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Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge - Germanistik

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hundert Jahren gelebt haben; es tut nichts mehr, daß sie totsind, denn er weiß alles. Und das ist die Hauptsache. Er sprichtihre Namen aus, diese leisen, schlankgeschriebenen Namen mitden altmodischen Schleifen in den langen Buchstaben und dieerwachsenen Namen ihrer älteren Freundinnen, in denen schonein klein wenig Schicksal mitklingt, ein klein wenig Enttäuschungund Tod. Vielleicht liegen in einem Fach seinesMahagonischreibtisches ihre verblichenen Briefe und die gelöstenBlätter ihrer Tagebücher, in denen Geburtstage stehen,Sommerpartien, Geburtstage. Oder es kann sein, daß es in derbauchigen Kommode im Hintergrunde seines Schlafzimmers eineSchublade giebt, in der ihre Frühjahrskleider aufgehoben sind;weiße Kleider, die um Ostern zum erstenmal angezogen wurden,Kleider aus getupftem Tüll, die eigentlich in den Sommergehören, den man nicht erwarten konnte. O was für einglückliches Schicksal, in der stillen Stube eines ererbten Hauseszu sitzen unter lauter ruhigen, seßhaften Dingen und draußen imleichten, lichtgrünen Garten die ersten Meisen zu hören, die sichversuchen, und in der Ferne die Dorfuhr. Zu sitzen und auf einenwarmen Streifen Nachmittagssonne zu sehen und vieles vonvergangenen Mädchen zu wissen und ein Dichter zu sein. Und zudenken, daß ich auch so ein Dichter geworden wäre, wenn ichirgendwo hätte wohnen dürfen, irgendwo auf der Welt, in einemvon den vielen verschlossenen Landhäusern, um die sichniemand bekümmert. Ich hätte ein einziges Zimmer gebraucht(das lichte Zimmer im Giebel). Da hätte ich drinnen gelebt mitmeinen alten Dingen, den Familienbildern, den Büchern. Undeinen Lehnstuhl hätte ich gehabt und Blumen und Hunde undeinen starken Stock für die steinigen Wege. Und nichts sonst.Nur ein Buch in gelbliches, elfenbeinfarbiges Leder gebunden miteinem alten blumigen Muster als Vorsatz: dahinein hätte ichgeschrieben. Ich hätte viel geschrieben, denn ich hätte vieleGedanken gehabt und Erinnerungen von Vielen.Aber es ist anders gekommen, Gott wird wissen, warum.Meine alten Möbel faulen in einer Scheune, in die ich sie habestellen dürfen, und ich selbst, ja, mein Gott, ich habe kein Dachüber mir, und es regnet mir in die Augen.

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