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DanksagungZunächst möchte ich meiner wissenschaftlichen Betreuerin Frau Prof. Dr. Wiebke Wüstenbergmeinen besonderen Dank aussprechen.Im einzelnen ermöglichte sie mir dieses Thema und stand mir mit freundlicher ermutigenderUnterstützung und fachlichem Rat zur Seite.Darüber hinaus bedanke ich mich bei Frau Prof. Dr. Heide Küchler für ihre Bereitschaft,die Zweitkorrektur der Arbeit zu übernehmen.Besonderer Dank gilt meinen Kolleginnen und der Leitung des WaldkindergartensDarmstadt e.V. für die kollegiale und organisatorische Unterstützung.Ich danke ebenso meinen ehemaligen Kolleginnen des Waldkindergartens Bensheime.V. für die die Inspiration, Kreativität und liebevolle Atmosphäre in meinem ersten Jahrim Waldkindergarten.Auf privater Ebene bedanke ich mich ganz herzlich bei allen Freundinnen, die mit mirdiskutiert, Korrektur gelesen und mich mit Zuspruch und Anteilnahme unterstützt haben,ebenso bei meinen Mühle-WG-MitbewohnerInnen.Vielen Dank an meine Eltern und meine Großmutter, dass sie hinter mir standen und fürmich da waren in dieser schwierigen Zeit.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 22.4.3 Geeignete äußere Bedingungen und anregende Umgebung.............412.5 Fazit der Kapitel eins und zwei...........................................................423. Waldkindergarten als ästhetischer Erfahrungsraum.....................443.1 Besonderheiten des Waldkindergartens.............................................453.1.1 Geschichte..........................................................................................453.1.2 Gruppenzusammensetzung, Tagesablauf und Ausrüstung................453.1.3 Sicherer Rahmen und strukturierende Elemente................................463.1.4 Anregende Umgebung verschiedener Waldplätze..............................483.1.5 Bedeutung der festen Gruppenzusammensetzung............................503.1.6 Besondere Anforderungen an die Erzieherin im Wald........................523.2 Ästhetische Erfahrungen im Lebensraum Natur.................................543.2.1 Im Sommer.........................................................................................553.2.2 Im Herbst............................................................................................583.2.3 Im Winter............................................................................................623.2.4 Im Frühling..........................................................................................633.3 Psychomotorische Herausforderungen...............................................643.3.1 Geländestrukturen und Balancefindung..............................................653.3.2 Autonomie und Beziehung am Beispiel Kletterbaum..........................663.4 Gleiche Ausgangspunkte für Mädchen und Jungen...........................683.5 Fazit....................................................................................................70Abschlussgedanken....................................................................................71Literaturverzeichnis.....................................................................................73Anhang / Erklärung......................................................................................76


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 3EinleitungMeine Tätigkeit in einem Waldkindergarten erweckte in mir das Interesse,mich näher mit der ästhetischen Bildung von Kindern zu befassen. Dabeifand ich meine Auffassung bestätigt, dass die Natur eine hervorragende Umgebungsowohl für vielsinnliche Erfahrungen als auch für Bewegung aller Artdarstellt. Besonders im Wald mit seiner Weite und Raumgröße können motorische,sinnliche und emotionale Bedürfnisse erkannt und gestillt werden.So möchte ich in der vorliegenden Diplomarbeit auf die folgenden Thesennäher eingehen:Ästhetische Bildung, d.h. die Bildung der Wahrnehmungserfahrungenin der frühen Kindheit, ist die Basis aller Lernprozesse. 1Die Natur ist der für frühkindliche ästhetische Bildung geeignetsteRaum, da diese die vielfältigsten und differenziertesten Möglichkeitenfür komplexe sinnliche Erfahrungen bietet. Deshalb bietet ein Waldkindergartensehr günstige Bedingungen für eine ganzheitliche kindlicheEntwicklung.Mädchen und Jungen haben in einem Waldkindergarten die gleichenräumlichen und materiellen Ausgangspunkte, ohne dass diese geschlechtsspezifischbesetzt sind.Ästhetische Bildung beginnt mit ästhetischer Wahrnehmung, die eine komplexevielfältige sinnliche Wahrnehmung bezeichnet. Darum befasse ich michin Kapitel eins zunächst mit der Definition der sinnlichen und der ästhetischenWahrnehmung. Danach wird die Funktion des Zentralnervensystemsim Wahrnehmungsprozess und die Entwicklung des Gehirns erläutert. Weiterhinbeschreibe ich die Entwicklung der sinnlichen Wahrnehmung ab derZeit im Mutterleib und gehe auf jeden der Sinne im einzelnen sowie derenZusammenwirken ein.1vgl. Schäfer ²2005, S. 126-127


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 4Da die frühkindliche sinnliche Entwicklung eng mit der motorischen und emotionalenEntwicklung verknüpft ist, beinhaltet Kapitel zwei die Bewegungsentwicklungdes Kindes und die dazu notwendigen äußeren Bedingungen.Besonderer Fokus liegt hierbei auf der Eigentätigkeit und Autonomie des Kindesvon Geburt an, wobei die Beziehung zu der erwachsenen Bezugspersonim Hinblick auf sichere Bindung und Exploration eine wichtige Rolle spieltund ebenfalls thematisiert wird.Mit Kapitel drei möchte ich aufzeigen, wie der Aufenthalt in einem WaldkindergartenMädchen und Jungen in der Entwicklung ihres individuellen Potenzialsunterstützt. Der praktische Aspekt ästhetischer Bildung wird sowohl anhandvielfältiger Situationen ästhetischer Erfahrungen, als auch anhand vonBeispielen psychomotorischer Herausforderungen dargestellt.Jedes Kind sollte einige Tage seines Lebens im Wald verbracht haben.Jedes Kind sollte Beeren vom Busch gepflückt haben.Jedes Kind sollte Jahresringe am <strong>Baum</strong>stumpf gezählt haben.Jedes Kind sollte einmal in einen Bach gefallen sein.aus : Weltwissen der SiebenjährigenWie Kinder die Welt entdecken können 2Anmerkung:Da im Elementarbereich wesentlich mehr Frauen als Männer arbeiten,verwende ich die weibliche Sprachform, obgleich Bezeichnungen wie`die Erzieherinnen´ selbstverständlich den männlichen Personenkreis mit einschließen.2Elschenbroich 7 2002, S. 217


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 51. Entwicklung und Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung„Die Sinne sind unsere Antennen, über die wir mit der Umwelt kommunizieren.Durch sie nehmen wir Kontakt mit der Umwelt auf, über die Sinne lassenwir die Umwelt in uns hinein. Sie sind die Nahtstelle zwischen innen undaußen, zwischen dem Menschen und der Welt. Durch die Sinne nehmen wirunsere Umwelt wahr und können gleichzeitig auf sie einwirken, sie – inbestimmten Grenzen – gestalten. Für Kinder stellt die sinnliche Wahrnehmungden Zugang zur Welt dar. Sie ist die Wurzel jeder Erfahrung, durch diesie die Welt jeweils für sich wieder neu aufbauen und verstehen können.“ 3In diesem Kapitel möchte ich zuerst den Begriff der sinnlichen Wahrnehmungdefinieren und die Komplexität der Wahrnehmung darstellen. Dabei wird einekomplexe vielfältige sinnliche Wahrnehmungsverarbeitung als ästhetischeWahrnehmung bezeichnet.Da das Zentralnervensystem in allen Wahrnehmungsprozessen eine entscheidendeRolle spielt, erläutere ich zunächst wesentliche Begriffe, Funktionenund Entwicklungsspezifika des Gehirns. Danach beschreibe ich jedesSinnessystem und dessen Entwicklung vor und nach der Geburt.Im Anschluss daran gehe ich auf das Zusammenwirken der verschiedenenSinnessysteme mit den möglichen Bewegungen am Vergleich der RückenoderBauchlage des Neugeborenen ein.1.1 Sinnliche Wahrnehmung und ästhetische WahrnehmungDie Entwicklung der sinnlichen Wahrnehmung kann als Prozess zunehmenderDifferenzierung der Sinnesleistungen beschrieben werden, der einhergeht mit ihrer gleichzeitigen Integration. Sensorische Integration bezeichnetdas Zusammenbringen, das miteinander Verbinden und die Verarbeitung vonvielsinnlichen Wahrnehmungen. 43Zimmer, 11 2003, S. 154vgl. Ayres ³1998, S. 9


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 6Gerd E. Schäfer, Professor für Frühpädagogik an der Uni zu Köln, geht vondrei Formen der Wahrnehmung aus: Reize können von außen kommen undüber die Fernsinne (Augen, Ohren und Nase) aufgenommen werden, odersie können über den Körper innerlich oder äußerlich gefühlt werden. KörpernaheSinne sind der Geschmackssinn und das taktile, das kinästhetische unddas vestibuläre System. Alle Sinnessysteme werden in Kapitel 1.3 näher erklärt.Der dritte Bereich ist die emotionale Wahrnehmung von Beziehungenzwischen Personen oder zwischen einer Person und ihrer sachlichen Umweltund deren gefühlsmäßiger Ausdruck. 5 Dazu folgt Näheres in Kapitel zwei.Die Wahrnehmungen der drei Bereiche wirken zusammen und bilden einkomplexes vielschichtiges Bild der subjektiven menschlichen Wirklichkeit,was Schäfer als ästhetische Wahrnehmung bezeichnet. Ästhetisch ist dabeialles, was unsere Sinne beschäftigt und Empfindungen und Gefühle entstehenlässt. Die Wirklichkeit wird über die Empfindungen wahrgenommen,die sie an und im Körper auslöst. Dabei ergänzen sich die Informationen ausden verschiedenen Sinneswahrnehmungen. „Je vielfältiger etwas wahrgenommenwird, desto informativer ist das Wahrnehmungsbild.“ 6Die Wahrnehmungsfähigkeit stellt sich in den ersten Lebensjahren in hohemMaß auf die Anforderungen der vorhandenen Umwelt ein und ist damit derAusgangspunkt für alle zukünftigen Wahrnehmungsweisen, was ich in Abschnitt1.2.4 näher erläutern werde.Bei der Verfolgung der neurophysiologischen Verarbeitungsprozesse im Gehirnwird deutlich, dass Wahrnehmen immer ein ganzheitlicher Vorgang ist.Jede Wahrnehmung wird mit bisher gespeicherten Erfahrungen verknüpft,wobei gefühlsmässige Bewertungen und persönliche Einstellungen einfliessen.7 Hierzu ein Beispiel:5vgl. Schäfer ²2005, S. 766vgl. Schäfer 1995, S. 2407vgl. Zimmer, 11 2003, S. 28


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 7Für Säuglinge sind die Verbindungen der verschiedenen Sinnessystemeschon selbstverständlich gegeben. In einem Versuch schauten Säuglinge inden ersten Lebenswochen länger auf das Bild eines Noppenschnullers, andem sie vorher genuckelt hatten, als auf das eines glatten Schnullers. 8Um die Vernetzungen innerhalb des Gehirns zu veranschaulichen, gehe ichim folgenden Abschnitt auf die Rolle des Zentralnervensystems (ZNS) imWahrnehmungsprozess ein:1.2 Die Bedeutung des ZNS im WahrnehmungsprozessAlle sinnlichen Wahrnehmungen werden im Zentralnervensystem – demGehirn und dem Rückenmark - verarbeitet. Die Funktion des ZNS im Wahrnehmungsprozessverdeutlicht die Vernetzung des gesamten Gehirns.1.2.1 Der WahrnehmungsprozessDer Wahrnehmungsprozess besteht aus der Informationsaufnahme ausUmwelt- und Körperreizen (äußere und innere Wahrnehmung) und derWeiterleitung, Koordination und Verarbeitung dieser Reize im Gehirn. Diedort gespeicherten Erfahrungen bewirken die Auswahl und Bewertung derMeldungen aus den Sinnesorganen. Dabei fließen die Aufmerksamkeit desMenschen und seine emotionale, psychische und physische Befindlichkeit indiesen Prozess ein. Über Nervenleitungen vom Gehirn zu den ausführendenOrganen werden dann Reaktionen in Gang gesetzt, wie z.B. Befehle an einzelneMuskelgruppen, wodurch wieder neue Reize entstehen.Die Reizaufnahme über die Fernsinne, die Körperwahrnehmung und dieemotionale Wahrnehmung wirken zusammen und bilden einen Kreislauf.1.2.2 Funktion und Aufbau des GehirnsIm Gehirn werden die Informationen aus allen Sinnesbereichen verknüpft. Esfiltert sich die Informationen, die es braucht, aus verzweigten Bedeutungs-8vgl. Rauh in Oerter / Montada, 5 2002, S. 156


