00.8 __ //// TITELTHEMA: RÜCKBLICKsammensetzung der AktivistInnen war sehr heterogen, das Geschehenzu unübersichtlich, die Erfahrungen zu unterschiedlich.Viele kannten sich nicht. Schließlich ging es im Endeffektum die Frage, ob man bereit ist, das Sonnenblumenhaus auf offenerWiese militant gegen einen rassistischen Mob von 2000Schaulustigen und 500 gewalttätigen Neonazis zu verteidigen.Am frühen Abend fuhren ca. 150 bis 200 AntifaschistInnennach Lichtenhagen und sammelten sich auf der Nordseite desSonnenblumenhauses. Da sie sich vor Ort nicht schnell genugüber das weitere Vorgehen einigen konnten und sie auch relativschnell von Nazis entdeckt wurden, entschloss man sich zunächst,wieder zurückzufahren.Als in den Abendstunden die Angriffe eskalierten, fuhren wirnoch mal raus, diesmal in <strong>einer</strong> Gruppe von ca. 300 Leutenund entschlossen, die Nazis zu vertreiben. Es war so gegen Mitternacht.Vorangegangen waren langwierige Plenas im JAZ-Garten: Fahren wir raus? Wie fahren wir raus? Was machenwir dort? Wozu sind die Leute bereit? Die Diskussion zog sicheine gefühlte Ewigkeit hin. Endlich sind wir dann rausgefahren,ca. 300 Leute, im Autokonvoi, ausgerüstet für jeden Notfall,voller Wut und Hass. Geparkt hatten wir bei den Neckermann-Häusernzwischen Lichtenhagen und Lütten Klein. Vondort aus sind wir dann zu Fuß durch Lichtenhagen, immer inder Deckung von Häuserwänden, ohne einen Laut von uns zugeben, über uns kreiste der Hubschrauber. Es war stockfinster.Keine/r von uns wusste, was uns vor <strong>dem</strong> Sonnenblumenhauserwarten würde. Dann, angekommen auf <strong>dem</strong> großen langenParkplatz neben der Stadtautobahn, haben wir einen Demonstrationszuggebildet, alle liefen in Ketten. Es ging zügig inRichtung Sonnenblumenhaus, voller Hass und Wut riefen wir<strong>„Nazi</strong>s raus! Hier kommt die Antifa!“. Umso näher wir kamen,desto schneller wurden wir. Die Nazis und der rassistische Bürgermobstoben auseinander, flüchteten in den Stadtteil hineinoder über die S-Bahn-Brücke. Wir liefen hinterher und vertriebensie.Das Überraschungsmoment war auf unserer Seite. Auf einmalstanden wir vor <strong>dem</strong> Sonnenblumenhaus, die ganze Wiese voll<strong>mit</strong> Pflastersteinen, beißender Geruch von brennenden Autosund Mülltonnen in der Luft, Bürgerkriegsatmosphäre. Die Situationwar extrem unübersichtlich. Wir wussten nicht, wieviele Nazis und RassistInnen noch da waren und wo sie sichaufhielten. Wie weiter? Was jetzt? Was machen wir jetzt hiervor <strong>dem</strong> Sonnenblumenhaus? Bleiben wir? Und wenn ja, wassind die Konsequenzen? Können wir die alle tragen? Die entscheidendenFragen konnten wir so schnell nicht beantworten.Die Alternative war, vor <strong>dem</strong> Haus zu bleiben und weitere Angriffeder Nazis abzuwehren oder eine Demo zu machen unddanach weiter zu entscheiden. Nicht verhandelbar war, dass wiruns trennen. Dazu waren wir zu wenige. Wir zögerten, warenunentschlossen. Unser Fehler. Die Nazis und die RassistInnenmerkten das und kamen langsam wieder. Einige Gruppen sagten,dass sie auf keinen Fall bleiben wollten, bleiben konnten.Wir entschlossen uns dann dazu, in Bewegung, dynamisch zubleiben, die Demonstration weiterzuführen und nicht vor <strong>dem</strong>Sonnenblumenhaus stehen zu bleiben. Wir zogen dann durchLichtenhagen, kraftvoll und lautstark. Auf der SternbergerStraße kam uns schließlich eine Hamburger Hundertschaftentgegen, die zunächst an uns vorbeifuhr. Wir dachten unsnichts dabei, die Polizei war in den Tagen kein relevanter Faktor.Als wir gerade an unseren Autos ankamen, kehrte die Hundertschaftzurück und kesselte uns ein. Ein Großteil von uns konnteentwischen, ich und <strong>mit</strong> mir ca. 60 andere blieben hängenund wurden in die Gefangenensammelstelle (Gesa) in die Ulmenstraßeverbracht. Dort wurden wir zunächst in die Turmhallegesperrt zu den paar