und<br />

»Löwenzahn« hat die Kin<strong>der</strong> von heute dazu gewonnen,<br />

sich selbstbestimmt mit Lust und Spaß<br />

das Wissen über ihre Umwelt zu erobern.<br />

Mit dem Thema Umwelt – heute brisanter denn<br />

je – ist die Sen<strong>der</strong>eihe zu Beginn <strong>der</strong> 80er Jahre<br />

angetreten. »Nur was ich kenne, kann ich auch<br />

schützen«, dieses Grundkonzept <strong>der</strong> Sendung hat<br />

Bestand. Die Mischung aus Fiktion und Realität<br />

sowie die Verknüpfung von Abenteuer und Wissensvermittlung<br />

ist einzigartig in <strong>der</strong> Fernsehwelt.<br />

2010.Jahrbuch<br />

Natur- und Tierfilmer sowie namhafte Trickstudios<br />

sorgen immer wie<strong>der</strong> für erhellende Momente in<br />

»Löwenzahn«. Sie liefern beeindruckende Bil<strong>der</strong><br />

für die erklärenden Einspielfilme und humorvolle<br />

Animationen – viele davon preisgekrönt.<br />

Umwelt und Natur sind nicht ohne die Errungenschaften<br />

<strong>der</strong> Technik zu denken. Und so ist die<br />

»Generation Löwenzahn« damit aufgewachsen,<br />

Technik als Hilfe für den Menschen zu begreifen.<br />

Ihre <strong>Grundlagen</strong> muss man verstehen, um sie<br />

dann für sich einzusetzen. Die Tüftler Peter Lustig<br />

und Fritz Fuchs wissen das mit ihren witzigen Erfindungen<br />

– <strong>der</strong> Regenwarnmaschine, dem Sonnenofen<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> windgetriebenen Spaghettiaufwickelmaschine<br />

– aufs Beste für sich zu nutzen.<br />

Mit »Löwenzahn« sind Generationen erwachsen<br />

geworden, und die Sen<strong>der</strong>eihe hat für viele Kultstatus.<br />

Peter Lustig ist immer noch in den Köpfen<br />

präsent, obwohl seit 2005 Schluss mit Lustig ist.<br />

Nach 200 Folgen nahm er Abschied und zog<br />

sich aus dem aktiven Fernseh- und Berufsleben<br />

zurück. Mit Guido Hammesfahr alias Fritz Fuchs<br />

begann eine neue Ära. Die Kin<strong>der</strong> haben den 30<br />

Jahre jüngeren Protagonisten mitsamt seinem<br />

Berner Sennenhund »Keks« schnell in ihr Herz<br />

geschlossen. Der gelernte Schauspieler hat es<br />

geschafft, jene Rolle, die Peter Lustig durch sein<br />

Wesen schuf, auf seine ganz persönliche Art zu<br />

interpretieren. Dynamischer und abenteuerlicher<br />

geht es seitdem im fiktionalen Bärstadt zu, immer<br />

jedoch mit dem beson<strong>der</strong>en Gespür, Neues in<br />

Umwelt und Technik zu erleben.<br />

Den Bogen von Peter Lustig zu Fritz Fuchs spannte<br />

im Geburtstagsjahr eine Kultnacht für Fans im ZDF.<br />

Mit Klassikern von Peter Lustig und neuen Abenteuern<br />

von Fritz Fuchs kamen alle auf ihre Kosten.


Der KI.KA würdigte »Löwenzahn« mit einem zweistündigen<br />

Sonntags-Son<strong>der</strong>programm.<br />

Die Highlights: »Artenvielfalt« bei »Löwenzahn«<br />

2010<br />

»Löwenzahn« zeigt den Zuschauern ganz bewusst,<br />

dass es jenseits von Fernsehen und Internet<br />

eine spannende Umwelt zu entdecken gibt.<br />

Im »Internationalen Jahr <strong>der</strong> Biologischen Vielfalt<br />

2010« <strong>der</strong> UN wählt »Löwenzahn« diese Thematik<br />

als Schwerpunkt <strong>der</strong> Geburtstagsaktivitäten.<br />

Exemplarisch steht dafür das Ökosystem Baum.<br />

»Löwenzahn« beschäftigte sich bereits in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

mit dem Thema Artenvielfalt und natürlich<br />

auch speziell mit Bäumen. Angefangen mit<br />

<strong>der</strong> Besetzung einer »Linde namens Paul« in den<br />

80ern über den legendären Entenfußbaum bis hin<br />

zum Ökosystem Wald, ist <strong>der</strong> Baum immer wie<strong>der</strong><br />

ein idyllischer Ort und attraktives Forschungsobjekt<br />

bei »Löwenzahn«.<br />

Neben vielen neu produzierten Sendungen zur<br />

Artenvielfalt wurde 2010 auch eine Folge »Im<br />

Labyrinth <strong>der</strong> Bäume« zum Ökosystem Wald<br />

gedreht. Parallel dazu wurden in einer Aktion alle<br />

Zuschauer aufgefor<strong>der</strong>t, ihren Lieblingsbaum und<br />

ihren jeweiligen beson<strong>der</strong>en Bezug zu diesem<br />

Baum zu dokumentieren, um am Ende den Löwenzahn-Baum<br />

<strong>des</strong> <strong>Jahres</strong> zu prämieren. Mehr<br />

als 8 000 Kin<strong>der</strong> haben sich an »Mein Baum. Eine<br />

Aktion von Löwenzahn« beteiligt. Ein gewollter<br />

Nebeneffekt war, dass »Löwenzahn« damit die<br />

Nachhaltigkeit unterstützt hat, denn die ersten 300<br />

Einsen<strong>der</strong> erhielten einen echten Baumsetzling<br />

zum Selbstpflanzen.<br />

Nicht zuletzt konnten alle ZDF-Mitarbeiterinnen<br />

und -Mitarbeiter in dem von »Löwenzahn«<br />

initiierten Voting »Unser ZDF-Baum« einen Baum<br />

wählen, <strong>der</strong> unser Selbstverständnis im ZDF symbolisch<br />

am besten repräsentiert. Die Wahl fiel auf<br />

die Eiche, und so weihte <strong>der</strong> Intendant Markus<br />

Schächter gemeinsam mit »Löwenzahn« und vielen<br />

Kolleginnen und Kollegen einen Eichen-Setzling<br />

als den ZDF-Baum auf dem Sendegelände<br />

auf dem Lerchenberg ein.<br />

Das Onlineangebot <strong>der</strong> Sendung begleitete alle<br />

Aktivitäten zum Aktionsjahr rund um den Baum<br />

und setzte neue Impulse. Die einzigartige Verbindung<br />

von Natur und Technik, die die Sendung<br />

verkörpert, wurde und wird online nahtlos weitergeführt:<br />

mit dem »Löwenzahn-Geocaching«, einer<br />

Schnitzeljagd mit GPS-Gerät. In Zusammenarbeit<br />

mit Naturparks und den »Löwenzahn«-Entdeckerpfaden<br />

führt diese Schnitzeljagd zu einem kleinen<br />

Versteck mit einem hinterlegten Code. Mit diesem<br />

kann auf den »Löwenzahn«-Onlineseiten eine kleine<br />

Überraschung eingelöst werden. Auch hierzu<br />

liefert die spannende Neuproduktion <strong>der</strong> Geo-<br />

Coaching-Folge die passenden Erklärungen.<br />

»Einschalten!« – »Löwenzahn« ist 30<br />

I 87<br />

Schafschur à la Fritz Fuchs (Guido<br />

Hammesfahr, links). Nachbar<br />

Paschulke (Helmut Krauss) steht<br />

tatkräftig zur Seite<br />

Hat Ulli (Bernhard Hoëcker) in<br />

seinem Laden für Heimwerkerbedarf<br />

den richtigen Kleber für Fritz<br />

Fuchs?


Der Forscher Julius (Jörg Schüttauf)<br />

und Fritz Fuchs suchen im<br />

Dinopark nach ungewöhnlichen<br />

Exemplaren<br />

Fritz Fuchs und sein Hund Keks<br />

haben im Garten uralte Knochen<br />

gefunden<br />

88 I<br />

Die Sendung »Löwenzahn« entwickelt sich on air<br />

und online weiter, aber sie lässt ihre Blütenschirmchen<br />

auch in an<strong>der</strong>e Richtungen schweben: Sei<br />

es mit einer interaktiven Webcomedy, einem zur<br />

Sendung passenden Baumsong, einer »Löwenzahn«-Bühnenshow<br />

rund ums Aktionsthema o<strong>der</strong><br />

erstmalig mit einem Kinofilm. Von Juli bis September<br />

fanden die Dreharbeiten zu »Löwenzahn<br />

– Das Kinoabenteuer« statt (Regie: Peter Timm).<br />

Dabei geht es mit viel Action und Emotionen<br />

um die Entführung dreier kleiner Hundewelpen<br />

und um die spannende und rasante Suche nach<br />

2010.Jahrbuch<br />

einem alten, kostbaren Schatz. Fritz Fuchs muss<br />

den Fall klären. Seine jahrelange Erfahrung im<br />

Forschen und Experimentieren zahlt sich aus, und<br />

mithilfe seines Hun<strong>des</strong> Keks gelingt es ihm, die<br />

Spur <strong>der</strong> Entführer zu entdecken. »Löwenzahn –<br />

Das Kinoabenteuer« ist ab 31. März 2011 im Kino<br />

zu sehen.<br />

»Löwenzahn« ist und bleibt auch nach 30 Jahren<br />

die Wissenssendung, die den Drang nach Fragen,<br />

Forschen und Wissen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> facettenreich bedient.<br />

Wissen wird durch »Löwenzahn« zum Kult.