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 8zusammenhängen heraus. Es arbeitet immer als Ganzes, d.h. jeder Bereichist nur in Kombination mit den anderen voll funktionsfähig. 9Jede Hirnfunktion ist nicht völlig isoliert in einer bestimmten Region des Gehirnsangesiedelt, sondern Sprache, räumliche Orientierung, Emotionen undviele andere Funktionen nutzen Teile desselben Systems gemeinsam undbringen verschiedene Hirnregionen auf unterschiedliche Weise ins Spiel. 10Der Hirnstamm regelt wichtige Funktionen wie Atmung, Kreislauf und Verdauungsowie die Kontrolle der Körperstellung im Raum.Abb. 1 119vgl. Zimmer, 11 2003, S. 3810vgl . Calvin, 1993, S. 17811Zimmer, 11 2003, S. 35


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 9Mitten durch den Hirnstamm verläuft eine netzförmige Nervenmasse, die sichvom unteren Ende der Wirbelsäule bis zum Zwischenhirn erstreckt. Dieseenthält sensorische Informationen aus allen Sinnesbereichen, verknüpft dieseschon miteinander, hemmt oder verstärkt sensorische Reize auf dem Wegins Großhirn und schützt dieses so vor Reizüberflutung. Sie steuert den Gradder Aufmerksamkeit des Zentralnervensystems. 12Das Zentrum für die Koordination der Bewegung ist das Kleinhirn. Es befindetsich in der hinteren Region des Kopfes. „Neurologen haben festgestellt,dass das Kleinhirn, das die körperlichen Bewegungen koordiniert, auch dieBewegung der Gedanken lenkt. So wie es die nötigen Bewegungen veranlasst,um einen Ball zu fangen, steuert es auch die Gedankenfolge, die wirbrauchen, um einen Ort vor unserem geistigen Auge zu sehen, eine Schlussfolgerungzu ziehen oder uns eine Melodie auszudenken.“ 13Im Limbischen System werden ankommende Sinneswahrnehmungen mitGefühlen verbunden und so „emotional eingefärbt“. Das Limbische Systemvergleicht die Informationen aus den verschiedenen Bereichen des Großhirnsmit früheren Erfahrungen, bewertet damit die Informationen und leitetdiese dann in andere Bereiche weiter. 14Die Großhirnrinde ist eine dünne, stark gefaltete Nervengewebeschicht. Siesteuert das Bewusstsein, das Denken, die Sprache und das Körpergefühl.Sie kann bestimmte Muskelgruppen aktivieren und steht in direkter Beziehungzu spezifischen Sinnbereichen.Eine schematische Darstellung der relativen Ausdehnung der Repräsentationverschiedener Körperteile auf der Hirnrinde wird als „Homunculus“ (lat. =kleiner Mensch) bezeichnet.Der „motorische Homunculus“ verdeutlicht das Ausmaß der für die Bewegungder einzelnen Körperteile notwendigen Steuerung. Je höher die Fein-12 vgl.Zimmer, 11 2003, S. 35-3613vgl. Calvin, 1993, S. 17814vgl.Zimmer, 11 2003, S. 36


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 10steuerung für die Motorik eines Körperteils ist, desto größer ist dessenBereich auf diesem Motorik-Projektionsfeld, dem motorischen Cortex.Abb. 2 15Der „sensorische Homunculus“ repräsentiert die Tastleistungen der verschiedenenKörperregionen. Je berührungssensibler und tastintensiver einBereich des Körpers ist, desto größer ist er auf dem Sensorik-Projektionsfeld,dem sensorischen Cortex, repräsentiert. 16Die Homunculi sind völlig individuell und verändern sich bei jedemMenschen, wenn neue motorische Funktionen und neue Empfindungendurch neue Tätigkeiten, Fertigkeiten und Sinneseindrücke hinzukommen. 17Die Großhirnrinde besteht aus zwei spiegelbildlichen Hälften, die durch eineBrücke aus Nervenfasern, Balken genannt, miteinander verbunden sind.Ursprünglich ist das Großhirn (wie auch das Kleinhirn und viele Teile desStammhirns) zweifach angelegt. Es entwickelt mit der Zeit jedoch eine ArtArbeitsteilung zwischen den beiden Hälften. Bei über 90% der Menschenliegt das aktive Sprachzentrum in der linken Hirnhälfte und das passiveSprachzentrum, das gesprochene Worte aufnimmt, in der rechten Hirnhälfte.15www.de.wikipedia.org/wiki/bild:homunculus-de.sug.16vgl. Krakau in Pütz, 1998, S. 14917vgl. Feldenkrais 1978, S. 35-37


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 11In der linken Hälfte ist das rationale und analytische Denken, Logik, Ordnungs-und Strukturliebe angesiedelt. Die rechte Hälfte denkt ganzheitlich,setzt Phantasie und Intuition ein, entwirft Konzepte und bezieht Gefühle ein.Beide Gehirnhälften müssen gut ausgebildet sein, denn viele komplexe Leistungensind nur mit beiden Hirnhälften machbar. Werden beide Gehirnhälftenangesprochen, ist das Gehirn am leistungsfähigsten, was im Hinblick darauf,wie Lernen funktioniert, besonders wichtig ist. 181.2.3 Die Nervenzellen und ihre KontaktstellenSynapsen heißen die Kontaktstellen der Nervenzellen. Sie geben Nachrichtenweiter, lenken sie um oder stoppen sie. Übung stärkt die Funktionsfähigkeit.Je öfter eine Synapse gebraucht wird, desto schneller stellt sie eineVerbindung her. Erfährt ein Kind zu wenig Reize, können sich die weiterleitendenNervenschaltungen, d.h. neue Synapsenbildungen, nicht entwickeln.Sensorische Reize bedeuten Nahrung für die Gehirnzellen und derenVerknüpfung. Die Nervenzellen müssen sozusagen aktiviert werden, umrichtig miteinander verschaltet zu werden. 191.2.4 Die Entwicklung des Gehirns -vorgeburtlich, in den ersten Lebensmonaten, lebenslangDer Mensch kommt mit fast allen Nervenzellen zur Welt, aber die Gehirnmasseeines Säuglings beträgt nur ein Viertel derjenigen eines Erwachsenen.Sie vergrößert sich, weil die Nervenzellen wachsen und sich die größteAnzahl ihrer Fortsätze und Kontaktstellen erst nach der Geburt bilden. 20In der kurzen Periode der ersten Lebenswochen und -monate entstehtaußerdem die die größte Anzahl der restlichen Gehirnzellen und ihre festenVerknüpfungen. Ein Teil dieser Verknüpfungen ist schon vor der Geburt durchdie Erbmasse festgelegt, der wesentlich größere Teil bildet sich entsprechendder ersten Sinneseindrücke umgebungs- und erfahrungsspezifisch. Daweit mehr Nervenzellen und Zellverbindungen als nötig vorhanden sind,sterben in dieser Zeit auch viele wieder ab, die nicht gebraucht werden. Nach18vgl.Zimmer, 11 2003, S. 3819vgl.Zimmer, 11 2003, S. 40-4120vgl.Zimmer, 11 2003, S. 40 - 43


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 12der Periode der ersten Monate (Höhepunkt im dritten Monat) ist das eigentlicheGehirnwachstum abgeschlossen (außer jene Bereiche, die sich in derPubertät noch einmal stark verzweigen). Jeder von uns arbeitet sein Lebenlang hauptsächlich mit den Nervenzellen und Verknüpfungen, die er alsSäugling gebildet hat. 21Die Sinneseindrücke der ersten Lebensmonate haben einen entscheidendenEinfluss auf die Ausbildung des Gehirns. Die Hirnrinde wird entsprechend derin den ersten Lebensmonaten wahrgenommen Umwelt verdrahtet, d.h. diesich bildenden Verbindungen sind desto komplexer, je vielfältiger dieEindrücke sind.Die Effizienz der dann bestehenden Verbindungen ist von ihrer Benutzungshäufigkeitabhängig. Deshalb ist es wichtig, das vorhandene Potenzial zunutzen, denn „wer rastet - der rostet“ gilt nicht nur für den Bewegungsapparat.Ebenso ist es ein Leben lang möglich, neue Erfahrungen zu machen,neue Bewegungsabläufe oder andere Fertigkeiten zu lernen und durch Übenzu vervollkommnen.Bis zum Grundschulalter ist das Gehirn in seiner Entwicklung noch besondersbeeinflussbar. Das Nervensystem reift heran. Die Funktionsfähigkeitverbessert sich durch möglichst vielfältige spielerische Aktivität. Nach denersten Monaten stehen zwar die Reizleitungsbahnen fest, doch die Feinabstimmungund Modifikation geht weiter. Kinder brauchen möglichst vielfältigeSinnesreize, um sich positiv entwickeln zu können.Jedoch ist der frontale Kortex, der das Arbeitsgedächtnis darstellt, erst imSchulalter vollständig gebrauchsfähig, da vorher noch nicht alle verbindendenNervenfasern leitfähig sind. In der Zeit vor Schuleintritt ist das Arbeitsgedächtnisalso noch nicht wirklich belastbar. 2221vgl. Vester, 2001, S. 38 - 4022vgl. Spitzer 1996, S. 199/200


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 131.2.5 FazitDie Kognitionsforschung mit besonderem Beitrag der Hirnforschung zeigt,dass es keine isolierten Funktionen und Kompetenzen gibt. Wahrnehmen,Fühlen, Erkennen, Verarbeiten, Denken, soziales Verhalten, Sprechen – alseine Auswahl der gängigen Funktionen und Kompetenzen – sind keine einfachenFähigkeiten, die gefördert werden können. Ihre vielfältige Zusammensetzungverändert sich permanent und existiert im Gehirn als ein zeitlichbegrenztes Muster vielfach verzweigter Verbindungen, welche sich flexibelimmer wieder neu bilden bzw. weiterentwickeln. 23Dieser Abschnitt sollte verdeutlichen, dass das Gehirn ein komplexesvernetztes Organ ist, das sich an die vorhandene Umwelt und die dortigenGegebenheiten anpasst und sich permanent weiterentwickelt, obwohl dieersten Lebenseindrücke eine Art Vorprogrammierung darstellen.Für eine ganzheitliche kindliche Entwicklung ist das Wissen der Bezugspersonenüber das Zusammenwirken der verschiedensten Einflussfaktoren vonunschätzbarer Bedeutung.1.3 Entwicklung der Sinneswahrnehmung -pränatal und in der frühen KindheitDie Entwicklung der Wahrnehmung ist abhängig vom alltäglichen Gebrauchder Sinnesorgane. Die Sinne sind zwar von Geburt an funktionsfähig, ihreZusammenarbeit entwickelt sich jedoch erst im Laufe der ersten Lebenswochenund -monate. Jede Handlung des Kindes führt zu Erfahrungen, welchedie Differenziertheit der Wahrnehmungsfähigkeit verbessert. 24Sensorische Integration bedeutet, die unterschiedlichsten sinnlichen Wahrnehmungenso zu ordnen, dass sie nutzbar sind. Sie wird gefördert durchdas Spielen in der frühen Kindheit, da das Kind die Empfindungen seinesKörpers und der Schwerkraft mit Wahrnehmungen seitens der Augen undOhren verbindet. 2523vgl. Schäfer ²2005, S. 59-6124vgl. Zimmer, 11 2003, S. 4925vgl. Ayres ³1998, S. 7