Nazis, die ebenfalls in Gewahrsamgenommen worden waren. Sie bekamen dann unsere ganzeWut und unseren Hass ab. Als die Polizisten merkten, wen sieda zusammengesperrt hatten, wurden wir getrennt. Wir bekamendann den Hof. Mehr und mehr gelang es uns, unsere Fesselnzu lösen. Wir eroberten uns immer mehr Freiraum in derGesa. Bald konnten wir uns frei bewegen, die Polizei hattekaum noch Einfluss auf die Situation. In den Vor<strong>mit</strong>tagsstundenkamen dann auch UnterstützerInnen von draußen, die Essen,Trinken und Tabak über die Mauer warfen. Einigen vonuns gelang auch <strong>mit</strong> Hilfe von außen die Flucht über die Mauer.Die PolizeibeamtInnen waren völlig überfordert.Montag, 24. August 1992Wir wurden so gegen 17.00 Uhr entlassen. Wir gingen dannerst einmal wieder zum JAZ. Mittlerweile waren noch mehrLeute aus anderen Städten gekommen. Abends erreichte unsdie Nachricht, dass die Polizei abgezogen sei und sich die Angriffeauf das Haus verstärkten. Die ZASt war schon im Laufedes Tages unter <strong>dem</strong> johlenden Beifall der RassistInnen geräumtworden, die VietnamesInnen waren aber noch da. DiePlenas zogen sich wieder in die Länge, eine Entscheidung fielnicht. Zwei von uns sind dann <strong>mit</strong> der Videokamera raus undhaben von der Wiese vor <strong>dem</strong> Sonnenblumenhaus Aufnahmengemacht, wie die Nazis das Wohnheim in Brand steckten. Alssie wieder zurückkamen und das Video zeigten, eskalierte dieDiskussion. Wir standen dann wieder bei den Autos, wolltennach Lichtenhagen fahren, aber aus irgendeinem Grund nichtals Großgruppe. Gerüchte kursierten, die Verunsicherung warzu spüren, aber auch der Wille, die Nazis zu vertreiben. Ichweiß nicht mehr, was der ausschlaggebende Grund war, aberwir sind dann nicht gefahren.Was in der Nacht passierte, ist bekannt. Die Polizei war abgezogenworden, die Nazis konnten unbehelligt das Wohnheimin Brand setzen. Sämtliche BewohnerInnen und UnterstützerInnen,die sich im Haus aufgehalten haben, konnten sich nur<strong>mit</strong> Mühe und viel Glück über das Dach retten. Der damaligeInnenminister Kupfer kommentierte dies <strong>mit</strong> menschenverachten<strong>dem</strong>Zynismus: Es hätte offensichtlich keine Lebensgefahrbestanden, da k<strong>einer</strong> der VietnamesInnen nach der Rettungärztliche Hilfe in Anspruch genommen hätte. Noch in derselbenNacht wurden die VietnamesInnen evakuiert.
Die Tage danachDie Auseinandersetzungen in Lichtenhagen gingen weiter. DieNazis und „erlebnisorientierte Jugendliche“ lieferten sich mangelsMigrantInnen bis Mittwoch oder Donnerstag Straßenschlachten<strong>mit</strong> der Polizei, zündeten Autos an und randalierten.Jetzt fingen auch BewohnerInnen Lichtenhagens an, zuden Ausschreitungen auf Distanz zu gehen. Schließlich ging esdiesmal um ihr Eigentum. Gleichzeitig fand Dienstagabend inder Rostocker Innenstadt eine vom DGB organisierte Solidaritäts<strong>dem</strong>o<strong>mit</strong> ca. 800 TeilnehmerInnen statt. Wir sind zwarhingegangen, aber unsere Enttäuschung, dass die „Zivilgesellschaft“erst jetzt reagierte, konnten wir nicht verbergen. Dienstagnachtbrannte in Groß Klein das „Max“, Treffpunkt der RostockerNazi-Szene.Die Situation entspannte sich keineswegs. Für den darauffolgendenSamstag haben wir eine Groß<strong>dem</strong>onstration unter <strong>dem</strong>Motto „Stoppt die Pogrome. Solidarität <strong>mit</strong> den Flüchtlingen.Bleiberecht für alle“ in Lichtenhagen organisiert, für derenVorbereitung uns nur wenige Tage blieben. Gleichzeitig warenüberall in der Stadt größere Nazi-Gruppen unterwegs. Ständigwurde, nach<strong>dem</strong> die Flüchtlinge und VietnamesInnen erfolgreichvertrieben worden sind, <strong>mit</strong> Angriffen auf linke Zentrenund Häuser gerechnet. Zu Auseinandersetzungen <strong>mit</strong> Nazi-Gruppen kam es überall in der Stadt. Zum Ende der Woche hatsich dann