Näher an die Zuschauer<br />

Wie das Fernsehen Informationen vermittelt<br />

Nachricht o<strong>der</strong> Show? Polarisierung o<strong>der</strong> Aufklärung?<br />

Mitmachfernsehen o<strong>der</strong> <strong>Programme</strong><br />

zum Zurücklehnen? Zwischen Facebook, You-<br />

Tube und »Scripted Reality« entsteht auch im<br />

ZDF ein neues Bild vom Journalismus.<br />

»Berlin direkt« hat seit kurzem eine Rubrik, die<br />

zum Abschluss <strong>der</strong> Sendung mit einem unkommentierten<br />

Zitat ein ironisches Schlaglicht auf<br />

politische Kommunikation im Medienzeitalter wirft.<br />

Am 17. Oktober 2010 war dies <strong>der</strong> Ausschnitt<br />

eines Schaltgesprächs zwischen Claus Kleber<br />

und Karl-Theodor zu Guttenberg. Ersterer fragt:<br />

»Könnten Sie Kanzler?«. Letzterer antwortet: »Ach,<br />

Herr Kleber, Sie wachen ja auch nicht jeden Morgen<br />

auf und denken darüber nach, wie man ZDF-<br />

Intendant werden könnte.«<br />

Gelesen wirkt <strong>der</strong> Wortwechsel eher schlicht. Und<br />

doch ist er ein Beispiel dafür, was Fernsehen in<br />

seinen besten Momenten ausmacht: Nicht die<br />

Information allein entscheidet, son<strong>der</strong>n auch das<br />

Dabeisein. Mitzuerleben, wie <strong>der</strong> Verteidigungsminister<br />

schaut, wenn er einer Frage ausweicht,<br />

wie die Kanzlerin sich verhält, wenn sie auf<br />

Koalitionsquerelen angesprochen wird, wie bürgerliche<br />

Demonstranten reagieren, wenn sich die<br />

Schutzmacht Polizei gegen sie wendet – all dies<br />

beobachtend erfassen zu können, hat einen Wert<br />

an sich. Und dieser Wert ist mit <strong>der</strong> Weiterentwicklung<br />

<strong>der</strong> digitalen Technik sprunghaft gestiegen.<br />

Das Bedürfnis, dabei zu sein, nicht abgehängt<br />

zu werden, ist immens, das haben alle Großereignisse<br />

dieses <strong>Jahres</strong> gezeigt. Bei <strong>der</strong> Wahl <strong>des</strong><br />

Bun<strong>des</strong>präsidenten blieben die Zuschauer dran,<br />

obwohl zwischen den Ergebnissen <strong>der</strong> Wahlgänge<br />

lange ereignislose Strecken lagen. Millionen<br />

Zuschauer verfolgten die Spezialsendungen nach<br />

dem Erdbeben von Haiti. Und die Spendenbereitschaft<br />

für die Flutopfer von Pakistan stieg spürbar,<br />

nachdem wir mit eigenen Reportern die Lage vor<br />

Ort bebil<strong>der</strong>n konnten.<br />

Wirklich deutlich wurde die Stärke <strong>des</strong> Bildmediums<br />

Fernsehen jedoch bei <strong>der</strong> Rettung <strong>der</strong><br />

Bergleute in Chile. Die »ZDF spezial«-Sendungen<br />

waren ein Erfolg, die Nachrichten lagen erheblich<br />

über dem Quotenschnitt, und auf zdf.de und<br />

heute.de zeigte sich, dass in Situationen wie diesen<br />

vielen schon das reine Bild reicht: Mit bis zu<br />

17 600 Sichtungen pro Minute verfolgten Tausende<br />

den Livestream <strong>der</strong> Bergung, sahen die pure<br />

Emotion <strong>der</strong> Geretteten, hörten spanischsprachige<br />

Telefonate <strong>des</strong> chilenischen Präsidenten<br />

und erlebten, wie die Rettungskapsel mit jedem<br />

Auftauchen mehr Optimismus brachte. Selbst<br />

in den Nachtstunden blieb <strong>der</strong> Livestream fast<br />

10 000 Mal aktiviert. Ereignisse ohne redaktionelle<br />

Bearbeitung in dieser Form weiterzugeben,<br />

wird nach wie vor die Ausnahme sein. Dennoch<br />

zeichnet sich ab: Nicht immer ist es die journalistische<br />

Einordnung, die beim Publikum punktet.<br />

Manchmal ist es gerade das Unverfälschte, das<br />

<strong>der</strong> Zuschauer erwartet.<br />

Wir stecken mitten im medialen Umbruch, <strong>der</strong> weit<br />

über technische Verän<strong>der</strong>ung hinausgeht und<br />

das Ende <strong>der</strong> tradierten Rollenverteilung in <strong>der</strong><br />

