hundert Jahren gelebt haben; es tut nichts mehr, daß sie totsind, denn er weiß alles. Und das ist die Hauptsache. Er sprichtihre Namen aus, diese leisen, schlankgeschriebenen Namen mitden altmodischen Schleifen in den langen Buchstaben und dieerwachsenen Namen ihrer älteren Freundinnen, in denen schonein klein wenig Schicksal mitklingt, ein klein wenig Enttäuschungund Tod. Vielleicht liegen in einem Fach seinesMahagonischreibtisches ihre verblichenen Briefe und die gelöstenBlätter ihrer Tagebücher, in denen Geburtstage stehen,Sommerpartien, Geburtstage. Oder es kann sein, daß es in derbauchigen Kommode im Hintergrunde seines Schlafzimmers eineSchublade giebt, in der ihre Frühjahrskleider aufgehoben sind;weiße Kleider, die um Ostern zum erstenmal angezogen wurden,Kleider aus getupftem Tüll, die eigentlich in den Sommergehören, den man nicht erwarten konnte. O was für einglückliches Schicksal, in der stillen Stube eines ererbten Hauseszu sitzen unter lauter ruhigen, seßhaften Dingen und draußen imleichten, lichtgrünen Garten die ersten Meisen zu hören, die sichversuchen, und in der Ferne die Dorfuhr. Zu sitzen und auf einenwarmen Streifen Nachmittagssonne zu sehen und vieles vonvergangenen Mädchen zu wissen und ein Dichter zu sein. Und zudenken, daß ich auch so ein Dichter geworden wäre, wenn ichirgendwo hätte wohnen dürfen, irgendwo auf der Welt, in einemvon den vielen verschlossenen Landhäusern, um die sichniemand bekümmert. Ich hätte ein einziges Zimmer gebraucht(das lichte Zimmer im Giebel). Da hätte ich drinnen gelebt mitmeinen alten Dingen, den Familienbildern, den Büchern. Undeinen Lehnstuhl hätte ich gehabt und Blumen und Hunde undeinen starken Stock für die steinigen Wege. Und nichts sonst.Nur ein Buch in gelbliches, elfenbeinfarbiges Leder gebunden miteinem alten blumigen Muster als Vorsatz: dahinein hätte ichgeschrieben. Ich hätte viel geschrieben, denn ich hätte vieleGedanken gehabt und Erinnerungen von Vielen.Aber es ist anders gekommen, Gott wird wissen, warum.Meine alten Möbel faulen in einer Scheune, in die ich sie habestellen dürfen, und ich selbst, ja, mein Gott, ich habe kein Dachüber mir, und es regnet mir in die Augen.
Manchmal gehe ich an kleinen Läden vorbei in der rue de Seineetwa. Händler mit Altsachen oder kleine Buchantiquare oderKupferstichverkäufer mit überfüllten Schaufenstern. Nie trittjemand bei ihnen ein, sie machen offenbar keine Geschäfte.Sieht man aber hinein, so sitzen sie, sitzen und lesen, unbesorgt;sorgen nicht um morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen,haben einen Hund, der vor ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eineKatze, die die Stille noch größer macht, indem sie dieBücherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen vonden Rücken.Ach, wenn das genügte: ich wünschte manchmal, mir so einvolles Schaufenster zu kaufen und mich mit einem Hunddahinterzusetzen für zwanzig Jahre.Es ist gut, es laut zu sagen: »Es ist nichts geschehen.« Nocheinmal: »Es ist nichts geschehen.« Hilft es?Daß mein Ofen wieder einmal geraucht hat und ich ausgehenmußte, das ist doch wirklich kein Unglück. Daß ich mich mattund erkältet fühle, hat nichts zu bedeuten. Daß ich den ganzenTag in den Gassen umhergelaufen bin, ist meine eigene Schuld.Ich hätte ebensogut im Louvre sitzen können. Oder nein, dashätte ich nicht. Dort sind gewisse Leute, die sich wärmen wollen.Sie sitzen auf den Samtbänken, und ihre Füße stehen wie großeleere Stiefel nebeneinander auf den Gittern der Heizungen. Essind äußerst bescheidene Männer, die dankbar sind, wenn die<strong>Die</strong>ner in den dunklen Uniformen mit den vielen Orden siedulden. Aber wenn ich eintrete, so grinsen sie. Grinsen undnicken ein wenig. Und dann, wenn ich vor den Bildern hin undher gehe, behalten sie mich im Auge, immer im Auge, immer indiesem umgerührten, zusammengeflossenen Auge. Es war alsogut, daß ich nicht ins Louvre gegangen bin. Ich bin immerunterwegs gewesen. Weiß der Himmel in wie vielen Städten,Stadtteilen, Friedhöfen, Brücken und Durchgängen. Irgendwohabe ich einen Mann gesehen, der einen Gemüsewagen vor sichherschob. Er schrie: Chou-fleur, Chou-fleur, das fleur miteigentümlich trübem eu. Neben ihm ging eine eckige, häßlicheFrau, die ihn von Zeit zu Zeit anstieß. Und wenn sie ihn anstieß,so schrie er. Manchmal schrie er auch von selbst, aber dann wares umsonst gewesen, und er mußte gleich darauf wieder
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auflachte und damit die ganze Angel
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überzeugen, wie mutig und jung Mam
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Mußte nicht Musik kommen in diese
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Freundinnen sind aber in derselben
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daß es sich nicht um politische od
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»Er hätte gut mit einer Wahrheit
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efremdlich schien. Ich war damals s
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noch nie so klopfen hören: ein war
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daß sie mich damals mit ihm vergli
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einfiel, daß sie noch lebten; dann
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Es giebt ein Wesen, das vollkommen
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Entsetzen: konnte das die Erde sein
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Aufstampfen, das hinzukam, etwas fa
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Gehen draußen auf dem Gang. Ach, d
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zuzwinkernd, die Verführung an, di
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schmale Leseband zu finden, das, m
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Bis hierher geht die Sache von selb
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gab kein Haus, wo man nicht wachte
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5 (Des Herzogs Narr war auch der er
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Kommende fort, und mir blieb nur ge
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»Nein, nicht die Antworten«, unte
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muß, ruft das Verhängnis aller Li
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heiter und unerwartet hoch in der W
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sind nie sehr hoch von einer Hoffnu
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es begriff, daß dies der König se
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Bibliothek und spielte allein. Gena
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seine Behandlung gestellt, aber er
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Damals erlebte ich, was ich jetzt b
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auszusagen und sich abzubiegen, so
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hat seine besonderen Einfälle und
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auszuhalten. Aber vor denen, die al
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zum Beispiel, die sehr viel stille
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Namen zuzuflüstern, der venezianis
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auch, sowie sie zu Worte kam. Das G
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die Zurückhaltung dieses überlege
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ganzen war man schon der, für den
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Baux und sah die versteinerte Zeit
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Erschrocken und schwankend hoben si
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Fußnoten1 Ein Briefentwurf.2 Im Ma