die Stadtverwaltung positioniert und Flyer verteilt,<strong>mit</strong> denen die Rostocker Bevölkerung dazu aufgefordert wurde,Menschenansammlungen am Wochenende fern zu bleibenund sich nicht in Gefahr zu begeben. Solche Flyer hatten wireine Woche vorher, als die Aufrufe zu <strong>dem</strong> rassistischen Pogromveröffentlicht wurden, vermisst.Die Groß<strong>dem</strong>onstrationAm Samstag, den 29. August 1992, befand sich Rostock in einemBelagerungszustand. Tausende Polizeibeamte aus <strong>dem</strong> gesamtenBundesgebiet waren auf einmal verfügbar, schweres Gerätwurde angefahren. Der Hamburger Bus-Konvoi wurde inBad Doberan von einem massiven Polizeiaufgebot aufgehalten.Erst nach<strong>dem</strong> die DemonstrantInnen den Molli besetzt hatten,wurde ihnen die Weiterfahrt „gestattet“. Es waren am Ende20.000 AntifaschistInnen, die durch Lichtenhagen und LüttenKlein kraftvoll und entschlossen <strong>dem</strong>onstriert haben, ein politischerErfolg.Die FolgenAuf der politischen Bühne wurde das Pogrom von Lichtenhagenals Begründung für die Abschaffung des Asylrechts missbraucht.In Rostock und überall in Ostdeutschland und partiellauch im Westen eskalierten die Angriffe auf MigrantInnen undFlüchtlingsunterkünfte im Herbst 1992. In Rostock kam esjetzt fast täglich zu Auseinandersetzungen <strong>mit</strong> Nazis. Im Oktober1992 verübten Nazis einen Brandanschlag auf das JAZ.Für uns war klar, dass an der Situation nur durch eine Dreifach-Strategie etwas geändert werden konnte. In Rostock musstedurch eine breite und effektive Bündnisarbeit ein Anti-Nazi-Konsens geschaffen werden. Rostock musste sich eindeutig zuseinen migrantischen BürgerInnen bekennen und vor allem ander Unterbringung von Flüchtlingen etwas ändern, Stichwortdezentrale Unterbringung. Und der Nazi-Terror auf den Straßenkonnte nur durch militante antifaschistische Gegenwehrgestoppt werden.Diese Strategie ist weitgehend aufgegangen. In der Stadtverwaltung,in den Parteien und in der Zivilgesellschaft gab es viele,die ernsthaft und nicht nur aus Imagegründen gegen das Nazi-Problemvorgehen wollten und <strong>mit</strong> denen wir über Jahre erfolgreicheBündnisarbeit betreiben konnten. Die Unterbringungder Flüchtlinge hat sich verbessert. Rostock war eine derersten Kommunen in Mecklenburg-Vorpommern, die sich zurdezentralen und innenstadtnahen Unterbringung bekannt hat.Auch konnte zumindest für einen Teil der VietnamesInnen gegenden Widerstand der CDU-geführten Landesregierung einBleiberecht durchgesetzt werden. Schließlich konnte durch militanteAntifa-Arbeit bis Mitte der Neunziger Jahre erreichtwerden, dass zumindest die Innenstadtbezirke weitgehend sichervor Nazi-Terror waren. Nazis haben sich in der Zeit nurnoch in größeren Gruppen in die Innenstadt getraut. Späterhat sich auch die Situation in den Neubauvierteln verbessert.Die Frage, ob die Geschichte anders hätte verlaufen können,wenn wir damals noch mehr riskiert hätten, ist aber bis heuteunbeantwortet und wird es wohl auch bleiben. ¬--1 Vgl. http://doku.iab.de/<strong>mit</strong>tab/1992/1992_3_<strong>mit</strong>tab_heseler_warich.pdf.2 Das Schimpfwort vom „Roten Norden“ war vor allem in Sachsenbeliebt. Im Herbst 1989 soll man dort <strong>mit</strong> einem A-Nummernschild(Kfz-Kennzeichen für den Bezirk Rostock) an denTankstellen keinen Sprit mehr bekommen haben.3 So titelte DER SPIEGEL seine Ausgabe vom 09.09.2011 <strong>mit</strong>einem überfüllten schwarz-rot-gold-gestreiften Boot und <strong>dem</strong>Schriftzug „Flüchtlinge Ausländer Asylanten – der Ansturm derArmen“; die FAZ sprach in ihrer Ausgabe vom 8.11.1991 von„Asyl-Touristen“, die Bild-Zeitung dramatisierte <strong>mit</strong> „Fast jedeMinute ein neuer Asylant – Die Flut steigt, wann sinkt dasBoot?“ (2.4.1992), um nur einige Beispiele zu nennen.4 Es kann auch Januar 1990 sein, der Autor ist sich nicht mehrganz sicher.