Das <strong>Anästhesie</strong>risiko ist <strong>bei</strong> Patienten mit myotoner Dystrophie deutlich erhöht. Die bulbäreMuskelschwäche kann zu Schluckstörungen führen, in Kombination mit Motilitätsstörungendes Gastrointestinaltrakts besteht eine erhöhte Aspirationsgefahr. ZahlreicheSubstanzen können myotone Reaktionen <strong>bei</strong> dieser Patientengruppe auslösen undbestimmte Anästhetika können zu langdauernden Apnoephasen führen [54]. In einerStudie <strong>bei</strong> Patienten im Alter von 3 - 58 Jahren mit insgesamt 49 Operationen wurde dieInzidenz <strong>Anästhesie</strong>-assoziierter Komplikationen retrospektiv untersucht [54]. In 16,3 %der Fälle kam es perioperativ zu Komplikationen, und in 26,5 % im postoperativenVerlauf. Ursächlich waren pulmonale (Atemdepression, Massetermuskelspasmus etc.)und kardiale (Myokardinfarkt und Herzrhythmusstörungen) Störungen als auch eineerhöhte Sensitivität gegenüber Anästhetika.Die Frage nach der Assoziation zwischen der myotonen Dystrophie und der MH ist bislangnicht abschließend geklärt [37, 55]. So konnten im in-vitro Kontrakturtest eindeutigpositive Resultate <strong>bei</strong> Patienten mit myotoner Dystrophie nachgewiesen werden,allerdings beschränken sich die Erfahrungen auf wenige Patienten.Der <strong>Anästhesie</strong> <strong>bei</strong> Patienten mit myotoner Dystrophie sollte eine umfassende Diagnostikentsprechend den Empfehlungen <strong>bei</strong> Muskeldystrophien vorangehen. AtemdepressorischeSubstanzen müssen <strong>bei</strong> der Prämedikation vermieden werden. Da Kälte myotoneReaktionen auslösen kann, müssen der Narkoseeinleitungsraum und der Operationssaalentsprechend geheizt sein. Gerade <strong>bei</strong> längeren <strong>Anästhesie</strong>zeiten sollten WärmesystemeVerwendung finden und auch die Infusionen gewärmt werden.Bei kardialer Beteiligung ist die Anlage eines temporären Schrittmachers empfehlenswert,da aufgrund komplexer Überleitungsstörungen Rhythmusstörungen und eine kardialeDekompensation möglich sind [10]. Der gestörte Schluckakt erhöht die Gefahr einerbronchopulmonalen Aspiration, einige Autoren empfehlen neben einer sog. "rapidsequence-induction"die prophylaktische Gabe von Antazida [54].Bei Gabe von Succinylcholin kann es zu myotonen Reaktionen mit erheblich verlängertenIntubationszeiten kommen [12, 56], die Substanz ist daher absolut kontraindiziert.Aufgrund der bislang ungeklärten Assoziation der myotonen Dystrophie mit der MHmüssen auch volatile Inhalationsanästhetika vermieden werden. Die Gabe von Propofolwurde kontrovers diskutiert, da über verlängerte Aufwachzeiten, aber auch die Induktionmyotoner Krisen berichtet wurde [57]. Neue Studien präsentierten allerdings schnelleAufwachzeiten und komplikationslose <strong>Anästhesie</strong>verläufe, so dass Propofol zur Einleitungund Aufrechterhaltung <strong>bei</strong> diesem Patientenkollektiv verwendet werden kann[58]. Alternativ ist der Einsatz regionalanästhesiologischer Verfahren zu erwägen. Daauch das postoperative Shivering eine myotone Krise provozieren kann, ist es von großerBedeutung eine Normothermie zu gewährleisten und bereits erste Anzeichen einesShiverings, z. B. mit Clonidin, konsequent zu therapieren.Myotonia congenitaDer Myotonia congenita liegt ein genetisch determinierter Defekt im Chloridkanal desSkelettmuskels zugrunde [12]. Bislang wurden mehr als 80 verschiedene Mutationen fürdas CLCN1-Gen auf Chromosom 7q, das für den spannungsabhängigen Chloridionenkanalder