sie sogar verhältnismäßig schnell, weil ich mich damitbeschäftigte, die Anwesenden zu beobachten.Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte auch dieandern diese Bezeichnung gebrauchen, die ganz willkürlich war.Denn obwohl diese vier Menschen miteinander in entferntenverwandtschaftlichen Beziehungen standen, so gehörten siedoch in keiner Weise zusammen. Der Oheim, welcher neben mirsaß, war ein alter Mann, <strong>des</strong>sen hartes und verbranntes Gesichteinige schwarze Flecke zeigte, wie ich erfuhr, die Folgen einerexplodierten Pulverladung; mürrisch und malkontent wie er war,hatte er als Major seinen Abschied genommen, und nun machteer in einem mir unbekannten Raum <strong>des</strong> Schlosses alchymistischeVersuche, war auch, wie ich die <strong>Die</strong>ner sagen hörte, mit einemStockhause in Verbindung, von wo man ihm ein- oder zweimaljährlich Leichen zusandte, mit denen er sich Tage und Nächteeinschloß und die er zerschnitt und auf eine geheimnisvolle Artzubereitete, so daß sie der Verwesung widerstanden. Ihmgegenüber war der Platz <strong>des</strong> Fräuleins Mathilde Brahe. Es wardas eine Person von unbestimmtem Alter, eine entfernte Cousinemeiner Mutter, von der nichts bekannt war, als daß sie eine sehrrege Korrespondenz mit einem österreichischen Spiritistenunterhielt, der sich Baron Nolde nannte und dem sie vollkommenergeben war, so daß sie nicht das geringste unternahm, ohnevorher seine Zustimmung oder vielmehr etwas wie seinen Segeneinzuholen. Sie war zu jener Zeit außerordentlich stark, voneiner weichen, trägen Fülle, die gleichsam achtlos in ihre losen,hellen Kleider hineingegossen war; ihre Bewegungen warenmüde und unbestimmt; und ihre Augen flossen beständig über.Und trotzdem war etwas in ihr, das mich an meine zarte undschlanke Mutter erinnerte.Ich fand, je länger ich sie betrachtete, alle die feinen undleisen Züge in ihrem Gesichte, an die ich mich seit meiner MutterTode nie mehr recht hatte erinnern können; nun erst, seit ichMathilde Brahe täglich sah, wußte ich wieder, wie dieVerstorbene ausgesehen hatte; ja, ich wußte es vielleicht zumerstenmal. Nun erst setzte sich aus hundert und hundertEinzelheiten ein Bild der Toten in mir zusammen, jenes Bild, dasmich überall begleitet. Später ist es mir klar geworden, daß indem Gesicht <strong>des</strong> Fräuleins Brahe wirklich alle Einzelheiten
vorhanden waren, die die Züge meiner Mutter bestimmten, – siewaren nur, als ob ein frem<strong>des</strong> Gesicht sich dazwischengeschoben hätte, auseinandergedrängt, verbogen und nichtmehr in Verbindung miteinander.Neben dieser Dame saß der kleine Sohn einer Cousine, einKnabe, etwa gleichaltrig mit mir, aber kleiner und schwächlicher.Aus einer gefältelten Krause stieg sein dünner, blasser Hals undverschwand unter einem langen Kinn. Seine Lippen warenschmal und fest geschlossen, seine Nasenflügel zitterten leise,und von seinen schönen dunkelbraunen Augen war nur das einebeweglich. Es blickte manchmal ruhig und traurig zu mirherüber, während das andere immer in dieselbe Ecke gerichtetblieb, als wäre es verkauft und käme nicht mehr in Betracht.Am oberen Ende der Tafel stand der ungeheure Lehnsesselmeines Großvaters, den ein <strong>Die</strong>ner, der nichts anderes zu tunhatte, ihm unterschob und in dem der Greis nur einen geringenRaum einnahm. Es gab Leute, die diesen schwerhörigen undherrischen alten Herrn Exzellenz und Hofmarschall nannten,andere gaben ihm den Titel General. Und er besaß gewiß auchalle diese Würden, aber es war so lange her, seit er Ämterbekleidet hatte, daß diese Benennungen kaum mehr verständlichwaren. Mir schien es überhaupt, als ob an seiner in gewissenMomenten so scharfen und doch immer wieder aufgelöstenPersönlichkeit kein bestimmter Name haften könne. Ich konntemich nie entschließen, ihn Großvater zu nennen, obwohl erbisweilen freundlich zu mir war, ja mich sogar zu sich rief, wobeier meinem Namen eine scherzhafte Betonung zu gebenversuchte. Übrigens zeigte die ganze Familie ein aus Ehrfurchtund Scheu gemischtes Benehmen dem Grafen gegenüber, nurder kleine Erik lebte in einer gewissen Vertraulichkeit mit demgreisen Hausherrn; sein bewegliches Auge hatte zuzeiten rascheBlicke <strong>des</strong> Einverständnisses mit ihm, die ebensorasch von demGroßvater erwidert wurden; auch konnte man sie zuweilen inden langen Nachmittagen am Ende der tiefen Galerie auftauchensehen und beobachten, wie sie, Hand in Hand, die dunklen altenBildnisse entlang gingen, ohne zu sprechen, offenbar auf eineandere Weise sich verständigend.Ich befand mich fast den ganzen Tag im Parke und draußenin den Buchenwäldern oder auf der Heide; und es gab zum
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ganz hochgezogenen Augenbrauen. Dan
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auflachte und damit die ganze Angel
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überzeugen, wie mutig und jung Mam
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Mußte nicht Musik kommen in diese
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Freundinnen sind aber in derselben
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wenn wir unsere Erfolge verachteten
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es war. Aber dann fuhr man plötzli
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wäre es immer da. Maman sah zerstr
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Ein kurzer, wahnsinnig schmerzhafte
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daß es sich nicht um politische od
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»Er hätte gut mit einer Wahrheit
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efremdlich schien. Ich war damals s
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noch nie so klopfen hören: ein war
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daß sie mich damals mit ihm vergli
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einfiel, daß sie noch lebten; dann
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Es giebt ein Wesen, das vollkommen
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und die Sonntage brachte er nun dam
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Entsetzen: konnte das die Erde sein
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Aufstampfen, das hinzukam, etwas fa
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Gehen draußen auf dem Gang. Ach, d
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zuzwinkernd, die Verführung an, di
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schmale Leseband zu finden, das, m
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Bis hierher geht die Sache von selb
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gab kein Haus, wo man nicht wachte
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5 (Des Herzogs Narr war auch der er
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Kommende fort, und mir blieb nur ge
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»Nein, nicht die Antworten«, unte
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muß, ruft das Verhängnis aller Li
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heiter und unerwartet hoch in der W
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sind nie sehr hoch von einer Hoffnu
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es begriff, daß dies der König se
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Bibliothek und spielte allein. Gena
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seine Behandlung gestellt, aber er
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Damals erlebte ich, was ich jetzt b
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auszusagen und sich abzubiegen, so
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hat seine besonderen Einfälle und
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auszuhalten. Aber vor denen, die al
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zum Beispiel, die sehr viel stille
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Namen zuzuflüstern, der venezianis
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auch, sowie sie zu Worte kam. Das G
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die Zurückhaltung dieses überlege
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ganzen war man schon der, für den
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Baux und sah die versteinerte Zeit
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Erschrocken und schwankend hoben si
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Fußnoten1 Ein Briefentwurf.2 Im Ma