Medienlandschaft mit sich bringt. Den Flaschenhals<br />

Journalismus, <strong>der</strong> exklusive Informationen<br />

in verdaulichen Häppchen an die Menschen<br />

weiterreicht, gibt es nicht mehr. Längst teilen sich<br />

Presse, Radio und Fernsehen dieses Privileg<br />

mit einem Internet, das neben viel Subjektivem<br />

und ideologisch gefärbtem Inhalt ebenso viele<br />

gut recherchierte Informationen bietet. Und die<br />

Verfügbarkeit dieser Informationen steigt täglich<br />

Näher an den Zuschauer<br />

I 89<br />

Peter Frey<br />

Chefredakteur <strong>des</strong> ZDF


90 I<br />

mit neuen Endgeräten und <strong>Programme</strong>n, die den<br />

Zugriff schneller, übersichtlicher und bequemer<br />

machen. Hinzu kommt, dass sich die Bedürfnisse<br />

<strong>der</strong> Bürger verschieben – vom Rezeptiven ins<br />

Partizipative. Was sich im Politischen mit Bürgerprotesten<br />

à la »Stuttgart 21« äußert, findet im Informationsbereich<br />

seinen Ausdruck in alternativem<br />

Informationsaustausch (beispielsweise in Blogs<br />

und Foren) und in <strong>der</strong> Abkehr von klassischen Medien.<br />

Gesellschaftliches Engagement und Informationsbeschaffung/-verbreitung<br />

verschmelzen.<br />

Und schließlich gibt es auch noch diejenigen, die<br />

unter Information längst nicht mehr das verstehen,<br />

was <strong>der</strong> öffentlich-rechtliche Kanon dafür<br />

vorsieht: Infotainment war gestern, Reality-Formate<br />

und »Scripted Reality« erobern den Markt,<br />

Spartensen<strong>der</strong> fragmentieren das Publikum und<br />

ziehen stückweise, aber effektiv, Zuschauer ab,<br />

und ein breites Unterhaltungsprogramm drängt<br />

Informationsformate zunehmend an den Rand <strong>der</strong><br />

Aufmerksamkeitsskala.<br />

Noch ist nicht entschieden, wo in dieser medial<br />

verän<strong>der</strong>ten Gesellschaft die alten neben den<br />

neuen Medien ihren Platz finden, welche Funktion<br />

sie in Zukunft ausüben werden und wer von<br />

ihnen letztlich den Takt im Konzert <strong>der</strong> politischen<br />

Meinungs- und Willensbildung angeben wird.<br />

Noch streiten Verlagsverbände mit Öffentlich-<br />

Rechtlichen, Blogger mit Printjournalisten, User<br />

mit Redaktionen. Immer geht es um die Frage,<br />

wer was wann wie vermitteln darf und soll. Und<br />

natürlich um die Frage, wer das, was die Endnutzer<br />

erwarten, bezahlen soll. Klar ist nur: Wer<br />

diese Fragen nicht schlüssig beantworten kann,<br />

verliert den Anschluss an die Lebenswelt und die<br />

Informationsgewohnheiten <strong>der</strong> heranwachsenden<br />

Generationen.<br />

Und doch gibt es keinen Grund zu Pessimismus.<br />

Gabor Steingart stellte kürzlich für die Printmedien<br />

fest: »Wir reden von Medienkrise, und in Wahrheit<br />

2010.Jahrbuch<br />

erreichen alle Traditionstitel, von BILD über Spiegel<br />

bis zum Handelsblatt doppelt so viele Menschen<br />

wie vor Einführung <strong>des</strong> Internets.« Ähnliches gilt<br />

für unsere <strong>Programme</strong>: Gute Dokumentationen<br />

erreichen schon jetzt über die Mediathek bis zu<br />

170 000 zusätzliche Zuschauer, die meist nicht<br />

zum ZDF-Stammpublikum gehören. Formate, die<br />

im Fernsehen erfolgreich sind, finden im Netz eine<br />

eigene Fangemeinde. Auf Facebook hat »heute«<br />

knapp 59 000 Freunde, die dort politische Nachrichten<br />

rezipieren und diskutieren. Und wenn die<br />

Onlineredaktion twittert, folgen ihr bis zu 25 000<br />

Menschen. Das Bedürfnis <strong>der</strong> Menschen nach<br />

hochwertiger Information ist nicht zurückgegangen.<br />

Lediglich die Wege, auf denen die Information<br />

den Endnutzer erreicht, haben sich verän<strong>der</strong>t.<br />

Die technischen Grenzen zwischen TV und Internet<br />

verschwimmen – auch durch das Auftreten neuer<br />

Konkurrenten wie YouTube, Hulu o<strong>der</strong> Apple- und<br />

Google-TV, die <strong>Programme</strong> von Fernsehanstalten<br />

und Produzenten in alternativen Streaming-Systemen<br />

vertreiben. Und die Gewöhnung an zeitsouveräne<br />

und ortsungebundene Nutzung von<br />

Inhalten wächst und wird nicht umzukehren sein.<br />

Wenn ich die »heute«-Nachrichten auf meinem<br />

iPhone um 19.50 Uhr statt um 19.00 Uhr anschauen<br />

kann, warum sollte ich dann ein privates<br />

Telefonat abbrechen, das Aben<strong>des</strong>sen schneller<br />

beenden o<strong>der</strong> Verabredungen mit Freunden nach<br />

den Sendezeiten <strong>des</strong> ZDF richten? Diese Freiheit<br />

zu beschneiden, liegt nicht in unserem Interesse;<br />

die Informationen so aufzubereiten, dass sie den<br />

Menschen weiterhin zur Verfügung stehen, und<br />

zwar in <strong>der</strong> Form, die <strong>der</strong> Endnutzer bevorzugt,<br />

hingegen schon.<br />

Das ZDF muss in den nächsten Jahren zwei Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

bestehen: Zum Ersten: Das TV<br />

muss Leitmedium für Information bleiben. Dafür<br />

müssen wir unseren Platz im Spannungsfeld zwischen<br />

gestiegenem Unterhaltungsbedürfnis und<br />

verän<strong>der</strong>ter Informationsbeschaffung neu definie-


en. Klar ist: Wir müssen ein Informationssen<strong>der</strong><br />

bleiben, <strong>der</strong> den Zuschauern Fakten und Aufklärung<br />

bietet, die sie als Bürger für die Teilhabe an<br />

den öffentlichen Dingen brauchen. Dazu gehören<br />

Nachrichten und Nachrichtenmagazine rund um<br />

die Uhr, Magazine wie »WISO«, »Frontal 21«,<br />

»auslandsjournal« und »Berlin direkt«, Dokumentationen<br />

– und neue journalistische Formen, die<br />

wir erst entwickeln müssen. Zum Zweiten müssen<br />

wir mit diesen Formen und ihren Inhalten die Mitte<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft, die um die 40-Jährigen, erreichen.<br />

Dafür brauchen wir die neuen Plattformen,<br />

Online und Digitalkanäle. Nicht nur, um uns den<br />

verän<strong>der</strong>ten Nutzungsgewohnheiten anzupassen,<br />

son<strong>der</strong>n auch, um neue Programmformen zu<br />

erproben und umzusetzen, was das Internet uns<br />

lehrt und bietet: Inhalte spielerischer aufzubereiten,<br />

den Input <strong>der</strong> Zuschauer und User an<strong>der</strong>s<br />

und vielleicht auch besser aufzugreifen.<br />

Im Wettbewerb um den Fernsehzuschauer haben<br />

die Privaten 2010 nach einer Zeit schwacher Quoten<br />

ihr Rezept bereits gefunden: Um das Bedürfnis<br />

<strong>des</strong> Zuschauers nach direkter Teilhabe an Emotion<br />

und Ereignis zu befriedigen, setzen sie auf<br />

Über-Dramatisierung in Scripted-Reality-Formaten<br />

und auf Identifikation in Casting-Dauerschleifen.<br />

In beiden Fällen werden Scheinrealitäten kreiert.<br />

Von Kritikern als »Sozialporno« verhöhnt, vom<br />

Zuschauer dennoch angenommen, entsteht hier<br />

eine Gattung <strong>der</strong> Informationsvermittlung, die<br />

sich an den Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong> Fiction und<br />

<strong>des</strong> Boulevard orientiert, aber weit von relevanter<br />

Information entfernt. Diesen Weg wird das ZDF<br />

nicht gehen. Aber wir werden die Erwartungen<br />

unserer Zuschauer ernst nehmen. Das heißt:<br />

Themen aufgreifen, die die Mitte <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

bewegen. Zusammenhänge so erklären, dass<br />

unser Publikum den Mehrwert erkennt. Formate<br />

entwickeln, die die zentralen Fragen <strong>der</strong> Zuschauer<br />

behandeln. Und das alles mit einem starken<br />

journalistischen Profil: unabhängig, zuverlässig,<br />

aktuell.<br />

Unsere Zuschauer erwarten transparente journalistische<br />

Entscheidungen, starke Liveeindrücke und<br />

ernstzunehmende interaktive Angebote. Das ZDF<br />

ist dafür gut aufgestellt: Wir haben ein ausgezeichnetes<br />

Korrespondentennetz, flexible Reporter und<br />

schlagfähige Hauptredaktionen, die gemeinsam<br />

beeindruckende Son<strong>der</strong>programme wie die Chile-<br />

Spezials o<strong>der</strong> die Pakistan-Gala stemmen.<br />

Wir schaffen einzigartige und erfolgreiche Onlineangebote<br />

wie »Die Deutschen«, den Livestream<br />

zur Chile-Rettung o<strong>der</strong> die 3D-Begleitung <strong>der</strong><br />