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 14In den ersten drei Lebensjahren bilden sich die Sinneserfahrungen, die emotionaleWahrnehmung und alles, was man damit „denken“ kann. Kinderentwickeln daraus zuerst eher ein szenisch-handelndes Verständnis von sichselbst und ihrer Umwelt, welches zunehmend in inneren Szenen und Bildernrepräsentiert wird. 26Obwohl bei allen Wahrnehmungen stets mehrere Sinne zusammenwirken,beschreibe ich die verschiedenen Sinnessysteme und ihre Entwicklung imeinzelnen, um Raum für die jeweiligen Besonderheiten zu haben:1.3.1 Das visuelle System – der Sehsinn„Tomaten auf den Augen haben“, „ich kann meinen Augen nicht trauen“,„ich blicke durch“, „ich habe Einsicht“, „mir geht ein Licht auf“,„hellsichtig sein“, „umsichtig sein“, „vorsichtig sein“, „den Wald vor Bäumennicht sehen können“, ...Das Auge ist das Organ zur Aufnahme optischer Eindrücke aus der Umwelt.Heute gehört es zu den am meisten gebrauchten und am stärksten belastetenSinnesorganen. Im Alltag der Kinder ist das Sehen heute oft einer Dauerbelastungausgesetzt. Elektronische Medien, Fernsehen, Computer undandere sowie optische Reize wie Plakate, Lichtreklame, Kaufhäuser undVerkehr überfluten das visuelle Wahrnehmungssystem und lassen denKindern kaum Zeit zum genauen Hinschauen und Betrachten. Im Vergleichzu der Fülle der Eindrücke ist die Zeit zum Verarbeiten derselben gering. DieFähigkeit, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren, sich mit ihrauseinander zu setzen und Zusammenhänge zu erkennen, kann dabei verlorengehen bzw. kann sich gar nicht erst ausbilden.Was gesehen wird, ist subjektiv. Der Betrachter wählt aus der Fülle derReize, die sich ihm bieten, das aus, was für ihn Bedeutung hat. Wie bei allenanderen Wahrnehmungen fließen auch hier die emotionale, psychische undphysische Befindlichkeit mit ein.26vgl. Schäfer, Vielfalt der Bildung, S. 11


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 15„Die visuelle Wahrnehmung umfasst aus physiologischer Sicht die Fähigkeit,optische Reize aufzunehmen, zu unterscheiden, zu verarbeiten, einzuordnenund zu interpretieren und entsprechend darauf zu reagieren.“ 27Die verschiedenen visuellen Wahrnehmungsbereiche sind:Form- und Musterwahrnehmung, Farbwahrnehmung, Raumlage als Wahrnehmungder Raum-Lage-Beziehung eines Gegenstandes (z.B. oberhalb,unterhalb, vor, hinter, seitlich) zum Wahrnehmenden selbst, RäumlicheBeziehungen als Wahrnehmung der Lage von zwei oder mehr Gegenständenin Bezug auf sich selbst und zueinander, Visuelles Gedächtnis (Geseheneserinnern), Wahrnehmungskonstanz (aus verschiedenen Blickwinkeln undAbständen einen Gegenstand als den gleichen identifizieren), Helligkeitssehenund – unterscheidung, Dunkeladaption, Figur-Grund-Wahrnehmung. 28Visumotorische Koordination bezeichnet die Fähigkeit, das Sehen mit denBewegungen des Körpers zu koordinieren. Das Kind übt z.B. die Auge-Hand-Koordination beim gezielten Greifen nach Spielmaterial. Dieses Üben beginntbereits in der ersten Lebenswoche: In einem Versuch mit fünf bis neun Tagealten Säuglingen waren die noch unkoordinierten Armbewegungen eher aufein Bällchen hin ausgerichtet, wenn sie es anschauten, als wenn sie es nichtanschauten. 29In Kapitel 3.2 und 3.3 werden einige Bewegungsbeispiele zur visumotorischenKoordination aus dem Waldkindergarten beschrieben.Die Entwicklung der visuellen WahrnehmungEinige Wochen vor der Geburt ist das visuelle Wahrnehmungssystem bereitsfunktionsfähig. Die Feinanpassung des Auges erfolgt dann in den erstenLebensmonaten. Dies hat mehrere Gründe: die Lage der Augen kann durchden Geburtsvorgang verändert werden; die Anzahl der Gene reicht nicht aus,27Zimmer, 11 2003, S. 6928vgl. Zimmer, 11 2003, S. 63 - 7329vgl. Wilkening / Krist, S. 408 in Oerter / Montada, 5 2002


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 16um alles genetisch vorzugeben, was für ein differenziertes Sehen benötigtwird; die tatsächlich vorhandene Umwelt kann sehr unterschiedlich sein.Das Gehirn stellt sich auf die tatsächlichen (körperlichen und äußerlichen)Gegebenheiten nach der Geburt ein. Diejenigen Nervenverbindungen werdenausgewählt und fest verbunden, die unter den gegebenen Bedingungenein scharfes Sehen gewährleisten. 30Das Auge sieht jedoch nur das, woran es sich in den ersten Lebensmonatenangepasst hat. Bietet man z.B. Kätzchen in den ersten sechs Wochen ihresLebens die Umwelt nur durch alle zwei Sekunden erfolgende Lichtblitze an,so sind die Tiere später in der realen Umgebung nicht in der Lage, Bewegungenvisuell zu erfassen. Diese Blindheit für Bewegung hält für das gesamtespätere Leben an. Fälle lebenslanger Sehstörungen sind auch beimMenschen bekannt, wenn Säuglinge in der ersten Lebenszeit keine visuellenEindrücke empfangen konnten. 311.3.2 Das auditive System – der Hörsinn„ganz Ohr sein“, „die Ohren auf Durchzug stellen“, „Bohnen auf den Ohrenhaben“, „Ohrwurm“, „jemandem hörig sein“, „etwas ist ungehörig“, „sichGehör verschaffen“, „ein Ohrenschmaus“, ...Die Ohren können sich nicht verschließen, um sich vor Reizüberflutung zuschützen. Sie sind der vorhandenen Geräuschkulisse schutzlos ausgesetzt.In unserer Zeit und Kultur entspricht die akustische Reizüberflutung in etwader optischen. Viele Menschen sind an die akustische Dauerberieselunggewöhnt und haben Stille noch nie erfahren (können).Das Ohr nimmt Eindrücke aus der Umwelt auf. Töne kommen durch Schallwellenbestimmter Häufigkeit (Frequenz) zustande. Das auditive System istdie Voraussetzung für die Bildung von Sprache. Wir unterscheiden darüberTöne, Geräusche (eine Vielzahl nicht regelmäßig zusammenklingender Töne30 vgl. Schäfer, ²2005, S. 7931vgl. Vester, 2001, S. 41


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 17verschiedener Frequenz und Höhe) und Klänge (Tongemische). Durch dasGehör kann die Entfernung und die Richtung von Schallquellen wahrgenommenwerden. Für die akustische Richtungswahrnehmung ist die Funktionbeider Ohren notwendig.Die auditive Wahrnehmungsfähigkeit ist abhängig von verschiedenen Faktoren,wovon hier nur einige genannt werden sollen:Auditive Aufmerksamkeit als die Fähigkeit zur Konzentration und zur Einstellungauf auditive Reize.Auditive Figur-Grund-Wahrnehmung als das Herausfiltern von Reizen ausihrem Hintergrund, z.B. die Stimme der Bezugsperson auf dem Spielplatz.Auditive Lokalisation als das räumliche Einordnen einer Geräuschquelle unddas Erkennen der Richtung, aus der das Geräusch kommt.Die Konzentration auf das Hören gelingt viel besser, wenn das Sehen vorübergehendausgeschaltet wird, welches als der dominanteste Sinn starkablenkt. Mit geschlossenen Augen werden Hörerlebnisse viel intensiver.Die Entwicklung der akustischen WahrnehmungSchon ab dem 5. Schwangerschaftsmonat kann der Embryo bereits denHerzschlag der Mutter, ihren Atemrhythmus und Verdauungsgeräusche wahrnehmen.Er kann auch die Stimme der Mutter wahrnehmen, wenn er sich mitden Ohren nahe an einem Knochen (Becken/Wirbelsäule) befindet. Töne ausder Umgebung werden nur wahrgenommen, wenn sie laut und nahe an derBauchdecke erklingen. Bei der Geburt ist das Gehör gut entwickelt undschon kurz nach der Geburt kann der Säugling Töne lokalisieren. Für dieWeiterentwicklung des Hörsinns sind vielfältige akustische Reize wichtig.Das Sinnessystem darf jedoch nicht überlastet werden, um nicht geschädigtzu werden. 3232vgl.Zimmer, 11 2003, S. 86 - 92


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 181.3.3 Das taktile System – der Tastsinn„sich nicht wohl in seiner Haut fühlen“, „aus der Haut fahren“, „unter die Hautgehen“, „es ist kaum zu fassen“, „dickfellig sein“, „dünnhäutig sein“,„mit Samthandschuhen angefasst werden wollen“, „ergreifend“, ...Die Haut ist das größte Sinnesorgan, das (aktiv) berührt und (passiv) berührtwird. Damit ist sie Subjekt, wenn sie selber wahrnimmt, und Objekt, wenn siewahrgenommen wird. Die Haut ist die Grenze des menschlichen Körpers, dieKontaktstelle des Selbst mit der Umwelt. Sie ist für das Überleben des Menschenwichtiger als alle anderen Sinnesorgane, da sie viele physiologischeFunktionen hat: Die Regulation des Temperaturhaushalts, den Schutz voräußeren Einflüssen wie Strahlung und mechanischen Verletzungen, dieHautatmung und die Absonderung von Stoffwechselprodukten.In der Haut befinden sich je nach Körperregion zwischen 7 und 135 sensorischeWahrnehmungsrezeptoren pro Quadratzentimeter, die Tastkörperchen.Diese sind Empfänger von verschiedenen Reizen wie Temperatur, Berührung,usw.. Hand- und Fußflächen sowie Lippen und Zunge besitzen diedichteste Anordnung von Tastkörperchen. Die Haarwurzeln aller Körperhaaresind ebenfalls von Nervenfasern umschlungen, die jede Bewegung desHaares wahrnehmen und weiterleiten.Aufgrund der Dominanz des Sehsinnes benutzen wir die Hände in ersterLinie als Ausführungsorgane. Wir hantieren mit Gegenständen, ohne siebewusst wahrzunehmen. Die taktile Wahrnehmung wird uns eher bewusst,wenn wir im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen etwas ertasten. 33Die taktile Wahrnehmung lässt sich unterteilen in Berührungs-, Erkundungs-,Temperatur- und Schmerzwahrnehmung.Durch passive Berührung nehmen wir z.B. äußere Einflüsse wie Wind,Regen oder Sonnenschein wahr. Bei aktiver Berührung, z.B. eines Gegen-33vgl. Zimmer, 11 2003, S. 106


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 19standes, verschaffen wir uns erstens Informationen über dessen Eigenschaftenund haben zweitens die Option, etwas mit ihm zu tun.Zur aktiven Erkundung setzen wir vor allem die Hände ein, aber auch denMund und in geringem Maß die Füße. Diese Sinnesorgane erkunden dieUmwelt und können diese gleichzeitig auch verändern, d.h. sie können alsWerkzeug benutzt werden.Die Temperaturwahrnehmung bei der Berührung von Gegenständen istsubjektiv (im Vergleich zu der objektiven Temperaturerfassung eines Thermometers).Je nach Temperatur der eigenen Hände erscheint ein Gegenstandwärmer oder kälter zu sein. Ein gefliester Boden erscheint bei objektivgleicher Temperatur kälter als ein Holzboden, da die Fliesen die Wärmeschneller von der Haut ableiten als das Holz.Die Schmerzwahrnehmung ist vor allem wichtig zur Gefahrenerkennung und–vermeidung. Wenn man sich z.B. einmal an einer Brennnessel „verbrannt“hat, respektiert man die Pflanze und geht achtsamer mit ihr um.Die Entwicklung der taktilen WahrnehmungDie taktile Wahrnehmung ist das erste sich entwickelnde Sinnessystem. DieBerührungsempfindlichkeit entwickelt sich vom Kopf zu den Extremitäten.Bereits in der 8. Schwangerschaftswoche löst ein leichtes Streicheln derOberlippe oder der Nasenflügel ein Zurückweichen von der Stimulationsquelleaus. Ab der 13./14. Schwangerschaftswoche ist der gesamte Körperberührungsempfindlich. Jedoch ist die Schmerzempfindlichkeit kurz vor undnach der Geburt allgemein niedrig, außer im Gesicht. 34Der Tastsinn wird als die „Mutter der Sinne“ bezeichnet. Die Haut ist für denSäugling ein wichtiges Kommunikationsmittel. Er empfängt über sie Signaleseiner Umwelt, z.B. spürt er durch die Art, wie er gehalten oder liebkost wird,ob der Mensch liebevoll oder gleichgültig ist. Er lernt, den Berührungen34vgl. Zimmer, 11 2003, S. 110


