Männer, die einmal in der Schulzeit das hülflose Laster versuchthaben, <strong>des</strong>sen betrogene Vertraute die armen, hartenKnabenhände sind, finden sich wieder darüber, oder es fängteine Krankheit, die sie als Kinder überwunden haben, wieder inihnen an; oder eine verlorene Gewohnheit ist wieder da, eingewisses zögern<strong>des</strong> Wenden <strong>des</strong> Kopfes, das ihnen vor Jahreneigen war. Und mit dem, was kommt, hebt sich ein ganzesGewirr irrer Erinnerungen, das daranhängt wie nasser Tang aneiner versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahrenhätte, tauchen empor und mischen sich unter das, was wirklichgewesen ist, und verdrängen Vergangenes, das man zu kennenglaubte: denn in dem, was aufsteigt, ist eine ausgeruhte, neueKraft, das aber, was immer da war, ist müde von zu oftemErinnern.Ich liege in meinem Bett, fünf Treppen hoch, und mein Tag,den nichts unterbricht, ist wie ein Zifferblatt ohne Zeiger. Wie einDing, das lange verloren war, eines Morgens auf seiner Stelleliegt, geschont und gut, neuer fast als zur Zeit <strong>des</strong> Verlustes,ganz als ob es bei irgend jemandem in Pflege gewesen wäre –:so liegt da und da auf meiner Bettdecke Verlorenes aus derKindheit und ist wie neu. Alle verlorenen Ängste sind wieder da.<strong>Die</strong> Angst, daß ein kleiner Wollfaden, der aus dem Saum derDecke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerneNadel; die Angst, daß dieser kleine Knopf meines Nachthem<strong>des</strong>größer sei als mein Kopf, groß und schwer; die Angst, daß diesesKrümchen Brot, das jetzt von meinem Bette fällt, gläsern undzerschlagen unten ankommen würde, und die drückende Sorge,daß damit eigentlich alles zerbrochen sei, alles für immer; dieAngst, daß der Streifen Rand eines aufgerissenen Briefes etwasVerbotenes sei, das niemand sehen dürfe, etwas unbeschreiblichKostbares, für das keine Stelle in der Stube sicher genug sei; dieAngst, daß ich, wenn ich einschliefe, das Stück Kohleverschlucken würde, das vor dem Ofen liegt; die Angst, daßirgendeine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sienicht mehr Raum hat in mir; die Angst, daß das Granit sei,worauf ich liege, grauer Granit; die Angst, daß ich schreienkönnte und daß man vor meiner Türe zusammenliefe und sieschließlich aufbräche, die Angst, daß ich mich verraten könnteund alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, daß
ich nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist, – und dieanderen Ängste... die Ängste.Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie istwiedergekommen, und ich fühle, daß sie immer noch so schwerist wie damals und daß es nichts genützt hat, älter zu werden.Gestern war mein Fieber besser, und heute fängt der Tag wieFrühling an, wie Frühling in Bildern. Ich will versuchen,auszugehen in die Bibliothèque Nationale zu meinem Dichter,den ich so lange nicht gelesen habe, und vielleicht kann ichspäter langsam durch die Gärten gehen. Vielleicht ist Wind überdem großen Teich, der so wirkliches Wasser hat, und eskommen Kinder, die ihre Schiffe mit den roten Segelnhineinlassen und zuschauen.Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutigausgegangen, als wäre das das Natürlichste und Einfachste. Unddoch, es war wieder etwas da, das mich nahm wie Papier, michzusammenknüllte und fortwarf, es war etwas Unerhörtes da.Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es ging sichleicht auf seiner leisen Neigung. Fensterflügel oben öffneten sichmit gläsernem Aufklang, und ihr Glänzen flog wie ein weißerVogel über die Straße. Ein Wagen mit hellroten Rädern kamvorüber, und weiter unten trug jemand etwas Lichtgrünes.Pferde liefen in blinkernden Geschirren auf dem dunkelgespritzten Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt, neu,mild, und alles stieg auf: Gerüche, Rufe, Glocken.Ich kam an einem der Caféhäuser vorbei, in denen am Abenddie falschen roten Zigeuner spielen. Aus den offenen Fensternkroch mit schlechtem Gewissen die übernächtige Luft.Glattgekämmte Kellner waren dabei, vor der Türe zu scheuern.Der eine stand gebückt und warf, handvoll nach handvoll,gelblichen Sand unter die Tische. Da stieß ihn einer von denVorübergehenden an und zeigte die Straße hinunter. Der Kellner,der ganz rot im Gesicht war, schaute eine Weile scharf hin, dannverbreitete sich ein Lachen auf seinen bartlosen Wangen, alswäre es darauf verschüttet worden. Er winkte den andernKellnern, drehte das lachende Gesicht ein paarmal schnell vonrechts nach links, um alle herbeizurufen und selbst nichts zuversäumen. Nun standen alle und blickten hinuntersehend
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daß es sich nicht um politische od
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»Er hätte gut mit einer Wahrheit
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efremdlich schien. Ich war damals s
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noch nie so klopfen hören: ein war
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daß sie mich damals mit ihm vergli
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einfiel, daß sie noch lebten; dann
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Es giebt ein Wesen, das vollkommen
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und die Sonntage brachte er nun dam
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Entsetzen: konnte das die Erde sein
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Aufstampfen, das hinzukam, etwas fa
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Gehen draußen auf dem Gang. Ach, d
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zuzwinkernd, die Verführung an, di
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schmale Leseband zu finden, das, m
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Bis hierher geht die Sache von selb
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gab kein Haus, wo man nicht wachte
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5 (Des Herzogs Narr war auch der er
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Kommende fort, und mir blieb nur ge
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»Nein, nicht die Antworten«, unte
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muß, ruft das Verhängnis aller Li
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heiter und unerwartet hoch in der W
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sind nie sehr hoch von einer Hoffnu
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es begriff, daß dies der König se
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Bibliothek und spielte allein. Gena
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seine Behandlung gestellt, aber er
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Damals erlebte ich, was ich jetzt b
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auszusagen und sich abzubiegen, so
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hat seine besonderen Einfälle und
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auszuhalten. Aber vor denen, die al
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zum Beispiel, die sehr viel stille
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Namen zuzuflüstern, der venezianis
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auch, sowie sie zu Worte kam. Das G
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die Zurückhaltung dieses überlege
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ganzen war man schon der, für den
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Baux und sah die versteinerte Zeit
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Erschrocken und schwankend hoben si
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Fußnoten1 Ein Briefentwurf.2 Im Ma