Schätzing-Reihe »Terra X: Universum <strong>der</strong> Ozeane«.<br />

Und wir haben Mo<strong>der</strong>atoren und Reporter,<br />

die Nachrichten und Rechercheergebnisse kompetent<br />

und glaubwürdig präsentieren können.<br />

Kurz: Wir verfügen über alle technischen und<br />

fachlichen Ressourcen, um unseren Zuschauern<br />

Informationen zuverlässig, zeitgemäß und plattformübergreifend<br />

zu präsentieren.<br />

Diese Ressourcen müssen und wollen wir als<br />

Chance auch in einem schärferen Wettbewerb<br />

nutzen, um die Zukunftsfragen unserer globalisierten<br />

Gesellschaft so zu behandeln, dass sie die<br />

Zuschauer nicht nur verstehen, son<strong>der</strong>n sich auch<br />

in einer komplexer gewordenen Welt orientieren<br />

können.<br />

Näher an den Zuschauer<br />

I 91


Theo Koll<br />

Leiter <strong>der</strong> Hauptredaktion Politik<br />

und Zeitgeschehen<br />

92 I<br />

Neue Impulse in <strong>der</strong> Politikberichterstattung<br />

Inhaltliche Qualität und Glaubwürdigkeit<br />

Politikmüdigkeit ist passé. Ob nun bei <strong>der</strong><br />

Schulreform in Hamburg o<strong>der</strong> dem Bahnhofsumbau<br />

in Stuttgart – immer mehr Menschen<br />

suchen wie<strong>der</strong> die direkte politische Teilhabe.<br />

Für die Politikberichterstattung heißt das,<br />

erklärende Einordnungen zu bieten, auch<br />

mittels neuer, partizipativer Formate.<br />

Es ist Wochenende, die Koalitionsspitzen treffen<br />

sich im Kanzleramt. Seit Monaten wird das<br />

Thema hitzig debattiert, und dann muss – einmal<br />

mehr – <strong>der</strong> Koalitionsausschuss unter Hochdruck<br />

und nach überstundenlangem Ringen tief in <strong>der</strong><br />

Nacht einen Kompromiss gebären. Ob Bankenabgabe,<br />

Haushalts-Sparpläne, längere Laufzeiten für<br />

Atommeiler o<strong>der</strong> neue Hartz-IV-Berechnungen –<br />

die politische Geschäftsführung <strong>der</strong> Republik ist<br />

zäh, langwierig und im medialen Schaufenster<br />

schwer verkäufliche Ware.<br />

Einerseits erleben wir die Verdrossenheit mit den<br />

Parteien und ihrer als mangelhaft wahrgenommenen<br />

Problemlösungskompetenz, an<strong>der</strong>erseits<br />

aber scheinen viele Menschen gerade jetzt die<br />

Politik für sich neu zu entdecken. Die anhaltenden<br />

Proteste in Stuttgart, <strong>der</strong> Volksentscheid gegen<br />

die Schulpläne in Hamburg o<strong>der</strong> die überraschende<br />

Mobilisierung im Bun<strong>des</strong>präsidenten-<br />

Wahlkampf – oft sind es bürgerliche Milieus<br />

ohne klare Parteienbindung o<strong>der</strong> für apolitisch<br />

gehaltene junge Leute, die sich engagieren. Die<br />

politischen Energien scheinen sich neue Wege,<br />

neue Öffentlichkeiten zu suchen, die Parteien<br />

als die klassischen Player im politischen System<br />

können von dieser neuen Form <strong>der</strong> Teilhabe kaum<br />

profitieren. Zudem sind die Umbruchsituationen<br />

unserer Gesellschaften immer weniger national<br />

definier- und lösbar: Afghanistan, Zuwan<strong>der</strong>ung<br />

und Integration, Finanzkrise, Sozial- und Wirt-<br />

2010.Jahrbuch<br />

schaftsreformen – Innen ist Außen, und Außen ist<br />

Innen.<br />

Die Hauptredaktion Politik und Zeitgeschehen hat<br />

sich diesem integralen Politikbegriff durch die Fusion<br />

<strong>der</strong> innen- und außenpolitischen Redaktionen<br />

frühzeitig gestellt. Und versucht außerdem, mit erweiterten<br />

o<strong>der</strong> neuen Sendeformaten partizipative<br />

Wege zu bieten – um Politik unter Mitwirkung <strong>der</strong><br />

Zuschauer zu vermitteln.<br />

So wurden beispielsweise die »Was nun, …?«-<br />

Sendungen mit den Präsidentschaftskandidaten<br />

Wulff und Gauck als Plattform für die Fragen <strong>der</strong><br />

Zuschauer und Netznutzer angeboten. Auf einer<br />

eigenen Internetseite konnten Fragen gestellt,<br />

Satzergänzungen vorgeschlagen und gegenseitig<br />

bewertet werden.<br />

Zusätzlich erweitern wir <strong>der</strong>zeit das Sendungskonzept<br />

und werden künftig auch thematische Leitfragen<br />

stellen, wie »Was nun, Deutsche Bahn?«.<br />

Noch stärker partizipativ ist das Format »ZDF login«.<br />

Die Spitzenkandidaten o<strong>der</strong> Generalsekretäre<br />

<strong>der</strong> fünf großen Parteien haben sich anlässlich<br />

<strong>der</strong> Wahl in Nordrhein-Westfalen jeweils eine<br />

gute Stunde lang live den Fragen <strong>der</strong> ZDF-Zuschauer<br />

und -Nutzer gestellt. Die Sendung wurde<br />

zeitgleich im ZDFinfokanal und online gesendet,<br />

Ausschnitte liefen auf YouTube.<br />

Die Nutzergemeinde bescheinigte dem ZDF dabei<br />

eine hohe Glaubwürdigkeit und innovative Kraft.<br />

Im Zeitalter omnipräsenter Information hat sich<br />

dieses Format – wie auch schon bei <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>tagswahl<br />

– <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung gestellt, Politik<br />

verständlich und entlang <strong>der</strong> Fragen vieler, auch<br />

junger, Wähler zu erklären.


Auch die von uns für ARTE produzierte Sendung<br />

»Yourope« nutzt diese Verbindung mit dem Zuschauer.<br />

Ein eigenes Netzwerk meinungsstarker<br />

Europäer kommt regelmäßig per Videobotschaft<br />

zu Wort.<br />

Auf <strong>der</strong> Homepage und bei Facebook wird die Diskussion<br />

im Anschluss an die Sendung fortgesetzt.<br />

Auch Themen und Protagonisten werden gezielt<br />

im Netz gesucht. Damit wird ein Stück digitales<br />

Sozialleben in die TV-Sendung geholt. »Yourope«<br />

ist die erste Europasendung für eine globalisiert<br />

aufgewachsene Generation – für junge Europäer,<br />

die untereinan<strong>der</strong> durch digitale Netzwerke verbunden<br />

sind und die ähnliche Erfahrungen und<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen teilen: Wie vereinbart man<br />

Familie und Beruf? Wie prägen Soziale Netzwerke<br />

den Alltag? Wie und wo entwickelt sich eine neue<br />

Partizipationskultur? Wie gehen Gesellschaften<br />

mit den Konflikten um knapper werdende Ressourcen<br />

um? Wo und mit welchem Erfolg regiert<br />

schonungslose Ehrlichkeit, wo Beschwichtigung?<br />

Auch <strong>der</strong> neu konzipierte »blickpunkt« rundet<br />

jeweils das Thema <strong>der</strong> Woche mit einem vergleichenden<br />

»Blick ins Ausland« ab.<br />

Der Vorwurf an die Medien lautet landläufig, sie<br />

stürzten sich vornehmlich auf das Interessante<br />

und vergäßen das Wichtige. Konflikte und Skandale<br />

statt Aufklärung und Analyse. Komplexe<br />

Zusammenhänge, wie die schwer durchschaubaren<br />

und langwierigen Entscheidungsprozesse<br />

<strong>der</strong> Europäischen Union, entzögen sich <strong>der</strong> medialen<br />

Aufmerksamkeit. Aber gerade hier belegt<br />

»heute – in Europa« eindrucksvoll und mit großem<br />

Quotenerfolg, wie Tag für Tag <strong>der</strong> aufklärende<br />

Blick hinter die europäischen Kulissen gelingen<br />

kann. Und auch das »auslandsjournal« bietet mit<br />

seinen XXL-Ausgaben diese vertiefenden Einblicke,<br />

setzt erkennbar eigene Schwerpunkte – vom<br />

globalen Fußball-Kommerz bis hin zum Krieg in<br />

Afghanistan.<br />

Und dann war da noch die Chance <strong>der</strong> Fußball-<br />

Weltmeisterschaft. Natürlich stand das sportliche<br />

Ereignis im Vor<strong>der</strong>grund. Wie aber sollte es möglich<br />

sein, den Zuschauern hier in Deutschland<br />

Land und Leute wirklich näherzubringen? »24<br />

Stunden Südafrika« war die Antwort. 24 Stunden<br />

eines spannenden und wun<strong>der</strong>baren Lan<strong>des</strong> im<br />

Spiegel seiner Menschen. Die längste Afrika-<br />

Dokumentation aller Zeiten – 24 Stunden nonstop<br />

auf dem Infokanal und in Ausschnitten mehrmals<br />

im ZDF-Hauptprogramm. »24 Stunden Südafrika«<br />

– weniger eine Sendung als vielmehr ein Ereignis,<br />

das auf eine ganz eigene Weise leuchtete<br />

und ein Land beleuchtete.<br />

Aber – jede Fußball-WM ist etwas Einmaliges – die<br />

Koalitionsrunde im Kanzleramt kommt als politische<br />

Routine, immer verbunden mit <strong>der</strong> Frage:<br />

Was ist wichtig, was ist nur Wichtigtuerei? Und wie<br />

wird das am besten vermittelt?<br />

Eine wirklich überzeugende Antwort können politische<br />

Sendungen nur dann geben, wenn sie<br />

Altbewährtes mit Neuem verbinden: Inhaltliche<br />

Qualität und Glaubwürdigkeit mit innovativer Präsentation<br />

und <strong>der</strong> Fähigkeit, Bedürfnisse <strong>der</strong> Zuschauer<br />

kreativ umzusetzen.<br />

Neue Impulse in <strong>der</strong> Politikberichterstattung<br />

I 93


Dunja Hayali<br />

Seit 2007 Komo<strong>der</strong>atorin <strong>des</strong><br />

»heute-journals«, Hauptmo<strong>der</strong>atorin<br />

<strong>des</strong> »ZDF-Morgenmagazins«<br />

94 I<br />

Haben wir unseren Farbfilm vergessen – o<strong>der</strong> was ist hier los?<br />

Welche Spuren die Integrationsdebatte hinterlassen hat<br />

Die Debatte um Multikulti und darüber, ob<br />

»Deutschland sich abschafft«, wie das ehemalige<br />

Vorstandsmitglied <strong>der</strong> Deutschen<br />

Bun<strong>des</strong>bank, Thilo Sarrazin, in seinem jüngst<br />

erschienenen Buch behauptet, hinterlässt natürlich<br />

auch ihre Spuren in <strong>der</strong> Nachrichtenberichterstattung.<br />

Wer könnte glaubwürdiger<br />

über die dabei auftretenden Wi<strong>der</strong>sprüche,<br />

aber auch über das Gelingen berichten als<br />

Dunja Hayali, seit 2007 Komo<strong>der</strong>atorin <strong>des</strong><br />

