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Vom Umgang mit dem Stigma einer „Nazi-Stadt“. - Stadtgespräche ...

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Die Tage danachDie Auseinandersetzungen in Lichtenhagen gingen weiter. DieNazis und „erlebnisorientierte Jugendliche“ lieferten sich mangelsMigrantInnen bis Mittwoch oder Donnerstag Straßenschlachten<strong>mit</strong> der Polizei, zündeten Autos an und randalierten.Jetzt fingen auch BewohnerInnen Lichtenhagens an, zuden Ausschreitungen auf Distanz zu gehen. Schließlich ging esdiesmal um ihr Eigentum. Gleichzeitig fand Dienstagabend inder Rostocker Innenstadt eine vom DGB organisierte Solidaritäts<strong>dem</strong>o<strong>mit</strong> ca. 800 TeilnehmerInnen statt. Wir sind zwarhingegangen, aber unsere Enttäuschung, dass die „Zivilgesellschaft“erst jetzt reagierte, konnten wir nicht verbergen. Dienstagnachtbrannte in Groß Klein das „Max“, Treffpunkt der RostockerNazi-Szene.Die Situation entspannte sich keineswegs. Für den darauffolgendenSamstag haben wir eine Groß<strong>dem</strong>onstration unter <strong>dem</strong>Motto „Stoppt die Pogrome. Solidarität <strong>mit</strong> den Flüchtlingen.Bleiberecht für alle“ in Lichtenhagen organisiert, für derenVorbereitung uns nur wenige Tage blieben. Gleichzeitig warenüberall in der Stadt größere Nazi-Gruppen unterwegs. Ständigwurde, nach<strong>dem</strong> die Flüchtlinge und VietnamesInnen erfolgreichvertrieben worden sind, <strong>mit</strong> Angriffen auf linke Zentrenund Häuser gerechnet. Zu Auseinandersetzungen <strong>mit</strong> Nazi-Gruppen kam es überall in der Stadt. Zum Ende der Woche hatsich dann die Stadtverwaltung positioniert und Flyer verteilt,<strong>mit</strong> denen die Rostocker Bevölkerung dazu aufgefordert wurde,Menschenansammlungen am Wochenende fern zu bleibenund sich nicht in Gefahr zu begeben. Solche Flyer hatten wireine Woche vorher, als die Aufrufe zu <strong>dem</strong> rassistischen Pogromveröffentlicht wurden, vermisst.Die Groß<strong>dem</strong>onstrationAm Samstag, den 29. August 1992, befand sich Rostock in einemBelagerungszustand. Tausende Polizeibeamte aus <strong>dem</strong> gesamtenBundesgebiet waren auf einmal verfügbar, schweres Gerätwurde angefahren. Der Hamburger Bus-Konvoi wurde inBad Doberan von einem massiven Polizeiaufgebot aufgehalten.Erst nach<strong>dem</strong> die DemonstrantInnen den Molli besetzt hatten,wurde ihnen die Weiterfahrt „gestattet“. Es waren am Ende20.000 AntifaschistInnen, die durch Lichtenhagen und LüttenKlein kraftvoll und entschlossen <strong>dem</strong>onstriert haben, ein politischerErfolg.Die FolgenAuf der politischen Bühne wurde das Pogrom von Lichtenhagenals Begründung für die Abschaffung des Asylrechts missbraucht.In Rostock und überall in Ostdeutschland und partiellauch im Westen eskalierten die Angriffe auf MigrantInnen undFlüchtlingsunterkünfte im Herbst 1992. In Rostock kam esjetzt fast täglich zu Auseinandersetzungen <strong>mit</strong> Nazis. Im Oktober1992 verübten Nazis einen Brandanschlag auf das JAZ.Für uns war klar, dass an der Situation nur durch eine Dreifach-Strategie etwas geändert werden konnte. In Rostock musstedurch eine breite und effektive Bündnisarbeit ein Anti-Nazi-Konsens geschaffen werden. Rostock musste sich eindeutig zuseinen migrantischen BürgerInnen bekennen und vor allem ander Unterbringung von Flüchtlingen etwas ändern, Stichwortdezentrale Unterbringung. Und der Nazi-Terror auf den Straßenkonnte nur durch militante antifaschistische Gegenwehrgestoppt werden.Diese Strategie ist weitgehend aufgegangen. In der Stadtverwaltung,in den Parteien und in der Zivilgesellschaft gab es viele,die ernsthaft und nicht nur aus Imagegründen gegen das Nazi-Problemvorgehen wollten und <strong>mit</strong> denen wir über Jahre erfolgreicheBündnisarbeit betreiben konnten. Die Unterbringungder Flüchtlinge hat sich verbessert. Rostock war eine derersten Kommunen in Mecklenburg-Vorpommern, die sich zurdezentralen und innenstadtnahen Unterbringung bekannt hat.Auch konnte zumindest für einen Teil der VietnamesInnen gegenden Widerstand der CDU-geführten Landesregierung einBleiberecht durchgesetzt werden. Schließlich konnte durch militanteAntifa-Arbeit bis Mitte der Neunziger Jahre erreichtwerden, dass zumindest die Innenstadtbezirke weitgehend sichervor Nazi-Terror waren. Nazis haben sich in der Zeit nurnoch in größeren Gruppen in die Innenstadt getraut. Späterhat sich auch die Situation in den Neubauvierteln verbessert.Die Frage, ob die Geschichte anders hätte verlaufen können,wenn wir damals noch mehr riskiert hätten, ist aber bis heuteunbeantwortet und wird es wohl auch bleiben. ¬--1 Vgl. http://doku.iab.de/<strong>mit</strong>tab/1992/1992_3_<strong>mit</strong>tab_heseler_warich.pdf.2 Das Schimpfwort vom „Roten Norden“ war vor allem in Sachsenbeliebt. Im Herbst 1989 soll man dort <strong>mit</strong> einem A-Nummernschild(Kfz-Kennzeichen für den Bezirk Rostock) an denTankstellen keinen Sprit mehr bekommen haben.3 So titelte DER SPIEGEL seine Ausgabe vom 09.09.2011 <strong>mit</strong>einem überfüllten schwarz-rot-gold-gestreiften Boot und <strong>dem</strong>Schriftzug „Flüchtlinge Ausländer Asylanten – der Ansturm derArmen“; die FAZ sprach in ihrer Ausgabe vom 8.11.1991 von„Asyl-Touristen“, die Bild-Zeitung dramatisierte <strong>mit</strong> „Fast jedeMinute ein neuer Asylant – Die Flut steigt, wann sinkt dasBoot?“ (2.4.1992), um nur einige Beispiele zu nennen.4 Es kann auch Januar 1990 sein, der Autor ist sich nicht mehrganz sicher.

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