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 20Bedeutungen zu geben. Der Säugling kommuniziert auch aktiv mit seinemganzen Körper, indem er sich anschmiegt, wenn er sich wohl fühlt oder sichsteif macht, wenn er Angst hat oder ihm unbehaglich zumute ist. Für denAufbau emotionaler Beziehungen zwischen dem Säugling und seinenBezugspersonen ist Fühlen und Berühren in den ersten Monaten besonderswichtig. 35 In den dieser Zeit spielt der Mund als Tastorgan eine große Rolle,die später mehr und mehr von den Händen übernommen wird.Das Tasten und Berühren gehören in unsere Gesellschaft zu den wenigerakzeptierten Sinnesbereichen. Kinder treffen oft auf Unverständnis seitensder Erwachsenen, wenn sie ihre Umwelt mit den Händen erkunden unddurch Greifen begreifen wollen. Doch Kinder lernen durch Berühren undErtasten ihre Umwelt kennen und verknüpfen die dadurch gemachten Erfahrungenmit denen der anderen Sinne. Und auch Erwachsene suchen bei denDingen, die sie berühren können, häufig eine Bestätigung der durch andereSinne wahrgenommenen Eigenschaften. 361.3.4 Das kinästhetische System –der Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn„von etwas bewegt sein“, jemand ist „unbeweglich“ oder „beweglich“,„kraftvoll“ oder „kraftlos“,...Kinästhesie bedeutet die Wahrnehmung der Raum-, Zeit-, Kraft- undSpannungsverhältnisse der eigenen Bewegung. Unter kinästhetischer Wahrnehmungwird die Lage- und Bewegungsempfindung verstanden, die nichtdurch das Sehen vermittelt wird. Da die Rezeptoren hier keine Umweltreizeaufnehmen, sondern Reize, die im eigenen Körper entstehen, werden siePropriozeptoren genannt (proprius = der eigene). Sie befinden sich imganzen Körper verteilt in Muskeln, Sehnen, Bändern und Gelenkkapseln. Dadie Sinneszellen sich im tiefer gelegenen Gewebe des Körpers befinden,35vgl. Pikler, ³2001, S. 16936vgl. Zimmer, 11 2003, S. 101-111


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 21wird der kinästhetische Sinn auch als „Tiefensensibilität“ oder als „Tiefenwahrnehmung“bezeichnet.Über den Stellungssinn wissen wir, in welcher Lage sich unsere Gliedmaßenbefinden. Auch mit geschlossenen Augen kann die Hand zu jedem anderenKörperteil greifen.Die Wahrnehmung jeglicher Bewegung des Körpers (Richtung und Geschwindigkeit)ohne visuelle Kontrolle wird als Bewegungssinn bezeichnet.Der Kraftsinn ist die Fähigkeit, abschätzen zu können, wie viel Muskelkraftman benötigt, um eine Position der Gliedmaßen zu halten oder um eineBewegung auszuführen.Über den Spannungssinn spüren wir, wie viel Muskelspannung für bestimmteTätigkeiten notwendig oder wie viel Muskelspannung gerade in bestimmtenMuskelgruppen vorhanden ist.Meist ist uns die kinästhetische Wahrnehmung nicht bewusst. Wir nehmensie jedoch dann bewusst wahr, wenn wir neue Bewegungsabläufe einüben,wie z.B. beim Sport oder beim Erlernen eines Musikinstrumentes. Diebewusste Bewegungskontrolle wird dann so lange aufrechterhalten, bis derneue Bewegungsablauf automatisiert ist. 37Die Entwicklung der kinästhetischen WahrnehmungSchon im 2. Schwangerschaftsmonat werden die Propriozeptoren angelegt.Im 3. Monat erfährt der Fötus passive Bewegung durch die Bewegungen derMutter und bewegt aktiv beim Schwimmen im Fruchtwasser seine Gliedmaßen.Der dazu zur Verfügung stehende Raum, d.h. der Platz in der Gebärmutter,nimmt in den nächsten Monaten ab und die aktiven Bewegungen desEmbryos sind eingeschränkt und begrenzt. Aufgrund dieser Erfahrung imMutterleib ist es für den Säugling in den ersten Lebenswochen wichtig, dasser z.B. Kontakt zum Fußende seines Bettchens hat, wenn er die Beinestreckt. Unbegrenzter Raum ist neu und macht zunächst noch Angst.37vgl. Zimmer, 11 2003, S. 116-122


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 22Später braucht der Säugling dann genügend Platz, um in seinen Bewegungennicht eingeschränkt zu sein und neue Bewegungsabläufe entwickeln zukönnen. Mit einem Monat kann sich der Säugling bereits anschmiegen an diePerson, die ihn hält. Durch die Rückmeldungen aus seinen Muskeln undGelenken spürt er, wie er das Gehalten werden aktiv durch die eigeneKörperhaltung unterstützen kann.1.3.5 Das vestibuläre System: der Gleichgewichtssinn„mit beiden Beinen fest im Leben stehen“, „den Boden unter den Füßenverlieren“, „in seiner Mitte sein“, „sein inneres Gleichgewicht finden“,„aus dem Lot geraten sein“, „aus den Pantoffeln kippen“, ...Über den Gleichgewichtssinn stellen wir fest, in welcher Lage sich unserKörper im Raum befindet, wie sich die Schwerkraft darauf auswirkt und aufwelche Art und wie schnell wir uns bewegen oder bewegt werden. Die Bereicheder kinästhetischen Wahrnehmung (Stellungs-, Bewegungs-, Kraft- undSpannungssinn) sind die Sensoren des vestibulären Systems.Diesesreagiert auf die Einwirkung der Schwerkraft sowie auf Lage- und Haltungsveränderungendes Körpers, indem Informationen darüber an das Gehirnübermittelt werden. Von dort aus werden dann entsprechende Anpassungsleistungenausgelöst, wie z.B. eine Gewichtsverlagerung vom linken auf dasrechte Bein. 38Das vestibuläre System ist das alles vereinende Bezugssystem, da es dieGrundbeziehungen formt, die ein Mensch zur Schwerkraft und zur physischenUmwelt hat. Alle sinnlichen Wahrnehmungen werden durch denGleichgewichtssinn angeregt, reguliert und integriert, so dass der Körper mitallen seinen Sinnen als Ganzes zusammenwirkt 39 , wie folgendes Beispielzeigt: „Das Sehzentrum in der Hirnrinde erhält so viele Impulse von Seitendes vestibulären Systems, dass eine richtige Entwicklung des Sehvermögensohne entsprechende vestibuläre Stimulation während der Jahre der Kindheitnicht zustande käme.“ 4038vgl. Zimmer, 11 2003, S. 128-13539Zimmer 11 2003, S. 130/13140Ayres 1984, S. 106


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 23Wenn das vestibuläre System aktiv sein muss, hilft dies, den Wachheitsgraddes Nervensystems ausgewogen zu halten, was je nach Art der Bewegungbelebend oder beruhigend sein kann. 41 Der natürlichen Bewegungsdrang einesKindes beginnt im Mutterleib. Per Ultraschall sind schon in der 12. WocheEigenbewegungen des Fötus zu erkennen, die sich dann verstärken,wenn die Mutter zur Ruhe kommt. Durch Schwingungen werden Reize andas Gehirn geleitet, was nach Tomatis (1990) eine Art Batteriefunktion fürdas Gehirn bedeutet. 42„Aktives Sitzen“, z. B. auf einem Ball oder einbeinigem Hocker, beanspruchtdie Muskulatur und unterstützt die Aufmerksamkeit, weil man sein Gleichgewichtständig ausbalancieren muss und weil die in der Wirbelsäule verlaufendenetzförmige Nervenmasse in aufrechtem Zustand aktiver sein kann.Durch den Gleichgewichtssinn orientieren wir uns im Raum und nehmenwahr, wie sich die Schwerkraft auf unsere Lage im Raum auswirkt. Wirnehmen wahr, wie wir uns bewegen, ob linear oder rotierend, beschleunigendoder verlangsamend. Hierbei ist das kinästhetische System eng mitdem Vestibularsystem verknüpft, so dass wir nicht nur unsere Lage, sonderngleichzeitig auch unsere Bewegung wahrnehmen.Als statisches Gleichgewicht wird bezeichnet, wenn man im Stand versucht,das Gleichgewicht zu halten. Das dynamische Gleichgewicht bezeichnet dasGleichgewicht während einer Fortbewegung, die linear oder rotierend seinkann. Das Balancieren von Objekten wird als Objektgleichgewicht bezeichnet.Die verschiedenen Arten der Gleichgewichtserhaltung können auchmiteinander kombiniert sein bzw. werden.Die Entwicklung der vestibulären WahrnehmungDie Ausbildung des Gleichgewichtsorgans beginnt zwischen der sechstenund achten Schwangerschaftswoche. Die dazugehörigen Nervenbahnen entwickelnsich bis zur 10. Woche und festigen sich bis zur 21. Woche. Dies isteiniges früher als bei den anderen Sinnessystemen. Das Vestibularsystem41vgl. Ayres 1984, S. 10442vgl. Lensing-Conrady in Pütz, 1998, S. 210 / 211


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 24funktioniert von Beginn an, noch bevor es ausgereift ist. Durch seine Funktionentwickelt es sich weiter, sowohl pränatal als auch nach der Geburt, einLeben lang. Besonders im ersten Lebensjahr begleitet das Baby die Auseinandersetzungmit der Erdanziehungskraft, wenn es den Kopf zu hebenversucht oder seinen Körper aufrichten will. 43 Ebenso ist der Gleichgewichtssinnbei allen Fortbewegungsarten gefordert, vor allem bei neuen Bewegungen.Ein gutes Training für das vestibuläre System sind alle Arten des Schaukelns,Drehens, Rollens um die Körperlängs- und -querachse, Balance halten aufkleinen Flächen und Auf- und Abbewegungen des Körpers, z.B. auf einemTrampolin.Die beiden folgenden Sinne haben eine enge Verbindung zueinander:1.3.6 Das olfaktorische System – der Geruchssinn„die Nase voll haben“, „jemanden nicht riechen können“, „mir stinkt es“, „verduften“,„verschnupft sein“, „dicke Luft“, „es riecht nach Gefahr“, ...Das Geruchsorgan ist die Nase. Sie liefert uns Informationen über die Luftzusammensetzungunserer Umgebung. Auch die Nase kann man nicht einfachverschließen, wenn man einen Geruch nicht mag oder die umgebenden Gerüchezu viel werden. Geruchswahrnehmungen sind eng mit Gefühlen verknüpft,da eine enge Verbindung zwischen der Riechbahn und dem LimbischenSystem besteht. Dieses ist für die emotionale Bewertung von Sinneswahrnehmungenverantwortlich. Geruchserfahrungen können besonders langeerinnert werden.Der Geruchssinn (wie auch der Geschmackssinn) zeigt im Vergleich zu anderenSinneswahrnehmungen eine hohe Anpassungsfähigkeit. Noch währenddes Reizes sinkt die Erregung der aufsteigenden Bahnen schnell ab. 44Dementsprechend wird die Geruchswahrnehmung bereits nach einem kurzenAufenthalt in einer duftstoffhaltigen Gegend geringer. Man kann auch nur43vgl. Zimmer, 11 2003, S. 13544vgl. Zimmer, 11 2003, S. 141-144


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 25wenige unterschiedliche Düfte in Folge riechen und erkennen, ohne zwischendurcheine längere Pause zu machen.Die Entwicklung der olfaktorischen WahrnehmungDer Geruchssinn ist bei der Geburt schon gut entwickelt. Neugeborene differenzierenzwischen verschiedenen Gerüchen. Sie zeigen positive Gesichtsausdrückebeim Riechen von Erdbeer-, Bananen- und Vanilleduft und negativebeim Riechen fauler Eier und Fisch. Am Ende der ersten Lebenswoche erkennenSäuglinge ihre Mutter an ihrem Brustgeruch. 45 Die Nase gewöhntsich an die sie umgebenden Gerüche. Sie nimmt Düfte, die sie häufig umgeben,nur dann noch wahr, wenn ihre Konzentration einmal höher ist als gewohnt.1.3.7 Das gustatorische System – der Geschmackssinn„jemanden süß finden“, „sauer sein“, „das bittere Ende“, „einem gründlich dieSuppe versalzen“, „etwas geschmacklos finden“, „in den sauren Apfel beißen“,„über Geschmack lässt sich streiten“, ...Erst durch den Geschmackssinn genießen wir Nahrung und können ähnlichaussehende Nahrungsmittel unterscheiden. Durch die Geschmacksempfindungwerden die Speichel- und die entsprechenden Magensaftabsonderungenangeregt. Die Rezeptoren des Geschmackssinnes sind die sogenanntenGeschmacksknospen, die sich in der gesamten Mundhöhle und auf der Zungebefinden. Sie sprechen nur auf wasserlösliche Stoff an. Die Geschmackssinneszellenwerden ständig (in 10-tägigem Abstand) erneuert. Die Geschmacksempfindungenwerden in vier die Grundqualitäten süß, salzig, bitterund sauer unterschieden. Bitter wird vorwiegend vom Zungengrund wahrgenommen,sauer vom Zungenrand sowie salzig und süß an der Zungenspitze.Mischempfindungen sind für viele Geschmacksreize charakteristisch. 4645 vgl. Oerter/Montada, 5 2002, S. 39746vgl. Zimmer, 11 2003, S. 147 - 150