»heute-journals« und neuerlich Hauptmo<strong>der</strong>a-<br />

torin <strong>des</strong> »ZDF-Morgenmagazins«.<br />

Haben wir unseren Farbfilm vergessen, o<strong>der</strong> was<br />

ist hier los? Das Jahr 2010 liegt hinter uns, und<br />

bei mir ist vor allem ein Satz hängen geblieben:<br />

Multikulti ist tot beziehungsweise gescheitert.<br />

Was wollte mir die Politik damit sagen? Dass es<br />

in Deutschland keine Vielfalt gibt? Dass die Politik<br />

<strong>der</strong> 80er Jahre Multikulti als Leben und Leben<br />

lassen gesehen hat? Wer den Ansatz <strong>des</strong> multikulturellen<br />

Miteinan<strong>der</strong>s so verstanden hat, <strong>der</strong><br />

trägt die Verantwortung dafür, dass die Integration<br />

lange vernachlässigt wurde und jetzt in Zeitlupe<br />

passiert. Wer das so gesehen hat, hat die ein- und<br />

zugewan<strong>der</strong>ten Menschen vom sozialen Leben<br />

sogar ausgeschlossen und macht jetzt sie dafür<br />

verantwortlich.<br />

Und wenn Multikulti wirklich tot ist, was ist dann<br />

mit den Einwan<strong>der</strong>ern, die das Land vorangebracht<br />

haben, die sich hier eingelebt, die Jobs,<br />

Freunde, Familie und Beruf haben? Was ist mit all<br />

denen? Und was ist mit meiner Familie und mit<br />

mir? Bin ich, obwohl in Deutschland geboren und<br />

groß geworden, nicht deutsch? Bin ich fremd im<br />

eigenen Land? Sicher nicht. Meine Familie und<br />

ich sind mit dieser Einstellung vielleicht nicht die<br />

2010.Jahrbuch<br />

Regel, aber sicher sind wir auch nicht mehr die<br />

Ausnahme.<br />

Nicht wenige haben sich damals gefragt o<strong>der</strong><br />

gedacht: »Die hat den Job doch nur wegen ihres<br />

Migrationshintergrun<strong>des</strong> bekommen.« Hätte man<br />

das einem Schweden auch unterstellt? Mal abgesehen<br />

davon: Wie soll sich ein Sen<strong>der</strong>, ein Unternehmen<br />

o<strong>der</strong> ein Familienbetrieb denn eigentlich<br />

verhalten? Auf <strong>der</strong> einen Seite sollen und wollen<br />

sie aktiv für buntere Redaktionen, für Chancengleichheit<br />

bei gleicher Vorraussetzung eintreten,<br />

auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite schwingt immer noch <strong>der</strong><br />

Generalverdacht <strong>der</strong> »Auslän<strong>der</strong>quote« mit. So<br />

lange das in den Köpfen drin steckt, selbst in so<br />

vermeintlich aufgeklärten wie in denen von Journalisten,<br />

so lange sind wir von einer Normalität<br />

weit entfernt. So lange wird es ein Politikum sein,<br />

wenn »einer von uns« die Nase vorn hat.<br />

Also muss es um mehr gehen als nur um die<br />

Frage, woher jemand kommt und welche Abschlüsse<br />

er hat. Es geht um Identität. Denn wer<br />

sonst als die »Auslän<strong>der</strong>« können den Deutschen<br />

ihr eigenes Ringen um Identität vor Augen führen?<br />

Nicht umsonst wird die Frage »Was ist deutsch?«<br />

nicht mehr an und für sich diskutiert (o<strong>der</strong> nur<br />

noch unter Rechtsextremen), son<strong>der</strong>n in Abgrenzung<br />

und/o<strong>der</strong> Schnittmenge mit Menschen mit<br />

Migrationshintergrund. Dieses Gefühl verfestigte<br />

sich bei mir in diesem Sommer, als ich lesen<br />

musste, dass »Deutschland sich abschafft«. Bisher<br />

habe ich immer gesagt: Ich fühle deutsch und<br />

arabisch. Denn ich finde, die Zugehörigkeit zu<br />

einem Land hat nun mal etwas mit Gefühl, mit Anerkennung<br />

und mit Werten zu tun. Doch nach dem<br />

Erscheinen <strong>des</strong> Buches1 und <strong>der</strong> anschließenden<br />

1 Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land<br />

aufs Spiel setzen. München 2010


Debatte hatte ich zum ersten Mal das Gefühl,<br />

tatsächlich fremd im eigenen Land zu sein. Auch<br />

weil in <strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>der</strong> Eindruck entstanden<br />

ist, dass es anscheinend jemanden wie Thilo Sarrazin<br />

braucht, um auf die problematischen Seiten<br />

unserer heterogenen Gesellschaft aufmerksam<br />

zu machen. Wer das behauptet, verkennt die<br />

Wirklichkeit, auch die politische. Und im Übrigen<br />

stand Sarrazin nicht an <strong>der</strong> Wand, weil er die<br />

Probleme <strong>der</strong> Integration vor allem moslemischer<br />

Auslän<strong>der</strong> – teils zutreffend, teils oberflächlich,<br />

teils falsch – beschreibt, son<strong>der</strong>n weil er als Ursache<br />

dieser Probleme die genetische Disposition<br />

<strong>der</strong> Betroffenen benennt. Das ist Unfug und fast<br />

schon Zynismus. Und dennoch hat mich all das<br />

getrieben.<br />

Identität ist nichts Touristisches, genausowenig<br />

wie es Nachrichten sind. Beide sind schon qua<br />

Definition international, also voller Migrationshintergründe,<br />

»Nachrichten aus aller Welt« eben.<br />

Nachrichten bringen die Welt ins Wohnzimmer<br />

und ziehen den Zuschauer in die Welt. Die Frage,<br />

wer wir sind, lässt sich <strong>des</strong>halb auch nur global<br />

beantworten. Und Emotionen sind ohnehin<br />

grenzüberschreitend; die chilenischen Bergleute<br />

hätten auch Koreaner o<strong>der</strong> Inuit sein können – wo<br />

<strong>der</strong> Mensch ganz zu sich und zu seinem Besten,<br />

nämlich <strong>der</strong> Empathie findet, vergisst er<br />

Kleinkariertheit.<br />

Leben ist Verän<strong>der</strong>ung, Politik ist Gestaltung von<br />

Verän<strong>der</strong>ung, Nachrichten bilden Wandel und Gestaltung<br />

ebenso wie Not und Euphorie ab.<br />

Auf meiner Suche nach Identität sprach ich einige<br />

Menschen aus meinem Umfeld an. Ich wollte ein<br />

wenig Orientierung, ich wollte mich austauschen<br />

und ging zu den Klassikern: zu einem Taxifahrer,<br />

zum Schnei<strong>der</strong>, zu meiner Gewürzverkäuferin und<br />

zu meinem Gemüsehändler. Ich stellte allerdings<br />

fest, dass <strong>der</strong> Diskurs, den ich führen wollte,<br />

manchmal doch etwas einseitig ausfiel. Eini-<br />

ge waren <strong>der</strong> deutschen Sprache nicht wirklich<br />

mächtig, jedenfalls nicht mächtig genug, um sich<br />

auf ein solches Gespräch einzulassen, und an<strong>der</strong>e<br />

wollten sich nicht äußern, weil sie so o<strong>der</strong> so die<br />

Verlierer sind, wie sie sagten.<br />

Das stimmt und das stimmt wie<strong>der</strong>um nicht. Sie<br />

sind nur dann die Verlierer, wenn sie sich nicht<br />

einbringen. Wenn sie nicht rausrücken mit <strong>der</strong><br />

Sprache. Doch dieses Umdenken fällt ihnen nicht<br />

leicht, denn jahrelang wurden zwar Pseudodebatten<br />

über sie geführt, aber eben nicht mit ihnen.<br />

Das ist das Gute an <strong>der</strong> aktuellen Situation, denn<br />

das scheint sich zu än<strong>der</strong>n. Anfänglich war die<br />

Debatte geprägt von »politisch korrekter Verlogenheit,<br />

Dummheit, Fremdenfeindlichkeit, bürgerlichem<br />

Verdruss über schöngeredete Zustände,<br />

falschen Tatsachen, großem Ernst und dem<br />

Bemühen um Toleranz«, wie Werner van Bebber<br />

schrieb (Tagesspiegel, 28. Oktober 2010), dem<br />

ich mich nur anschließen kann. Aber <strong>der</strong> Weg ist<br />

nun frei für eine ehrliche Diskussion über Notwendigkeiten.<br />

Und diese Diskussion zu spiegeln, sie<br />

einzuordnen, sie kritisch zu hinterfragen, das ist<br />

unsere Aufgabe. Die eines jeden Journalisten,<br />

eines jeden Sen<strong>der</strong>s. Und wenn wir wirklich <strong>der</strong><br />

