Existenzen, auf dem Boulevard Saint-Michel zum Beispiel und inder rue Racine, die lassen sich nicht irremachen, die pfeifen aufdie Gelenke. <strong>Die</strong> sehen mich an und wissen es. <strong>Die</strong> wissen, daßich eigentlich zu ihnen gehöre, daß ich nur ein bißchen Komödiespiele. Es ist ja Fasching. Und sie wollen mir den Spaß nichtverderben; sie grinsen nur so ein bißchen und zwinkern mit denAugen. Kein Mensch hats gesehen. Im übrigen behandeln siemich wie einen Herrn. Es muß nur jemand in der Nähe sein,dann tun sie sogar untertänig. Tun, als ob ich einen Pelz anhätteund mein Wagen hinter mir herführe. Manchmal gebe ich ihnenzwei Sous und zittere, sie könnten sie abweisen; aber sienehmen sie an. Und es wäre alles in Ordnung, wenn sie nichtwieder ein wenig gegrinst und gezwinkert hätten. Wer sind dieseLeute? Was wollen sie von mir? Warten sie auf mich? Woranerkennen sie mich? Es ist wahr, mein Bart sieht etwasvernachlässigt aus, und ein ganz, ganz klein wenig erinnert er anihre kranken, alten, verblichenen Bärte, die mir immer Eindruckgemacht haben. Aber habe ich nicht das Recht, meinen Bart zuvernachlässigen? Viele beschäftigte Menschen tun das, und esfällt doch niemandem ein, sie <strong>des</strong>halb gleich zu denFortgeworfenen zu zählen. Denn das ist mir klar, daß das dieFortgeworfenen sind, nicht nur Bettler; nein, es sind eigentlichkeine Bettler, man muß Unterschiede machen. Es sind Abfälle,Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespieen hat.Feucht vom Speichel <strong>des</strong> Schicksals kleben sie an einer Mauer,an einer Laterne, an einer Plakatsäule, oder sie rinnen langsamdie Gasse herunter mit einer dunklen, schmutzigen Spur hintersich her. Was in aller Welt wollte diese Alte von mir, die, miteiner Nachttischschublade, in der einige Knöpfe und Nadelnherumrollten, aus irgendeinem Loch herausgekrochen war?Weshalb ging sie immer neben mir und beobachtete mich? Alsob sie versuchte, mich zu erkennen mit ihren Triefaugen, dieaussahen, als hätte ihr ein Kranker grünen Schleim in dieblutigen Lider gespuckt. Und wie kam damals jene graue, kleineFrau dazu, eine Viertelstunde lang vor einem Schaufenster anmeiner Seite zu stehen, während sie mir einen alten, langenBleistift zeigte, der unendlich langsam aus ihren schlechten,geschlossenen Händen sich herausschob. Ich tat, als betrachteteich die ausgelegten Sachen und merkte nichts. Sie aber wußte,
daß ich sie gesehen hatte, sie wußte, daß ich stand undnachdachte, was sie eigentlich täte. Denn daß es sich nicht umden Bleistift handeln konnte, begriff ich wohl: ich fühlte, daß dasein Zeichen war, ein Zeichen für Eingeweihte, ein Zeichen, dasdie Fortgeworfenen kennen; ich ahnte, sie bedeutete mir, ichmüßte irgendwohin kommen oder etwas tun. Und dasSeltsamste war, daß ich immerfort das Gefühl nicht los wurde, esbestünde tatsächlich eine gewisse Verabredung, zu der diesesZeichen gehörte, und diese Szene wäre im Grunde etwas, wasich hätte erwarten müssen.Das war vor zwei Wochen. Aber nun vergeht fast kein Tagohne eine solche Begegnung. Nicht nur in der Dämmerung, amMittag in den dichtesten Straßen geschieht es, daß plötzlich einkleiner Mann oder eine alte Frau da ist, nickt, mir etwas zeigtund wieder verschwindet, als wäre nun alles Nötige getan. Es istmöglich, daß es ihnen eines Tages einfällt, bis in meine Stube zukommen, sie wissen bestimmt, wo ich wohne, und sie werden esschon einrichten, daß der Concierge sie nicht aufhält. Aber hier,meine Lieben, hier bin ich sicher vor euch. Man muß einebesondere Karte haben, um in diesen Saal eintreten zu können.<strong>Die</strong>se Karte habe ich vor euch voraus. Ich gehe ein wenig scheu,wie man sich denken kann, durch die Straßen, aber schließlichstehe ich vor einer Glastür, öffne sie, als ob ich zuhause wäre,weise an der nächsten Tür meine Karte vor (ganz genau wie ihrmir eure Dinge zeigt, nur mit dem Unterschiede, daß man michversteht und begreift, was ich meine –), und dann bin ichzwischen diesen Büchern, bin euch weggenommen, als ob ichgestorben wäre, und sitze und lese einen Dichter.Ihr wißt nicht, was das ist, ein Dichter? – Verlaine... Nichts?Keine Erinnerung? Nein. Ihr habt ihn nicht unterschieden unterdenen, die ihr kanntet? Unterschiede macht ihr keine, ich weiß.Aber es ist ein anderer Dichter, den ich lese, einer, der nicht inParis wohnt, ein ganz anderer. Einer, der ein stilles Haus hat imGebirge. Der klingt wie eine Glocke in reiner Luft. Ein glücklicherDichter, der von seinem Fenster erzählt und von den Glastürenseines Bücherschrankes, die eine liebe, einsame Weitenachdenklich spiegeln. Gerade der Dichter ist es, der ich hättewerden wollen; denn er weiß von den Mädchen so viel, und ichhätte auch viel von ihnen gewußt. Er weiß von Mädchen, die vor
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auflachte und damit die ganze Angel
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Mußte nicht Musik kommen in diese
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Freundinnen sind aber in derselben
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Ein kurzer, wahnsinnig schmerzhafte
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daß es sich nicht um politische od
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»Er hätte gut mit einer Wahrheit
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efremdlich schien. Ich war damals s
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noch nie so klopfen hören: ein war
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daß sie mich damals mit ihm vergli
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einfiel, daß sie noch lebten; dann
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Es giebt ein Wesen, das vollkommen
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Entsetzen: konnte das die Erde sein
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Aufstampfen, das hinzukam, etwas fa
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Gehen draußen auf dem Gang. Ach, d
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zuzwinkernd, die Verführung an, di
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schmale Leseband zu finden, das, m
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Bis hierher geht die Sache von selb
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gab kein Haus, wo man nicht wachte
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5 (Des Herzogs Narr war auch der er
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Kommende fort, und mir blieb nur ge
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»Nein, nicht die Antworten«, unte
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muß, ruft das Verhängnis aller Li
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heiter und unerwartet hoch in der W
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sind nie sehr hoch von einer Hoffnu
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es begriff, daß dies der König se
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Bibliothek und spielte allein. Gena
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seine Behandlung gestellt, aber er
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Damals erlebte ich, was ich jetzt b
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auszusagen und sich abzubiegen, so
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hat seine besonderen Einfälle und
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auszuhalten. Aber vor denen, die al
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zum Beispiel, die sehr viel stille
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Namen zuzuflüstern, der venezianis
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auch, sowie sie zu Worte kam. Das G
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die Zurückhaltung dieses überlege
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ganzen war man schon der, für den
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Baux und sah die versteinerte Zeit
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Erschrocken und schwankend hoben si
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Fußnoten1 Ein Briefentwurf.2 Im Ma