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 26Die Entwicklung der gustatorischen WahrnehmungDie Geschmacksknospen sind pränatal ab dem 3. Monat ausgebildet. DerGeschmackssinn ist bei der Geburt bereits gut entwickelt. Neugeborene habeneine Vorliebe für süß. Bereits zwei Stunden nach der Geburt zeigen Neugeboreneunterschiedliche Gesichtsausdrücke beim Schmecken süßer, salziger,saurer und bitterer Flüssigkeiten. Diese angeborene Fähigkeit soll evtl.das Kind vor Vergiftung schützen. Ab dem 4. Monat mögen Säuglinge auchsalzigen Geschmack, den sie wenig früher noch nicht mochten. 47Der Geschmackssinn differenziert sich weiter durch die Reize, die ihm gebotenwerden. Isst ein Mensch immer scharf gewürzte Gerichte, so erscheintihm ein normal gewürztes Gericht als fade, welches ein anderer Mensch vielleichtals geschmacklich wunderbar empfindet.1.3.8 FazitMöglichst vielfältige Sinneserfahrungen sind wichtig, um die verschiedenenSinnessysteme weiterzuentwickeln und deren Wahrnehmung zu verfeinern.Wenn Sinneserfahrungen in einer bestimmten sozialen und kulturellen Weltgering geschätzt und vernachlässigt werden, gehen die Informationen dieserSinnesbereiche für die innere Verarbeitung weitgehend verloren, d.h. sie könnennicht integriert werden. 481.4 Sensorische Integrationam Vergleich der Bauch- und Rückenlage des NeugeborenenDas Zusammenwirken von Stellungs-, Bewegungs-, Kraft- und Spannungssinn,des vestibulären und des visuellen Systems wird bei der Sinnesentwicklungvon Säuglingen ab der Geburt bei Vergleich von Rücken- und Bauchlagedeutlich.Neugeborene akzeptieren jede der beiden Lagen. Für die Bewegungsentwicklungund die Entwicklung der Auge-Hand-Koordination ist dieRückenlage jedoch der Bauchlage vorzuziehen, da der Säugling in der47vgl. Oerter/Montada, 5 2002, S. 39748vgl. Schäfer, ²2005, S. 77


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 27Rückenlage seine Arme und Beine frei in allen Gelenken bewegen kann. Erkann den auf der Unterlage aufliegenden Kopf nach links und rechts drehensowie vor und zurück beugen. Die Muskelempfindungen der Nackenmuskulaturgeben Informationen über die Stellung des Kopfes zum eigenen Körperund zum umgebenden Raum.Der Säugling kann so Gegenstände, die sich im Raum bewegen und die ihninteressieren, mit dem Blick zu verfolgen - zu Anfang nur kurz, mit der Zeitsteigert es sich. Die Empfindungen de Augenmuskeln informieren das Gehirndabei über die Stellung der Augen. Die optischen Reize und die Impulse vomInnenohr, den Augenmuskeln und der Nackenmuskulatur werden integriert,um ein klares Bild von der Umgebung zu bekommen.Mit dem Strampeln mit Armen und Beinen trainiert der Säugling seineBauch-, Rumpf-, Arm- und Beinmuskulatur. Er entdeckt nach einigenWochen seine Hände, erkennt, dass diese zu ihm gehören und lernt, dass ersie selbständig bewegen kann.Durch den Prozess des Zusammenfügens der verschiedener Empfindungenlernt der Säugling, trotz Bewegung seines Kopfes oder seines gesamtenKörpers, seine Umgebung klar zu sehen. 49Ungefähr nach dem dritten Lebensmonat dreht sich der Säugling auf dieSeite, wobei das vestibuläre System sowie Kraft- und Spannungssinnverstärkt eingesetzt werden müssen. Er sieht nun auch seine Beine undFüße, spielt in der Seitenlage mit den Bein- und Fußbewegungen und lerntdiese kennen. Ab ca. einem halben Jahr dreht sich der Säugling auf denBauch, verbringt mehr und mehr Zeit in der Bauchlage, nutzt Drehbewegungen(Rollen) zu Platzwechseln und hebt nun zum ersten Mal für längere Zeitseinen Kopf von der Unterlage ab. Die vordere und seitliche Rumpf- undHalsmuskulatur ist zu diesem Zeitpunkt dafür auch genügend gekräftigt.Im Gegensatz dazu ist der Säugling, der von Anfang an in die Bauchlagegebracht wird, weder zu freien Arm- und Beinbewegungen noch zum freienDrehen des Kopfes in der Lage. Es fehlt die Möglichkeit, die Muskulatur zubeanspruchen und durch Übung zu kräftigen. Hinzu kommt, dass in dieser49vgl. Ayres 1998, S. 31


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 28Lage immer nur ein Auge frei sehen kann. Der Säugling kann keine Gegenständemit dem Blick verfolgen und den Kopf nur ruckweise mit verkrampfterNackenmuskulatur für kurze Momente von der Unterlage heben. Dadurchdass der Kopf nur nach hinten gebeugt werden kann, verkürzt sich dieNackenmuskulatur. Die Füße sind entweder nach innen oder nach außengedreht. Diese Gewohnheit wird später beim Aufrichten in den Kniestandbeibehalten.Für die visumotorische Koordination und generell für die sensorische Integrationbietet die Bauchlage in den ersten Monaten weniger gute Übungsmöglichkeiten.Aus diesen Gründen stellt sie eine ungünstigere Ausgangspositionfür Neugeborene dar. Vergleiche von Bewegungsentwicklungsprotokollen indem Alter von drei Monaten bis zu eineinhalb Jahren ergaben, dass Bauchlagekinderweit häufiger aus dem Gleichgewicht gerieten als Rückenlagekinder.50Die Bauchlage ist eine Position, die die Säuglinge sich selbst aneignen,wenn ihre Muskulatur so weit gekräftigt ist, dass sie sich selbständig in diesePosition bringen können. Ab diesem Zeitpunkt ist sie für die weitere Ausbildungder Muskulatur sehr wichtig.1.5 Die Verknüpfung von sinnlicher Wahrnehmung und BewegungJedes Kind hat einen inneren Drang zu einer immer besseren Reizverarbeitung51 , was sich in einem Antrieb zu immer neuen Bewegungen und spielerischenTätigkeiten äußert. Sensorische Integration hängt deshalb eng mitMotorik zusammen. Um ihren Körper erproben und die Wahrnehmung differenzieren,verfeinern und weiterentwickeln zu können, brauchen Kindermöglichst naturnahe Bewegungsräume, Zeit und eine freundliche, bejahende,unterstützende Einstellung der erwachsenen Bezugspersonen zu ihremTun. Auf diese verschiedenen Faktoren, die eine ganzheitliche Entwicklungfördern, werde ich im nun folgenden Kapitel eingehen.50vgl. Pikler ³2001, S. 108-11551vgl. Ayres 1998, S. 24


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 302.1 Eigenständige spielerische BewegungsentwicklungErst durch die körperliche Bewegung entstehen die für das Denken notwendigenNervenverbindungen und entwickeln sich die Sinne. Deshalb ist derMensch schon vom Säuglingsalter an auf Bewegung angewiesen, um sichdie Welt zu erobern und sich den ständig wechselnden Lebensbedingungenanzupassen. 54Der Säugling lernt von Anfang an, aus Eigeninitiative heraus zu spielen, inseinem Bereich unabhängig zu sein und eigene Erfolgserlebnisse zu haben,wenn die äußeren Bedingungen (siehe auch Kapitel 2.4.3) ihm dazu dieMöglichkeiten bieten. Die Beziehungen zu seinen Bezugspersonen spielenhierbei auch eine wichtige Rolle (siehe auch Kapitel 2.4.2):„Spontanes Spiel, wenn es sich natürlich entwickeln darf, will wiederholen.Ganz kleine Kinder wollen „unendlich“ oft Elemente wiederholen.(...)Vertrauen in das Leben bildet sich durch diese Eigenwiederholung. Stört mandiese oder geht nicht genügend darauf ein, so stört man auch dieErfahrungsbildung des Vertrauens.“ 55Während ein Kind spielt, lernt es, wie man lernt. Lernen ist eine Funktion desgesamten Nervensystems, wozu das Kind wie schon erwähnt differenzierteReize der Sinnesorgane und Bewegungsaktivitäten benötigt. Aus der Vielzahlvon Empfindungen hervorgegangene Bedeutungen sind hilfreich, umabstrakte und kognitive Gedanken zu formen, d.h. gegenseitige sensomotorischeBeeinflussung liefert das Grundgerüst für spätere geistige Leistungen.Einem Kind fällt das Lernen umso leichter, je mehr Nervenverbindungen seinGehirn gebildet hat, je besser diese durch verschiedenartige Reize vernetztund geübt sind und je stärker seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten.56Ab dem Zeitpunkt der Platzwechselfähigkeit gewinnt das Kleinkind Erfahrungüber die physikalische Struktur des Raumes sowie den Abstand zwischenihm selbst, den Gegenständen und den Personen in seiner Umgebung. Um54Auf der Heide in Pütz, 1998, S. 5755Kuhfuss 17.2.2004, S. 456vgl. Ayres ³1998, S. 81-83


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 31Entfernungen abschätzen zu können, muss das Kind die Art des Abstandsdurch die Eindrücke der Körperbewegungen fühlen können und dies mitseinen visuellen Eindrücken verknüpfen. Die durch vielsinnliche Wahrnehmunggewonnenen Informationen ermöglichen es dem Kind, seine Bewegungenplanen zu können. Nun lernt das Kind auch, dass Gegenstände nichtverschwinden, wenn sie nicht mehr in seinem Blickfeld sind. Dies ist derBeginn der geistigen Fähigkeit, sich Dinge vorstellen zu können. 57Ab diesem Zeitpunkt erforscht das Kind mit natürlicher Neugier seine Umgebungimmer intensiver, wodurch auch sein Zentralnervensystem und seingesamter Körper intensiv stimuliert werden. Es schafft sich Spielräume in derUmgebung, die dazu geeignet sein sollte. „Je unterschiedlichere Dinge es beiseinem Umherstreifen erforscht, desto mehr Übung erfährt es im Verarbeitenvon Wahrnehmungen und im Formen von Anpassungsreaktionen zu diesenWahrnehmungen.“ 58Das Kind hat nun Vorstellungen in Form innerer Bilder von den Dingen undsich selbst, oder in Form von Szenen, die es erfahren hat. Im Spiel verändertdas Kind diese inneren Bilder und Szenen und entwickelt sie weiter inNachahmungs- und in So-Als-Ob-Spielen. Vorstellungen werden zuHandlungen und diese werden in Vorstellungen wieder weiterentwickelt. 59Je differenzierter also die Anregungen in der Umgebung des kleinen Kindessind, desto mehr kann es erleben und tun, was wiederum seine Motivationsteigert. Je mobiler das Kind in seinen Bewegungen wird, desto komplexerwerden die Planungen und Ausführungen seiner Handlungen.Aus der Gehirnforschung kommen neue Hinweise auf eine enge Verbindungdes Denkens und motorischer Handlungen. Denken stellt eine Art inneresHandeln dar und benutzt zum Teil die gleichen Nervennetze wie das konkreteHandeln. Diese Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Bewegungdie geistigen Hirnfunktionen wie Gedächtnis, Sprache, Emotionen und rationalesDenken unterstützt. 60 Bewegungsbedürfnisse ausleben zu können ist57vgl. Ayres ³1998, S. 35-3658Ayres ³1998, S. 3759vgl. Schäfer, ²2005, S. 100-10160vgl. Schäfer, ²2005, S. 86