Spiegel <strong>der</strong> Gesellschaft sind, dann ist es auch<br />

unsere Aufgabe zu zeigen, dass es keinen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zwischen Integration und <strong>der</strong> Wahrung <strong>der</strong><br />

eigenen Wurzeln gibt. Wer könnte das glaubwürdiger<br />

tun, als die, die für den Sen<strong>der</strong> arbeiten – vor<br />

und hinter <strong>der</strong> Kamera.<br />

Nur wir dürfen einen Fehler nicht wie<strong>der</strong> begehen,<br />

<strong>der</strong> uns auch schon so oft bei an<strong>der</strong>en Themen<br />

passiert ist, weil wir getrieben von <strong>der</strong> Aktualität<br />

sind – wir dürfen diese Debatte nicht aus den<br />

Augen verlieren.<br />

Als die Diskussion um Integration losging, sind<br />

alle wie nach Schema F auf das Thema an- und<br />

aufgesprungen. Die einen haben reflexartig die<br />

Vorzeige-Migranten gesucht, die an<strong>der</strong>en die, die<br />

Haben wir unseren Farbfilm vergessen – o<strong>der</strong> was ist hier los?<br />

I 95


96 I<br />

es auch nach 15 Jahren in diesem Land noch zu<br />

nichts gebracht haben. Und so schön das ist,<br />

dass wir Mitri Sirin, Tarik El-Kabbani und noch<br />

einige an<strong>der</strong>e auf dem Schirm haben, min<strong>des</strong>tens<br />

genauso wichtig ist es, dieses Thema zu begleiten,<br />

dauerhaft.<br />

Welchen Einfluss wir Medienschaffenden mit Migrationshintergrund<br />

o<strong>der</strong> Migrationsvor<strong>der</strong>grund<br />

haben (ich weiß bis heute nicht, warum meine<br />

Geschichte beziehungsweise meine Identität hinter<br />

mir steht, aber sei`s drum), möchte ich nur<br />

anhand einer Geschichte verdeutlichen, die mir so<br />

o<strong>der</strong> so ähnlich in den letzten dreieinhalb Jahren<br />

immer wie<strong>der</strong> passiert ist. Auf meiner Suche nach<br />

Identität sagte ein alter Mann zu mir, dass er mir<br />

zur Debatte zwar nichts sagen möchte, aber er<br />

schaue ab und zu deutsches Fernsehen. ZDF. Ich<br />

fragte ihn, warum ausgerechnet ZDF? Er schmunzelte<br />

und sagte, dass seine Tochter glaube, seitdem<br />

sie mich gesehen habe, dass es möglich sei,<br />

seinen Weg zu gehen.<br />

Die Kraft <strong>des</strong> Fernsehens in Bezug auf gelebte<br />

Integration ist nicht zu unterschätzen, das musste<br />

auch ich erst einmal lernen und habe es mehr<br />

o<strong>der</strong> weniger im Gleichschritt mit dem Sen<strong>der</strong><br />

getan. »Das ZDF hat sich geöffnet«, sagte <strong>der</strong><br />

Mann noch – und wir beide grinsten uns an. Das<br />

sind die Momente, in denen ich spüre, dass sich<br />

etwas bewegt, dass wir etwas bewegen (können).<br />

Die schiere Sichtbarkeit schafft sanft Verän<strong>der</strong>ung.<br />

Und es ist an <strong>der</strong> Zeit, dass es mehr werden, die<br />

2010.Jahrbuch<br />

in <strong>der</strong> Herkunft eines Menschen einen Mehrwert<br />

sehen, die erkennen, dass es um Potenziale und<br />

nicht um Religion geht.<br />

Und während die Aussage über den Tod <strong>des</strong> Multikulturellen<br />

noch in meinem Kopf herumschwirrte,<br />

wurde die Fortsetzung <strong>der</strong> Kampagne »Raus mit<br />

<strong>der</strong> Sprache. Rein ins Leben.« von <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>regierung<br />

bekannt gegeben. Mit dabei: die Politikerin<br />

Aygül Özkan, die Turnerin Magdalena Brzeska,<br />

<strong>der</strong> Boxer Artur Abraham, <strong>der</strong> Fußballer Jérôme<br />

Boateng sowie die Rapper Sido und Harris. Auf<br />

den Fotos strecken die Botschafterinnen und Botschafter<br />

ihre schwarz-rot-goldene Zunge heraus.<br />

Die Nachricht ist klar: Die deutsche Sprache ist<br />

<strong>der</strong> Schlüssel für eine erfolgreiche Integration.<br />

Und wo wir schon bei Floskeln sind: Integration<br />

hatte und hat immer etwas mit for<strong>der</strong>n und för<strong>der</strong>n<br />

zu tun, Integration ist keine Einbahnstraße. Das<br />

alles können die meisten, vor allen Dingen die,<br />

die sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigen,<br />

kaum noch hören, aber erstens stimmen diese<br />

Floskeln und zweitens, sie gebetsmühlenartig herunterzubeten,<br />

reicht nicht. Es ist an <strong>der</strong> Zeit, genau<br />

das zu leben und vielleicht auch vorzuleben.<br />

Wenn Mo<strong>der</strong>atoren, Mitri, Tarik o<strong>der</strong> Dunja heißen,<br />

sind wir Zeugnis und Bote zugleich, vor allem<br />

aber stellen wir Themen vor, sind aber selbst kein<br />

Thema mehr. Das wünsche ich mir für die Zukunft.<br />

Aber nichts<strong>des</strong>totrotz: Ich habe und werde meinen<br />

Farbfilm nicht vergessen!


Wirtschaftsberichterstattung in Zeiten <strong>der</strong> Krise<br />

Eine journalistische Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

Nach <strong>der</strong> Krise? Vor <strong>der</strong> Krise? Die Unsicherheit<br />

ist groß. Ökonomen liefern je<strong>des</strong> denkbare<br />

Szenario – vom beginnenden goldenen<br />

Jahrzehnt für Deutschland bis zur baldigen<br />

Rückkehr <strong>der</strong> Rezession. Das ist Theorie,<br />

doch Wirtschaftsberichterstattung muss zu<br />

den Menschen gehen, in die Unternehmen<br />

schauen. Wir schil<strong>der</strong>n, was dort passiert<br />

und wie gehandelt wird.<br />

»Island ist die zukunftsfähigste Region Europas«,<br />

urteilt die OECD, die Organisation für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit, im Jahr 2008. Vor allem<br />

die scheinbar so dynamischen isländischen Banken<br />

haben es <strong>der</strong> renommierten Institution angetan.<br />

Wenig später sind diese Banken unter Getöse<br />

in sich zusammengefallen. Zurück bleiben gewaltige<br />

Schulden und betrogene Geldanleger. Der<br />

Staat Island selbst geht pleite. Die regierenden<br />

Politiker werden davongejagt. Bis heute hat sich<br />

die Insel nicht erholt. Die OECD hat ein grandioses<br />

Fehlurteil gefällt und lässt sich nicht gerne<br />

daran erinnern.<br />

»Das Jahr 2010 wird grottenschlecht«, urteilt Professor<br />

Hans-Werner Sinn. Der angesehene Ökonom<br />

sagt das im Juni <strong>des</strong> <strong>Jahres</strong> 2009 und blickt<br />

dabei auch auf China, Indien und die an<strong>der</strong>en<br />

jungen Industriestaaten. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt<br />

könne im Jahr 2010 um 0,3 Prozent<br />

zurückgehen. Heute wissen wir: Er liegt daneben!<br />

Falsch war also die Vorhersage für China, falsch<br />

war sie auch für Deutschland. Allerdings<br />

ist Professor Sinn nicht allein, denn niemand<br />

sah die Erholung in ihrer Stärke kommen.<br />

Das Jahr 2010 wird mit über drei Prozent Wachstum<br />

zu einem <strong>der</strong> besten <strong>der</strong> deutschen Wirtschaft.<br />

Kräftige Erholung! Große Exporterfolge!<br />

Sinkende Arbeitslosigkeit! In China sehen wir<br />

zweistelliges Wachstum. Teure deutsche Autos<br />

sind dort gefragt. Deswegen werden hier Son<strong>der</strong>schichten<br />

gefahren, wo eben noch die Fließbän<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Premiumhersteller stillstanden. Das<br />

hat <strong>der</strong> Professor, wie viele an<strong>der</strong>e seiner Zunft,<br />