Skelettmuskulatur kodiert, beschrieben [59].Der Typ Thomsen wird autosomal-dominant vererbt und kann sich bereits kurz nach derGeburt manifestieren, der Typ Becker wird hingegen autosomal-rezessiv vererbt und trittmeist erst nach dem sechsten Lebensjahr auf. Im Gegensatz zur myotonen Dystrophiezeigt die Myotonia congenita keine extramuskulären Manifestationen und Progression.Klinisch ist die Erkrankung charakterisiert durch eine Muskelsteifigkeit in Kombinationmit einer gestörten Muskelerschlaffung aller Muskelgruppen.Aus anästhesiologischer Sicht ist es wichtig zu beachten, dass die myotone Symptomatikdurch Kälte verstärkt werden kann. Somit ist perioperativ auf die Aufrechterhaltung derNormothermie zu achten. Weiterhin tragen Frauen ein erhöhtes Risiko für eine Ver-70
schlechterung der Symptomatik während einer Schwangerschaft. In seltenen Fällen tretenSymptome auch nur während der Gravidität auf.Paramyotonia congenitaEine Sonderform stellt die Paramyotonia congenita dar, die einem autosomal-dominantenErbgang folgt. Ursächlich sind Mutationen im Gen für die α-Untereinheit des spannungsabhängigenmuskulären Natriumionenkanals (SCN4A auf dem Chromosom 17q23[60]. Im Gegensatz zur Myotonia congenita führt hier körperliche Anstrengung zu einerVerschlechterung der Symptome. Die Empfehlungen zur <strong>Anästhesie</strong> entsprechen denoben dargestellten für die Myotonia congenita. Triggersubstanzen der MH sind kontraindiziertebenso wie Medikamente, die indirekt eine Depolarisierung der Muskulaturauslösen (z. B. Cholinesterase-Inhibitoren), da hierdurch myotone Krisen resultierenkönnen.Central Core DiseaseDie Central Core Disease (CCD) wird autosomal dominant vererbt und ist charakterisiertdurch eine Störung von Aufbau und Funktion von Typ-I-Fasern der Skelettmuskulatur[39]. Das klinische Bild ist äußerst variabel und reicht von inapparenten Formen übereine milde proximale Schwäche bis hin zu einer starken muskulären Insuffizienz, die diebetroffenen Patienten gehunfähig macht. Neben der Myopathie werden <strong>bei</strong> Patienten mitCCD häufig Hüftgelenksluxationen, Kyphoskoliosen und Gelenkkontrakturen gefunden[38], daher kann die perioperative Lagerung erschwert sein.Die CCD ist die einzige neuromuskuläre Erkrankung, für die ein genetischer Zusammenhangmit der MH gesichert wurde. So konnte in molekulargenetischen Studien eineenge Kopplung zwischen dem Gen für die Central Core Disease und dem Ryanodin-Rezeptorgen nachgewiesen werden. Daher sind sämtliche MH-Triggersubstanzen <strong>bei</strong>dieser Patientengruppe absolut kontraindiziert [38], eine total intravenöse <strong>Anästhesie</strong> istjedoch sicher durchführbar [61].Myasthenia gravisDie Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, die durch eine Störung der <strong>neuromuskulären</strong>Signalübertragung an der motorischen Endplatte mit Abnahme der postsynaptischenAcetylcholinrezeptoren und Verbreiterung des synaptischen Spalts charakterisiertist [62]. Ursächlich ist in ca. 80 % der Fälle die Bildung von Autoantikörperngegen nikotinerge Acetylcholinrezeptoren der Skelettmuskulatur. Die Prävalenz derErkrankung liegt <strong>bei</strong> 25 – 100 pro 1 Million Einwohner in Europa [62]. Es werden altersadjustiertverschiedene Formen der Myasthenia gravis unterschieden (Tabelle 7 [63]).Obwohl sich die Erkrankung in jedem Alter manifestieren kann gibt es einen Altersgipfel<strong>bei</strong> Frauen im 3. Lebensjahrzehnt sowie <strong>bei</strong> Männern im 6. Lebensjahrzehnt.71