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 32also eine Hauptvoraussetzung, nicht nur für eine gesunde körperliche,sondern auch für eine gesunde emotionale und kognitive Entwicklung. Auchin unserer Sprache finden sich räumliche Vorstellungen und Bilder wieder:„sich selbst im Weg stehen, „auf der Leitung stehen“, „zwischen den Stühlensitzen“, „hoch hinaus wollen“, „tief fallen“, „sich fallen lassen“, „gehalten werden“,„festgehalten werden“, „loslassen“, „mit jemandem mitlaufen, „sich ziehenlassen“, „geschoben werden“, „jemanden umschubsen“, „vor jemandemweglaufen“, uvm..Das folgende Beispiel aus der Säuglingsforschung verdeutlicht, wie pantomimischeBewegungen die Sprachentwicklung fördern:Erforscht wurde der Zusammenhang von Zeichensprache und Sprachentwicklung.Drei Gruppen mit je vierzig Kindern wurden bis zum Alter von vierJahren untersucht und dabei alle sechs Monate getestet. Nur eine der dreiGruppen wurde zu Gestik und Pantomime ermutigt. Festgestellt wurde, dassdie Kinder, die Gebärdensprache benutzten, stärker an Kommunikation interessiertwaren und früher sprechen konnten als die der Vergleichsgruppen.Weiterhin waren sie den anderen im Vokabular sowie bei kognitiven Übungenund Intelligenztests weit voraus. 61Im folgenden Abschnitt gehe ich auf den Zusammenhang von Psychomotorikund Kognition näher ein:2.2 Emotionale Wahrnehmung, Psychomotorik und Kognition„Nichts ist im Verstand, was nichtvorher in den Sinnen war.“John LockeFür sinnvolle Bewegungsaktionen wird die Mitwirkung der Sinne benötigt,genauso wie die Sinne durch Motorik geschärft und leistungsfähiger gemachtwerden. Aufgrund dieser Wechselwirkung wird die Sensomotorik als eine61vgl. Ratey, 2001, S. 216 zitiert in Schäfer, ²2005, S. 85


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 33funktionelle Einheit von Wahrnehmen und Sich-Bewegen bezeichnet. DerAusdruck `Psychomotorik´ fasst diese Funktionseinheit noch weiter, indemdas Emotionale mit einbezogen wird. Der Mensch nimmt wahr, bewertet dasWahrgenommene gefühlsmäßig und handelt. 62Die emotionalen Wahrnehmungen entfalten und verfeinern sich mit zunehmenderLebenserfahrung. Mit den primären Emotionen Freude, Trauer, Angstund Zorn, die durch die biologische Ausstattung mitgegeben sind, bewertenSäuglinge von Geburt an alle Ereignisse. Die primären Gefühle sind in ihrerÄusserungsform noch roh, d.h. sie werden unkontrolliert in Handeln umgesetzt.Durch die Beziehungserfahrungen, die ein Kind zunächst zu Personen,später auch zu Dingen erlebt, werden die primären Gefühle verfeinert undbereichert. So können sich viele verschiedene emotionale Reaktionsmöglichkeitenentwickeln, d.h. unterschiedliche Formen von Freude, Leid oderTrauer erlebt werden (sekundäre Gefühle).Neue Situationen werden emotional differenziert im Licht vorausgegangenerErfahrungen bewertet. Was einmal gefallen hat, wird herbeigewünscht, waseinmal missfallen hat, das wird vermieden. 63Gefühle müssen expressiv-motorisch geäußert werden, wenn Kinder psychosomatischgesund bleiben sollen. Innere Bewegtheit muss sich in äußererBewegtheit mitteilen dürfen, damit die Kinder den Umgang mit ihrenGefühlen lernen können, d.h. lernen, ihre Gefühle so auszudrücken, dass sieandere nicht beeinträchtigen. 64Kinder brauchen zusätzlich zu dem geeigneten Spielmaterial auch Spielkontakte,da die Differenzierung der Gefühle ein ausreichendes Maß anBeziehungserfahrungen voraussetzt.Spielerische Bewegung verbessert die Denkfähigkeit und ist das wirksamsteMittel, um emotionale Anspannung abzubauen. Da Kinder heute besonders62vgl. Kiphard 9 2001, S. 1763vgl. Schäfer, ²2005, S. 92-9464vgl. Kiphard 9 2001, S. 109


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 34vielen visuellen und akustischen Reizen ausgesetzt sind, die sich in ihnenakkumulieren, ist es umso wichtiger, dass sie Raum haben, diese vielen Eindrückeim Spiel auszuagieren, d.h. herauszuspielen. Im freien Spiel könnensie dies am besten tun. Was Kinder spielen, hängt stark damit zusammen,was sie erlebt haben. Im Spiel werden Verhaltensweisen ohne drastischeKonsequenzen ausprobiert. Spiel ist notwendig, denn die verschiedenstenHandlungsweisen, Erfahrungen, Sozialverhalten und Reaktionsmusterwerden durchgespielt und dadurch gelernt. 65Bei Bewegungsspielen im Kindergartenalter werden die verschiedenenSinne angesprochen und in Verbindung mit motorischem Handeln immerwieder kognitive Lernprozesse aktiviert, denn bei jeder Aufgabe, jederÜbung, bei jedem Spiel geht der Ausführung ein kurzer Denkprozess voraus.Hier wird ein entscheidender Beitrag zur Begriffsbildung geleistet, denn durcheigene Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrung lernt man sehr viel plastischer,was mit schnell oder langsam, vorwärts oder rückwärts, schwer undleicht, nah und fern, hoch und tief etc. tatsächlich gemeint ist. 662.3 Herausforderungen und Anregungen durch BewegungBewegung ist eine Notwendigkeit, denn sie ist die Grundlage der gesamtenEntwicklung. Im biologischen Leben gibt es keinen Stillstand. Alles verändertsich ständig und Stillstand (des Herzens, des Atems) bedeutet Tod. Es ist dieNatur des Menschen, ständig neue Reize zu suchen und die eigenenMöglichkeiten auszuprobieren. Kinder haben einen ausgeprägten Bewegungsdrang.Durch Bewegung wird Neues ausprobiert und somit auch Unsicherheit inKauf genommen. Dies bedeutet, Risiken einzugehen, denn wer sein Gleichgewichtaufs Spiel setzt, kann es auch verlieren. Aber der Reiz liegt in derGrenzerfahrung. Kinder lieben sinnlich aufregende Erlebnisse und Gefühlewie Schwindel, Kitzel im Bauch, Lust am Drehen, Fallen, Geschwindigkeit,Schweben und Rhythmus. Auf den Ebenen der Beschleunigung, der Rotation65vgl. Spitzer 1996, S. 6866Vgl. Kiphard 9 2001, S. 104


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 35und der Schwingung üben Kinder immer wieder und suchen Grenzerfahrungen,auf die immer auch die Schwerkraft einwirkt. 67Wie schon in Kapitel 1.4.5 beschrieben, benötigt das vestibuläre System alsalles vereinendes Bezugssystem möglichst vielfältige und differenzierte physischeReize, die immer mit der Schwerkraft zusammenwirken, um als grundlegendesOrientierungssystem seine Funktionen zu vervollkommnen.„Labilität birgt Unsicherheit und Nervenkitzel, Stabilität das „rettende Ufer“-zumindest eine Zeit lang. Nur Unsicherheit, nur Sicherheit sind unerträglich.“68Es ist wichtig, diese Freude, sich aus eigener Motivation zu bewegen, möglichstwenig zu reglementieren oder einzuschränken. Kinder sind permanentauf der Suche nach Reizen, vor allem auch, was das Gleichgewicht betrifft.„Verstehen wir Lernen als das Entstehen neuer Ordnungsstrukturen 69 , findetdie Lust der Kinder, ihr Gleichgewicht immer und immer wieder zuverschaukeln, Zustände des Kippens, der Instabilität aufzusuchen, eineplausible Erklärung.“ 70Regelmäßige und herausfordernde Bewegung stärkt ein positives Körperbewusstseinund leistet einen entscheidenden Beitrag zu körperlichem undseelischem Wohlbefinden.Aus eigener Erfahrung wissen wahrscheinlich die meisten Menschen, dasssie in schwierigen Situationen oder durch Herausforderungen am meistenlernen, jedenfalls mehr, als wenn alles spielerisch einfach abläuft unddadurch dann auch oft langweilig wird. Sich selbst gesetzte Herausforderungenzu bewältigen liegt wohl in der Natur des Menschen, sonst gäbe es keineBergsteiger, Kletterer, Flieger, Rennfahrer usw.. Grenzerfahrungen werdengesucht, nicht nur von Kindern.67vgl. Lensing-Conrady in Pütz, 1998, S. 212-21468Lensing-Conrady in Pütz, 1998, S. 21369in Theorien im neuen Zusammenhang mit der „Lebenswissenschaft“ nach Capra wird deutlich,dass sich neue Ordnungsformen höherer Komplexität fern vom Gleichgewicht entwickeln,vgl. Capra, F., 1996: Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt, Scherz70Lensing-Conrady in Pütz, 1998, S. 213


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 362.4 Aspekte zur selbständigen BewegungsentwicklungDr. Emmi Pikler, Kinderärztin, Gründerin und 33 Jahre lang Leiterin desSäuglingsheims Loczy in Budapest (offiziell heute: Staatliches MethodologischesInstitut „Emmi Pikler“ für Säuglingsheime), Forscherin im Bereich derselbständigen Bewegungsentwicklung, war überzeugt davon, dass Kindernicht davon abhängig sind, dass Erwachsene ihnen Bewegungen beibringenund mit ihnen üben, sondern dass sie von Geburt an die Fähigkeit haben,selbständig alle Bewegungen zu erlernen. Sie hat die selbständigeBewegungsentwicklung vieler Kinder von Geburt an dokumentiert und beschrieben.In mehr als 20 Jahren sind 1500 Kinder in Loczy mit selbständigerBewegungsentwicklung aufgewachsen ohne dass ein einziger Knochenbruchpassiert ist. 71 Darunter waren sich extrem langsam entwickelnde Kinder, sichextrem schnell entwickelnde Kinder sowie Kinder mit Behinderung, wie z.B.Blindheit von Geburt an. Alle Kinder entwickelten in ihrem eigenen Tempodieselbe Sicherheit, Geschicklichkeit und Anmut in den Bewegungen, jedochbenötigte z.B. ein blindes Kind für das Stehen und Gehen eine wesentlichlängere Zeitspanne, da ihm die visuellen Informationen fehlen, welche dieanderen Sinne ausgleichen müssen.Die Kinder lösen selbstgestellte Aufgaben mit Umsicht, Ruhe, Ideen undImprovisationskunst. 72 Für jeden ist es günstiger, auf seinem eigenen Niveau,dem Niveau seiner Entwicklung, aktiv und vielseitig Möglichkeiten zu realisieren,als immer „verspätet“ zu sein.Emmi Pikler hat die Versuche der Erwachsenen, die Bewegungsentwicklungder Kinder durch Hilfestellungen und Förderung zu beschleunigen, kritischhinterfragt. 732.4.1 Autonomie und Eigenaktivität im freien SpielDas freie, selbständige Spiel ohne helfende Anleitung seitens der Bezugspersonist eine wichtige Grundlage der Entwicklung. Die Kinder entwickeln einstarkes Selbstvertrauen, da sie in ihren Bewegungen und Tätigkeiten unab-71vgl. Pikler 2001, S. 6272vgl. Fotoserien in Pikler 2001 ab S. 17473vgl. Pikler, 2001, S. 18–20, 166-173