überhaupt nicht kommen sehen.<br />

So falsch können die Fachleute vorhersagen,<br />

wenn es um wirtschaftliche Entwicklungen geht.<br />

Auf dieser Basis sollen Journalisten über die<br />

Wirtschaft berichten? Wenn schon Experten nicht<br />

richtig liegen, was sollen dann die Berichterstatter<br />

weitergeben? Vielleicht ist es manchmal besser,<br />

die Theoretiker ihren Theorien zu überlassen und<br />

sich die Wirtschaft dort anzusehen, wo sie passiert:<br />

im Betrieb, bei den Unternehmern, unter den<br />

Arbeitnehmern, bei den Konsumenten. Die wissen<br />

manchmal mehr über hier und jetzt und über das,<br />

was morgen kommen kann als die professionellen<br />

Beobachter.<br />

Ich schaue auf den Berichtszeitraum: Das Jahr<br />

2010 beginnt in <strong>der</strong> Krise und endet im Aufschwung.<br />

Dazwischen ist viel passiert. Wie sind<br />

wir damit umgegangen?<br />

»Die Schwabenschmiede« nennt Marcus Niehaves<br />

seine Serie für »WISO«. Es sind kurze<br />

Magazinbeiträge, die in einem mittelständischen<br />

Betrieb, einer schwäbischen Gesenkschmiede,<br />

spielen: bei den Arbeitern, beim Chef, in den<br />

Familien <strong>der</strong> Mitarbeiter. Ein kleiner Betrieb – anfangs<br />

mitten im Sturm <strong>der</strong> Krise. Arbeit bleibt aus.<br />

Kurzarbeit wird angeordnet. Die Leute haben weniger<br />

zu tun und weniger im Geldbeutel, aber sie<br />

behalten die Arbeitsplätze und bleiben mit ihrem<br />

Fachwissen dem Betrieb erhalten. Bis es wie<strong>der</strong><br />

aufwärts geht.<br />

Wirtschaftsberichterstattung in Zeiten <strong>der</strong> Krise<br />

I 97<br />

Michael Opoczynski<br />

Leiter <strong>der</strong> Hauptredaktion<br />

Wirtschaft, Recht, Soziales und<br />

Umwelt


»Verzockt, verloren,<br />

verstaatlicht ...«: Aktionäre<br />

demonstrieren gegen die Verstaatlichung<br />

<strong>der</strong> Hypo Real Estate<br />

Die Zentrale in München<br />

98 I<br />

Später werden Fachleute weltweit den Erfolg <strong>der</strong><br />

deutschen Kurzarbeit studieren. Sie hat es ermöglicht,<br />

als das Wachstum ungestüm zurückkommt,<br />

dass die Unternehmen die Produktion problemlos<br />

hochfahren können. Sie müssen nicht mühsam<br />

nach Leuten suchen. Ein deutsches Erfolgsmodell,<br />

das zunächst dem Staat, den Unternehmen<br />

und den Mitarbeitern Einbußen abverlangt. Dabei<br />

steht das Modell Kurzarbeit im Fokus internationaler<br />

und nationaler Kritik: zu konsensbehaftet, zu<br />

langsam, typisch deutsch. Heute sind die Kritiker<br />

still geworden. Und die »Schwabenschmiede«<br />

schmiedet wie<strong>der</strong>.<br />

Im Jahr 2010 wird weltweit das Modell <strong>der</strong> umgangssprachlich<br />

»Abwrackprämie« genannten<br />

För<strong>der</strong>ung für die Automobilindustrie gefeiert werden.<br />

Das habe genau dann für Käufer gesorgt, als<br />

<strong>der</strong> Markt zusammenzubrechen drohte. Die Autohersteller<br />

konnten vor dem Schlimmsten bewahrt<br />

werden. Heute ist die Abwrackprämie fast unumstritten<br />

und von an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n nachvollzogen.<br />

Noch im Vorjahr gab es viel Kritik an diesem Konjunkturprogramm.<br />

Auch von uns Journalisten.<br />

Das Jahr 2010 ist für Wirtschaftsjournalisten ein<br />

Jahr mit zwei Gesichtern. Eine an<strong>der</strong>e Krise bricht<br />

aus. Der Euro zeigt Schwäche. Als die Unsicherheit<br />

groß ist, ob Griechenland seine Schulden wird<br />

bedienen können, müssen alle Eurolän<strong>der</strong> etwas<br />

tun, was sie versprochen haben, nie zu tun: Sie<br />

2010.Jahrbuch<br />

müssen Garantien übernehmen. Plötzlich wird<br />

das griechische Wirtschaften zum deutschen Problem:<br />

»Wir sind Griechenland – unser Euro in <strong>der</strong><br />

Krise«. Es berichten Stefan Hanf, Udo van Kampen,<br />

Stephan Merseburger und Peter Sydow in<br />

einer 30-minütigen Dokumentation und in Magazinbeiträgen<br />

in »WISO«. Die Angst um die eigene<br />

Währung sitzt tief im deutschen Gedächtnis. Jetzt<br />

herrscht Sorge um den Euro, manche trauern um<br />

die Deutsche Mark, an<strong>der</strong>e kaufen Gold. Vielleicht<br />

ist dies bezeichnend für das Jahr 2010: Es gibt<br />

Krise und Erholung nebeneinan<strong>der</strong>, zeitgleich.<br />

Auch die deutschen Banken zeigen sich in unterschiedlicher<br />

Verfassung: die Deutsche Bank stolz<br />

mit einem Milliardengewinn. Im Mai zeigt sich<br />

Josef Ackermann selbstbewusst bei Maybrit Illner<br />

und antwortet gelassen auf ihre Fragen nach <strong>der</strong><br />

gesellschaftlichen Verantwortung <strong>der</strong> Banker. Auf<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite die Hypo Real Estate: Schon<br />

wie<strong>der</strong> vor dem Untergang, ruft sie nach weiteren<br />

staatlichen Milliardengarantien. Michael Haselrie<strong>der</strong><br />

und Karl Hinterleitner nennen ihre Dokumentation<br />

»Verzockt, verloren, verstaatlicht – was kostet<br />

uns die Hypo Real Estate?«. Viel kostet sie uns.<br />

Immer mehr. Ein Fass ohne Boden.<br />

Zu denen, die vor <strong>der</strong> Krise ganz beson<strong>der</strong>s<br />

falsch liegen, gehören die großen und beherrschenden<br />

Ratingagenturen. Sie drücken ihr positives<br />

Siegel noch auf zwielichtige Produkte, als


die Blase platzt. Dafür sind sie umso kritischer,<br />

wenn es um das Beurteilen von Eurolän<strong>der</strong>n<br />

geht. So verschärfen sie die Krise um Griechenland,<br />

Portugal und an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong>. Heike Slansky<br />

schil<strong>der</strong>t in »WISO« die zweifelhafte Rolle dieser<br />

Ratingagenturen und den Beginn <strong>der</strong> Debatte,<br />

die die Gründung einer europäischen Agentur als<br />

Gegengewicht zum Thema hat.<br />

Gegen Ende <strong>des</strong> <strong>Jahres</strong>, als die guten Wirtschaftsmeldungen<br />

alles überstrahlen und die<br />

Aktienkurse Höchststände erreichen, müssen<br />

Millionen Kunden den Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> offenen<br />

Immobilienfonds hinnehmen. Viele verlieren viel<br />

Geld. Das bestärkt noch mehr Menschen in dem<br />

Glauben, es bringe nichts, zu sparen o<strong>der</strong> an die<br />

Altersvorsorge zu denken. Obwohl wir intensiv<br />

in unseren Beiträgen immer wie<strong>der</strong> für private<br />

Vorsorge eintreten, nimmt die Zahl <strong>der</strong> Sparer ab,<br />

Lebensversicherungen werden gekündigt, Riester-Verträge<br />

beendet. Es bleibt eine journalistische<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung, weiterhin die problematischen<br />

Folgen dieses Verhaltens zu schil<strong>der</strong>n. Die führenden<br />

deutschen Wirtschaftsinstitute sehen optimistisch<br />

in das Jahr 2011. Vielleicht wird es so<br />

kommen, vielleicht auch nicht.<br />

Wirtschaftsberichterstattung in Zeiten <strong>der</strong> Krise<br />

I 99


Henriette de Maizière<br />

Redakteurin im Lan<strong>des</strong>studio<br />

Berlin<br />

Marcus Niehaves<br />

Redakteur und Reporter im<br />

Lan<strong>des</strong>studio Baden-Württemberg<br />

Ungewöhnliche Drehorte inklusive:<br />

Ein Nazi-Bunker, <strong>der</strong> früher<br />

Waffenvorräte barg, sollte <strong>der</strong><br />

letzte Aufbewahrungsort für das<br />

entwertete Ost-Geld sein. Doch<br />

in »den sichersten Ort <strong>der</strong> DDR«<br />

stiegen 2002 Diebe ein<br />

100 I<br />

Als die D-Mark kam<br />

Dokumentation zur deutsch-deutschen Währungsunion<br />

20 Jahre nach <strong>der</strong> deutsch-deutschen Währungsunion<br />

am 1. Juli 1990 zeigen Henriette<br />

de Maizière und Marcus Niehaves in einer<br />

»blickpunkt«-Reportage die großen Momente<br />

<strong>der</strong> historischen Zäsur. Sie sprechen mit<br />

Menschen, die damals eng an den Entscheidungen<br />

beteiligt waren – wie Theo Waigel,<br />

damals Finanzminister, Karl-Otto Pöhl, damals<br />

Chef <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>bank, Lothar de Maizière,<br />

