13.07.2015 Aufrufe

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge - Germanistik

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge - Germanistik

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge - Germanistik

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Männer, die einmal in der Schulzeit das hülflose Laster versuchthaben, <strong>des</strong>sen betrogene Vertraute die armen, hartenKnabenhände sind, finden sich wieder darüber, oder es fängteine Krankheit, die sie als Kinder überwunden haben, wieder inihnen an; oder eine verlorene Gewohnheit ist wieder da, eingewisses zögern<strong>des</strong> Wenden <strong>des</strong> Kopfes, das ihnen vor Jahreneigen war. Und mit dem, was kommt, hebt sich ein ganzesGewirr irrer Erinnerungen, das daranhängt wie nasser Tang aneiner versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahrenhätte, tauchen empor und mischen sich unter das, was wirklichgewesen ist, und verdrängen Vergangenes, das man zu kennenglaubte: denn in dem, was aufsteigt, ist eine ausgeruhte, neueKraft, das aber, was immer da war, ist müde von zu oftemErinnern.Ich liege in meinem Bett, fünf Treppen hoch, und mein Tag,den nichts unterbricht, ist wie ein Zifferblatt ohne Zeiger. Wie einDing, das lange verloren war, eines Morgens auf seiner Stelleliegt, geschont und gut, neuer fast als zur Zeit <strong>des</strong> Verlustes,ganz als ob es bei irgend jemandem in Pflege gewesen wäre –:so liegt da und da auf meiner Bettdecke Verlorenes aus derKindheit und ist wie neu. Alle verlorenen Ängste sind wieder da.<strong>Die</strong> Angst, daß ein kleiner Wollfaden, der aus dem Saum derDecke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerneNadel; die Angst, daß dieser kleine Knopf meines Nachthem<strong>des</strong>größer sei als mein Kopf, groß und schwer; die Angst, daß diesesKrümchen Brot, das jetzt von meinem Bette fällt, gläsern undzerschlagen unten ankommen würde, und die drückende Sorge,daß damit eigentlich alles zerbrochen sei, alles für immer; dieAngst, daß der Streifen Rand eines aufgerissenen Briefes etwasVerbotenes sei, das niemand sehen dürfe, etwas unbeschreiblichKostbares, für das keine Stelle in der Stube sicher genug sei; dieAngst, daß ich, wenn ich einschliefe, das Stück Kohleverschlucken würde, das vor dem Ofen liegt; die Angst, daßirgendeine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sienicht mehr Raum hat in mir; die Angst, daß das Granit sei,worauf ich liege, grauer Granit; die Angst, daß ich schreienkönnte und daß man vor meiner Türe zusammenliefe und sieschließlich aufbräche, die Angst, daß ich mich verraten könnteund alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, daß

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!