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 37hängig sein dürfen. Sie können neue Bewegungen ausprobieren, so langesie wollen und sich in ihrem eigenen Tempo entwickeln ohne Leistungsdruckund Stress. Niemand versucht, sie zu neuen Bewegungen anzuspornen, weiler meint, es sei jetzt an der Zeit. Sie werden nicht von ihren Bezugspersonenin Körperhaltungen gebracht, die sie noch nicht allein einnehmen können.Somit bleibt ihnen Unsicherheit und Abhängigkeit von den Erwachsenenerspart. Die Freude am selbständigen Üben und an der Selbstwirksamkeitsind der Motor der Bewegungsentwicklung.Nur bei Kindern, die an Eigenaktivität nicht gehindert werden, kann die Kontinuitätder Selbsttätigkeit beobachtet werden. Voraussetzung ist, dass eineBezugsperson in der Nähe ist, um einen sicheren Rahmen zu bieten.Jedes Kind bestimmt selbst durch sein Interesse, wie lange es Neuesausprobiert. Zu Anfang verbringt es nur ganz wenig Zeit in der neuenHaltung, was sich dann nach und nach steigert. Erst wenn das Kind eineneue Bewegung gut kann, ersetzt es die alte Bewegungsform durch sie. Inder Zwischenzeit spielt es in den Positionen, die es schon gut beherrscht undtrainiert dabei weiter seinen Bewegungsapparat (im Gleichgewicht und mitEinsatz seiner gesamten Körpermuskulatur). 74„Alles Fertige wird angestaunt,alles Werdende unterschätzt.NietzscheEltern und viele Fachleute sind in den meisten Fällen grundlos besorgt, wennein Kind sich vom Zeitfaktor her in den Großbewegungen 75 (erstes Sitzen,Stehen, Laufen) nicht normgerecht entwickelt. Die Erwartungshaltungenmachen es schwer, Geduld aufzubringen und der natürlichen individuellenEntwicklung Raum und Zeit zu geben. 76Doch zum Wohl des Kindes ist es wichtig, darauf zu vertrauen, dass es inseinem eigenen Tempo und im Gleichgewicht selbständig alle Bewegungen74vgl. Pikler, 2001, S. 61-6375Herkömmlich als „Grobmotorik“ bezeichnet76vgl. Lensing-Conrady in Pütz, 1998, S. 214-216


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 38erlernen wird, wenn es sonst eine gute Koordination und Beweglichkeit zeigt(denn dann kann ein pathologischer Befund ausgeschlossen werden).„Die Geschicklichkeit von Kindern (wie auch die von Handwerkern) ist oftanmutig, d.h. tanzartig. Von hier stammt auch die Fähigkeit zum Umgehenmit Gefahren. Nur wer nicht nur mutig, sondern anmutig klettert, dem ist zuvertrauen. (...) Nur eine schöne Bewegung ist motorisch, aber auchhandwerklich zweckmäßig. Jede zweckmäßige Handlung ist letztlich auchharmonisch und schön.“ 77Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit motiviert das Kind, die Eigenaktivität zuerweitern. Ein Glücksgefühl entsteht, wenn es sich angestrengt und etwasaus eigener Kraft geschafft hat. Durch viele kleine Erfolgserlebnisse undüberwundene Niederlagen wächst das Selbstvertrauen. Spielen ermöglichtvielsinnliche und komplexe Erfahrungen.Spiel hat seinen eigenen Rhythmus, der dem subjektiven Erfahrungsprozessdes Kindes folgt. Erwachsene können Kinder darin unterstützen, ihreneigenen Rhythmus zu finden, anstatt sie durch äußere Zeitpläne dort herauszureissen.Spiel gestaltet sich mit Anfang und Ende, Höhepunkten unddahingleiten, An- und Aufregung, Entspannung, Versunken sein, körperlichemAgieren, Alleinsein oder Zusammenfinden mit anderen. 782.4.2 Beziehung Kind - Bezugsperson und frühe Ko-KonstruktionWie in Kapitel eins bereits beschrieben kann der Säugling von Geburt an alleArten von sinnlichen Wahrnehmungen gleichzeitig nutzen und zueinander inBeziehung setzen. 79 Ebenso teilt er sich von Anfang an über die Bewegungenund Haltungen seines Körpers, Mimik, Geräusche und bald auch Gestikmit. 80 So sollte auch seine Bezugsperson von Anfang an mit ihm kommunizieren,sprachlich und körpersprachlich sowie durch Mimik und Gestik.77Kuhfuss 2.2.2004, S. 8/978vgl. Schäfer ²2005, S. 115/11679vgl. Schäfer ²2005, S. 10980vgl. Schäfer, ²2005, S. 220


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 39Besonders wichtig ist bei dieser Interaktion die Aufmerksamkeit der Bezugspersonfür die feinen Signale des kleinen Kindes. 81Die Pflegehandlungen sollten immer in der gleichen Reihenfolge und Artdurchgeführt werden und dabei freundlich mit dem Säugling gesprochenwerden, damit er weiß, was mit ihm geschieht. So kann sich nach und nacheine gegenseitige vertrauensvolle partnerschaftliche Beziehung entwickeln.Im Prinzip entsteht so ein miteinander Lernen zwischen Bezugsperson undSäugling, was ich als eine frühe Ko-Konstruktion bezeichnen würde. DerSchlüssel der Ko-Konstruktion (Lernen durch Zusammenarbeit) ist die sozialeInteraktion. Sie fördert die geistige, sprachliche und soziale Entwicklung. 82Die Bezugsperson stellt sich auf das kleine Kind ein und umgekehrt, indemeine gegenseitige Verständigung stattfindet.Der Säugling wird mit der Zeit aktiver in diesem körpersprachlichen Dialog.Er erinnert Teile von alltäglichen Szenen, wodurch er die eine oder anderebekannte Erfahrung erwartet, wie z.B. gefüttert oder gewickelt zu werden.Die Kommunikation weitet sich aus und bekommt auch spielerische Elemente.Etwa ab dem dritten Monat spielen Bezugsperson und Säugling sogenannte Spiele `Mitziehens´. Im miteinander Spielen stimmen Kind undErwachsener sowohl ab, was sie miteinander tun, als auch, was sie miteinanderfühlen. 83Der Säugling entwickelt mit der Zeit ein kompetentes Verhalten und wird einaktiver Partner. 84„Kompetenz ist die Fähigkeit eines Organismus, wirkungsvoll in gegenseitigeBeziehung zu seiner Umwelt zu treten.“ 85 Für die spätere Persönlichkeitsentwicklungist es wichtig, Kompetenz schon möglichst früh selbst erlebt zuhaben. Das Kind erlebt Kompetenz in den pflegenden Handlungen mit denBezugspersonen, wenn diese so durchgeführt werden, dass das Kind dieAbläufe kennt und mithelfen kann.81vgl. Pikler, 2001, S. 26-2882vgl. Entwurf des hessischen Bildungsplans, S. 8083vgl. Schäfer, ²2005, S. 11384vgl. Pikler, 2001, S. 17085R. W. White: Motivation reconsidered: The concept of competence. Psychological Review,66, 5, 297-333, 1959 zitiert nach Pikler, 2001, S. 166.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 40Wichtig ist, dass das, was das Kind sieht, hört, fühlt und erlebt, einen Zusammenhangbildet und nicht plötzlich und unerwartet in sein Leben einstürzt.Das kleine Kind kann in der Wahrnehmung der Szene, die es mit seinerBezugsperson erlebt, herauslesen bzw. fühlen, wann etwas beginnt oder zuEnde geht.Hilfreich ist für das Kind, dass das, was die andere Person tut und erlebt,auch zu dem passt, was es selbst tut und erlebt. Nur dann kann es einenZusammenhang herstellen zwischen seinem eigenen Erleben und derErfahrung einer anderen Person in dieser Situation.In das Erleben von zusammenpassenden Beziehungen eingebettet erfahrendie Gefühle des Kindes eine Abstufung und Verfeinerung, außerdem wächstsein Interesse an der mit diesen Gefühlen verbundenen Person. Diesgeschieht nur, wenn die Bezugsperson ihre Handlungen auf die Möglichkeitenund Erwartungen des Kindes ausreichend abstimmt. Die Erlebnisse vonspezifischen Beziehungsqualitäten ermöglichen eine Differenzierung derGefühle. Das Spiel bringt auf diese Weise die feinere Abstimmung vonGefühlen voran. 86Kompetenz erlebt das kleine Kind auch in seinen selbständigen Spielhandlungen.Darin ist es unabhängig von den Erwachsenen und beschäftigt sichmit den Dingen, die es gerade interessieren. Es hat dabei Freude am selbständigenGelingen und erfährt Motivation durch das Gefühl der eigenenWirksamkeit. Aufgrund der sicheren gegenseitigen Beziehung fühlt das kleineKind sich sicher, auch wenn es den Erwachsenen nicht sieht. Je besser dieQualität dieses emotionalen Bandes, d.h. je sicherer die Bindung ist, destostärker kann das Kleinkind seinen Handlungsraum erweitern, desto eher istein Loslassen möglich. Erlebt das Kind Situationen oft in ähnlicher Weise,bilden sich Erfahrungsmuster, die mit Emotionen verknüpft in Erinnerungbleiben. 87In Situationen, die es überfordern, z.B. wenn es sich in eine Positiongebracht hat, aus der es sich allein nicht befreien kann und weint, wird es86vgl. Schäfer, ²2005, S. 9687vgl. Schäfer, ²2005, S. 221


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 41getröstet und in eine ihm bekannte und vertraute Ausgangsposition zurückgebracht.Kinder können wesentlich mehr aus sich selbst heraus tun als Erwachseneihnen oft zutrauen. Deshalb sollten sie eine Aufgabe zuerst allein ausprobierendürfen. Das Kind sollte nur dann ermutigt werden oder Hilfestellungbekommen, wenn es dies wirklich benötigt danach verlangt.2.4.3 Geeignete äußere Bedingungen und anregende UmgebungDie folgenden Bedingungen sollten gegeben sein, damit das Kind sich möglichstungehindert bewegen und selbst beschäftigen kann:Damit ein Kind sich möglichst frei bewegen kann, sollte es Kleidung tragen,die Bewegung möglichst wenig einschränkt und ausreichend Platz zur Verfügung(d.h. von Beginn an ein Bett mit 60x90 cm, ab 3 Monaten ein Spielgitter120x120 cm, ab Platzwechselfähigkeit 2x2 m, dies sind minimale Platzangabenim Kinderheim Loczy) sowie eine unnachgiebige Unterlage zum Spielenhaben. 88Geeignetes Spielmaterial (z.B. Ball, Rassel, unterschiedliche Gegenstände)sollte sich in Reichweite befinden und frei beweglich sein. Die Gesellschaftanderer Kinder, um Kontakt aufnehmen zu können, ist eine Bereicherung fürjedes Kind.Da ein Kind seine Umwelt `Schritt für Schritt´ erkundet, sollte der Bewegungsraummöglichst vielfältig und anregend sein. Wenn es die Witterungerlaubt, ist der Aufenthalt unter freiem Himmel dem in geschlossenen Räumenvorzuziehen. Ideal ist in der frühen Kindheit ein Garten ohne Gefahrenquellen(z.B. Giftpflanzen), der viele unterschiedliche Sinneseindrücke wieBäume, Büsche, Gras, Blumen Vögel, Eichhörnchen, Insekten, Himmelskörperetc. bietet.Ab dem Krabbelalter sind Unebenheiten des Geländes, Treppenstufen, einSandkasten, Grasboden und Erdboden ideale Möglichkeiten für vielfältigeBewegungs- und Spielaktivitäten. Klettergeräte, bzw. alle Arten von Gegenständen,die sich erklettern lassen, bieten Bewegungserfahrungen auf88vgl. Pikler, 2001, S. 28-30