erster frei gewählter Ministerpräsident<br />

<strong>der</strong> DDR, und mit Edgar Most, damals Vizepräsident<br />

<strong>der</strong> Staatsbank <strong>der</strong> DDR. Vier<br />

Architekten <strong>der</strong> Währungsunion. 20 Jahren<br />

ist das nun her.<br />

Der Anfang ist ein Puzzle. Bestehend aus 20 Würfeln.<br />

Schnell wird klar: Es handelt sich um Geld.<br />

Der Kopf von Karl Marx prangt auf dem überdimensionalen<br />

100-Ost-Mark-Schein, den wir uns<br />

für die Produktion haben bauen lassen. Auf <strong>der</strong><br />

Rückseite ist <strong>der</strong> alte West-Mark-Schein abgebildet.<br />

Obwohl, welche Seite ist bei einem Film über<br />

die Währungsunion 1990 eigentlich die Vor<strong>der</strong>-<br />

und welche die Rückseite?<br />

Das haben meist unsere Protagonisten selbst<br />

entschieden und damit oft Auskunft über sich ge-<br />

2010.Jahrbuch<br />

geben. Darauf hatten wir gehofft, als wir uns die<br />

Wand ausgedacht hatten: Erinnerungen wecken,<br />

ins Gespräch kommen und dabei ein optisch verbinden<strong>des</strong><br />

Element schaffen.<br />

Als dann die Würfel geliefert wurden, mussten wir<br />

schon ein bisschen schlucken. Da hatten wir uns<br />

ganz schön was ans Bein gebunden. Allein die<br />

Logistik für unsere Drehreise war ein Abenteuer.<br />

Doch <strong>der</strong> Aufwand hat sich gelohnt. Denn egal,<br />

wo wir die Wand aufbauten, waren die Menschen,<br />

unsere Interviewpartner genauso wie Passanten<br />

auf <strong>der</strong> Straße, in den Bann gezogen. Geschichte<br />

zum Anfassen.<br />

Karl-Otto Pöhl:<br />

»Die Leute haben eine Illusion gehabt in <strong>der</strong> DDR.<br />

Das war einer <strong>der</strong> ganz großen Irrtümer, dass sie<br />

geglaubt haben, dass sie mit <strong>der</strong> D-Mark auch den<br />

Lebensstandard von Westdeutschland erhielten.«<br />

Wir haben uns auf die Spuren <strong>der</strong> alten Ost-Mark<br />

und <strong>der</strong> ankommenden D-Mark gemacht. Wir<br />

haben einen Fahrer eines Geldtransporters getroffen,<br />

<strong>der</strong> auch heute noch mit seinem Wohnmobil<br />

die Strecken abfährt, die er damals mit bis zu drei<br />

Milliarden D-Mark im Laster befahren hat.<br />

Wir haben in Magdeburg Menschen getroffen, die<br />

nach <strong>der</strong> Währungsunion ihren Job beim Schwermaschinenkombinat<br />

»Ernst Thälmann« (»SKET«)<br />

verloren haben. Ihnen fällt es schwer, die Währungsunion<br />

und die darauf folgende Einheit von<br />

ihrem Schicksal zu trennen. Manche von ihnen<br />

sind immer noch sehr enttäuscht.<br />

Denn mit <strong>der</strong> Währungsunion ging auch die Wirtschaftsunion<br />

einher, die Umstellung von <strong>der</strong> Plan-<br />

zur Marktwirtschaft. Viele DDR-Betriebe waren


nicht konkurrenzfähig, erst recht nicht mit Einführung<br />

<strong>der</strong> D-Mark. So auch das »SKET« in Magdeburg,<br />

die ehemaligen Krupp-Gruson-Werke, die<br />

im Krieg schwer zerstört wurden. Später wurde<br />

daraus ein volkseigener Betrieb unter dem Namen<br />

»SKET«. Im Schwermaschinenkombinat »Ernst<br />

Thälmann« wurden Kräne produziert, ganze Stahlwerke.<br />

Hauptabnehmer war Osteuropa. Ein DDR-<br />

Vorzeigewerk wollten und sollten sie sein …<br />

»Thälmann-Werker« zu sein, das war etwas, worauf<br />

die Magdeburger stolz waren. Auch Elmar<br />

Skubovius. Doch als Leiter <strong>des</strong> Büros <strong>des</strong> Generaldirektors<br />

kannte er auch die Schattenseiten:<br />

»Auch dass wir hier die halbe Stadt Magdeburg<br />

mit Essen versorgt haben. Alle Krankenhäuser,<br />

alle Kin<strong>der</strong>einrichtungen, die Schulspeisung –<br />

alles wurde hier produziert. Auf unsere Kosten<br />

wohlgemerkt. Das alles sind so Dinge, die nicht<br />

gut gehen konnten.« Es ging nicht gut. »SKET« ist<br />

mit <strong>der</strong> Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion<br />

eingegangen.<br />

Theo Waigel:<br />

»Unter den gegebenen Umständen, die wir vorfanden,<br />

war die Entscheidung richtig und notwendig.<br />

Dass sie auch da und dort Verlierer mit sich bringt,<br />

ist wahrscheinlich unvermeidlich. Insgesamt ist<br />

die ganz große Mehrheit <strong>der</strong> Deutschen Gewinner<br />

dieses Prozesses.«<br />

Aber wir haben auch die Erfolgsgeschichten<br />

gefunden: »Vita Cola« in Schmalkalden. Nach<br />

<strong>der</strong> Wende wollte niemand das koffeinhaltige<br />

Getränk kaufen. Die Marke verschwand. Doch<br />

inzwischen gibt es sie wie<strong>der</strong>, in Thüringen sogar<br />

als Marktführer.<br />

Der wohl aufregendste Drehtag war <strong>der</strong> Himmelfahrtstag.<br />

Wir hatten die Genehmigung, unsere<br />

Geld-Wand vor <strong>der</strong> Leipziger Nikolaikirche aufzubauen.<br />

Dort, wo 1989 die Rufe »Wir sind das<br />

Volk« schallten, später »Wir sind ein Volk« und<br />

schließlich auch »Kommt die D-Mark, bleiben wir,<br />

kommt sie nicht, gehen wir zu ihr«. Hier wollten<br />

wir die Menschen von <strong>der</strong> Straße befragen. Wir<br />

haben es »Vox-Pop deluxe« genannt: Was haben<br />

die Menschen damals empfunden, welche Ängste<br />

begleiteten die Einführung <strong>der</strong> D-Mark? Welche<br />

Erinnerungen haben sie an das alte und an das<br />

neue Geld?<br />

Was wir erlebten, überwältigte uns. Wir haben die<br />

Menschen aufgefor<strong>der</strong>t, die Wand aufzubauen.<br />

Vier Frauen erklärten sich bereit. Das Puzzeln fiel<br />

ihnen schwer, aber die Deutsche Einheit war bei<br />

ihnen längst vollzogen: Die vier Frauen – zwei<br />

aus Bayern, zwei aus Sachsen – haben sich letztes<br />

Jahr im Sardinienurlaub kennengelernt. Nun<br />

wollen sie sich regelmäßig treffen, Freundinnen<br />

sind sie geworden. Fragen nach Spannungen<br />

zwischen Ost und West irritierten sie.<br />

Als die D-Mark kam<br />

Das Team auf dem Leipziger<br />

Nikolaikirchplatz: die Autoren mit<br />

Kameramann Roland Rippl, Kamerassistenten<br />

Dirk Schittkowski<br />

und Peter Schuster.<br />

Nicht immer klar, wo hinten o<strong>der</strong><br />

vorne ist: die Wand mit dem<br />

Ost- und Westmarkschein<br />

I 101


102 I<br />

O<strong>der</strong> das Pärchen: sie aus dem Osten, er aus<br />

dem Westen. Gemeinsam bauten sie die Wand,<br />

halfen einan<strong>der</strong> in großer Harmonie. Auf die Harmonie<br />

zwischen ihnen angesprochen, erzählte<br />

die Frau, sie seien Geschwister und 40 Jahre<br />

getrennt gewesen. Ihr Bru<strong>der</strong> habe sie gesucht,<br />

und gestern haben sie sich zum ersten Mal wie<strong>der</strong><br />

gesehen. Bei uns bauten sie dann gemeinsam<br />

die Wand auf. Ein Stück ihrer Geschichte. Geschichten<br />

über die Währungsunion, wie wir sie<br />

nicht hätten recherchieren können.<br />

2010.Jahrbuch<br />

Lothar de Maizière:<br />

»Es gibt keinen Königsweg in so einer Situation.<br />

Abgesehen davon, dass es in <strong>der</strong> DDR Hun<strong>der</strong>te<br />

Lehrbücher gab, wo man nachlesen konnte, wie<br />

man vom Markt zum Plan kommt. Es gab aber<br />

keinen Weg von Plan zum Markt, kein Buch, und<br />

das wusste auch in Westdeutschland keiner. Die<br />

hatten zwar ein teures Ministerium für gesamtdeutsche<br />

Fragen, aber keines für gesamtdeutsche<br />

Antworten.«

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