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 42verschiedenen Ebenen und fordern zu einem Einsatz des gesamten Körpersheraus. Hat es geregnet oder steht eine Wasserquelle zur Verfügung, kanndas Kind draußen auch mit Sand oder Erde, Gegenständen und Wasserspielen.So kann das Kleinkind von Beginn an seinen Erkundungsdrang ausleben,lernen, Entfernungen abzuschätzen (wie weit ist es bis zu dem Spielzeug, istes greifbar oder nur durch Bewegung des ganzen Körpers erreichbar, ...), eskann beobachten, wie der Wind die Blätter bewegt oder wie ein Eichhörnchenvon Ast zu Ast springt. Es kann gestaltend auf seine Umgebung einwirken,indem es mit Sand, Erde, evtl. Wasser, und Naturmaterialien wie z.B.Stöckchen, Steine, Blätter, uvm. spielt (natürlich auch anderes Spielmaterialwie Schaufel etc., welches jedoch nicht notwendig ist).Wenn die Witterung ein draußen spielen nicht zulässt, sollte drinnen ebenfallsgenügend Raum und Raumelemente vorhanden sein, um auf verschiedenenEbenen Bewegungen ausführen zu können, sowie möglichst unstrukturiertesSpielmaterial (z.B. Bauklötze), das vielfältige Spielmöglichkeitenbietet.Je älter die Kinder sind, desto mehr Anregungen sollte die Umgebung bieten,um den natürlichen Bewegungs-, Spiel- und Forschungsdrang ausleben zukönnen. Die Kinder sollten möglichst täglich Gelegenheit bekommen zumKlettern, Schaukeln, Schwingen, Wippen, Rotieren, Springen, Steigen,Gleiten, Rollen, Balancieren, Kriechen, Ziehen, Schieben, Heben, Bauen,Werfen, Fangen und Rennen. 89 Dafür bietet eine möglichst unstrukturiertenatürliche Umgebung wie ein Wald oder eine naturbelassene Wiese mit altenObstbäumen hervorragende Voraussetzungen.2.5 Fazit der Kapitel eins und zweiSchon von Geburt an ist das Kind ein kompetentes Wesen, das Anregungensucht und sich neugierig seiner Umwelt zuwendet. Die ersten Lebenseindrückeprägen sein Gehirn nachhaltig. Es hat vor allem dann gute Entwicklungsmöglichkeiten,wenn es in seinem Umfeld gute Bedingungen für seinesensorische Integration vorfindet. Eine anregende und gleichzeitig sichere89vgl. Schäfer, ²2005, S. 222


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 43Umgebung weckt Interesse und bietet immer wieder neue Bewegungs- undSpielmöglichkeiten.Vom ersten Lebenstag an lernt ein Kind durch die komplexen ästhetischenErfahrungen, die es sinnlich, emotional und körperlich erlebt. Je differenzierterund vielfältiger die Möglichkeiten ästhetischer Erfahrungen sind, destobesser kann ein Kind seine vielsinnlichen Wahrnehmungen integrieren unddesto reicher sind seine inneren Bilder von der Wirklichkeit. Dies hat Auswirkungenauf seine emotionalen, sozialen und kognitiven Fähigkeiten.Seine Autonomie wird unterstützt durch motivierende Erfolgserlebnisse beieigenständigem Handeln. Es lernt von Beginn an in Prozessen des Spielens,Gestaltens und Fantasierens.Die Beziehungen zu seinen Bezugspersonen spielen eine entscheidendeRolle, da ein Kind sich sicher und wohl fühlen muss, um seinen Interessennachgehen zu können (wer Angst hat, kann nicht spielen!).Dabei sind die Atmosphäre und die Art der Umgebung ebenfalls wichtigeFaktoren: Vertrautes bietet einen sicheren Rahmen, Neues bietet Anregungen,wobei eine Ausgewogenheit beider Faktoren gegeben sein sollte.Wenn die Möglichkeit besteht, sollten schon die kleinsten Kinder täglicheinige Zeit unter freiem Himmel verbringen, idealerweise in einem Garten,wobei ein sicherer Rahmen gegeben sein sollte, der mit dem Kind wächst.Für diesen sorgen die erwachsenen Bezugspersonen, die Gefahrenquellen(wie z.B. Giftpflanzen) in der Umgebung des Kindes beseitigen oder abschirmen.Je mobiler das Kind wird, desto stärker wird seine Neugier durch vielfältigeSpiel- und Explorationsmöglichkeiten angeregt. Kontakte zu anderenKindern knüpfen zu können, stellt eine Bereicherung der sozialen, emotionalenund kognitiven Erfahrungen dar .Da sich die Wahrnehmungsfähigkeit in den ersten Lebensjahren auf die vorhandeneUmwelt einstellt, ist die ästhetische Bildung in dieser Zeit prägendfür das spätere Leben. Die Natur mit ihrer lebendigen Vielfalt bietet einhervorragendes Umfeld, in welchem Kinder sich ganzheitlich entwickelnkönnen.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 443. Waldkindergarten als ästhetischer ErfahrungsraumDie Möglichkeiten, sich frei in der Natur aufzuhalten, sie mit allen Sinnen zuerfahren und so ganz elementare Erfahrungen zu sammeln, sind in der heutigenLebensumwelt von Kindern (insbesondere von Stadtkindern) stark eingeschränkt.Die wenigsten haben das Glück, in einem Garten oder in nahegelegenen Wiesen oder Wäldern spielen zu können. Hinzu kommt die fehlendeMöglichkeit, eben solche Erlebnisse in der Gemeinschaft mit anderenKindern zu erfahren und auch Herausforderungen zu bestehen.Der Besuch eines Waldkindergartens bietet sehr günstige Voraussetzungenfür eine ganzheitliche kindliche Entwicklung und die Anregung kindlicherLernprozesse:Die Fernsinne, die Körpersinne und der emotionale Sinn werden angeregt,aber nicht überlastet. Die Natur wird als Lebensraum erfahren und die Kinderkönnen sich als Teil von ihr erleben.Die Phantasie wird angeregt, da es in einem Waldkindergarten kein vorgefertigtesSpielzeug gibt. Dadurch wird auch die Kommunikationsfähigkeit gefördert,denn die Kinder müssen viel mehr absprechen, als wenn die Bedeutungeines Spielzeugs durch seine Gestalt vorgegeben ist.Außerdem haben Mädchen und Jungen in einem Waldkindergarten diegleichen räumlichen und materiellen Ausgangspunkte, da es keinegeschlechtsspezifischen besetzten Bereiche gibt und die Kinder neutralezweckmäßige Kleidung tragen.Im Folgenden möchte ich aufzeigen, welche besonderen Möglichkeiten imHinblick auf die ästhetische Bildung der Lebensraum Wald bereithält.Zuerst befasse ich mich mit den besonderen Strukturen und Gegebenheiten,die einen sicheren Rahmen in dem unbegrenzten Raum Wald bieten. ImAnschluss folgt eine Auswahl der dort möglichen ästhetischen Erfahrungenim Verlauf der Jahreszeiten.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 45Auf die naturgegebenen vielfältigen Bewegungsanregungen zur psychomotorischenEntwicklung in Zusammenhang mit vielsinnlicher Wahrnehmunggehe ich danach ein.Wie sich die geschlechtsunspezifischen Bedingungen auf die Entwicklungdes individuellen Potenzials jedes Kindes auswirken wird abschließenderörtert.3.1 Besonderheiten des Waldkindergartens3.1.1 GeschichteSeit 1993 verbreitet sich in Deutschland das Konzept der Natur- und Waldkindergärtennach dänischem Vorbild. Diese Art des Kindergartens hat wederTüren noch Wände – weitestgehend findet alles unter freiem Himmel in derNatur statt.In der nun dreizehnjährigen Geschichte haben sich unterschiedliche Variantenentwickelt und die Zahl der Waldkindergärten ist auf über 350 angewachsen90 , die Tendenz ist weiter steigend.Auf die unterschiedlichen Formen der Natur- und Waldkindergärten sowie dierechtlichen Rahmenbedingungen für die Erteilung der Betriebserlaubnismöchte ich hier nicht näher eingehen, dies alles finden Interessierte z.B. in„Der Waldkindergarten“ von Ingrid Miklitz 91 .Ein Waldkindergarten stellt eine Alternative zu den traditionellen Regeleinrichtungendar. Nachdem die Waldkindergärten in Deutschland etabliert sindund ihre Zahl ständig zunimmt, öffnen sich auch mehr und mehr Regeleinrichtungenfür Walderfahrungen und bieten Waldtage oder Waldwochen an.Auch die Gelegenheit, durch einen Ausflug einmal die andere Art des Kindergartenskennenzulernen, bietet sich für die „Hauskindergärten“ und die Waldkindergärtenan und bereichert den jeweiligen Erfahrungshorizont.3.1.2. Gruppenzusammensetzung, Tagesablauf und AusrüstungPro Gruppe werden in der Regel bis zu 20 Kinder von zwei Erzieherinnenbetreut, teilweise unterstützt durch Anerkennungspraktikantinnen, andere90Laut Aussage von Herrn Friedrich, 2. Vorsitzender des Bundesarbeitskreises der NaturundWaldkindergärten in Deutschland91siehe Literaturverzeichnis


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 46Praktikantinnen oder Aushilfskräfte. Einige Waldkindergärten bieten auchMöglichkeiten zur Integration von Kindern mit Behinderung an.Reine Waldkindergärten sind in der Regel von 8 bis 13 Uhr geöffnet, wobeidie Kinder bis spätestens 9 Uhr ankommen und ab 12 Uhr 30 abgeholtwerden. 92Der Tag ist strukturiert durch die Ankunftszeit, den Morgenkreis, den Weg zuden Waldplätzen, Freies Spiel, Vorbereitung zum zweiten Frühstück undgemeinsames Vespern, eine zweite Freispielphase oder Aktivitäten in Kleingruppen,Rückweg, Schlusskreis und Abholzeit.Die Ausrüstung wird meist in einem Bauwagen oder Ähnlichem gelagert,wo bei schlechtem Wetter auch Schutz gesucht oder auf unterschiedlichsteArt geheizt werden kann.Die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände wie Erste Hilfe Tasche, Wasserkanister,Seife und Handtuch, Spaten und Toilettenpapier, Wechselwäscheu.a. werden täglich in einem Bollerwagen oder Ähnlichem mitgeführt. Je nachTagesvorhaben kommen noch speziellere Materialien hinzu wie eine Werktaschemit Messern, Bohrern, Feilen, Sägen, Schälern, Schnur undSonstigem, eine Hängematte, ein paar Bilderbücher und evtl. Mal- oderBastelutensilien, statische <strong>Seil</strong>e oder Kletterausrüstung u.a..3.1.3 Sicherer Rahmen und strukturierende ElementeDie Kinder erfahren Struktur und Sicherheit durch relativ feste zeitlicheElemente im Tagesablauf wie bereits im vorigen Abschnitt beschrieben.Auch Regeln sind ein sehr wichtiger Bestandteil des sicheren Rahmens. Siewerden individuell mit den Kindern gemeinsam besprochen, aufgestellt undbei Bedarf verändert. Allgemeinere Regeln stehen fest und werden von Jahrzu Jahr weitergegeben, indem die jüngeren Kinder diese von den älterenKindern lernen, wie z.B. die Haltepunkte auf den Wegen zu den Plätzen imWald, wo jedes Kind wartet, bis alle diesen Ort erreicht haben. 9392jeder Waldkindergarten ist individuell, einige bieten bereits verlängerte Öffnungszeiten an.93vgl. Miklitz 2001, S. 74


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 47Rituale wie der Ablauf von Geburtstagsfeiern oder wiederkehrende Feste imJahresverlauf geben Sicherheit und Orientierung. Die Kinder wissen, welcheAbläufe und Ereignisse stattfinden werden und können gestaltend Einflussnehmen und Mitwirken. Die Mitgestaltungsmöglichkeiten sind je nach Jahreszeit,Wetter und Ort im Wald sehr unterschiedlich und vielfältig.Die Bedingungen in einem Waldkindergarten sind geeignet, um Kinder aneine gewisse Eigenleistung zu gewöhnen, wie z.B. den nach ausgiebigemSpiel anstrengenden Rückweg noch aus eigener Kraft zu schaffen oder dieWerkzeugtasche aus dem Bollerwagen zu holen.Strukturierende Aktivitäten sind z.B. Angebote für Kleingruppen oder dermöglichst täglich zur Verfügung gestellte Schnitz- und Werkplatz.Strukturierende Fixpunkte werden von den Erzieherinnen gesetzt, wie derRucksack- oder Garderobenplatz, der Toiletten-, der Händewasch- und derVesperplatz 94 oder auch der Ort, an dem die Hängematte oder eine Schaukelaufgehängt wird.Da der Raum im Wald bzw. in der Natur unbegrenzt ist, sorgen die Erzieherinnenfür einen sicheren Rahmen, indem sie die den Aktionsradius derKinder individuell absprechen. Besonders wichtig ist das gegenseitigeVertrauen sowie von Seiten der Erzieherinnen der „Rundumblick“, um dieKinder wirklich im Blickfeld zu haben. So sind die Kinder durch ein unsichtbares„Band“ mit der Erzieherin verbunden und können dieses aktivieren undKontakt aufnehmen, wenn sie Unterstützung benötigen.Gerade in der Natur mit ihren vielen unkalkulierbaren Faktoren ist es besonderswichtig, dass sich von Anfang an eine vertrauensvolle Beziehungzwischen Kind und Erzieherin bildet. In der Zeit der Eingewöhnung neuerKinder sollten deshalb die Erzieherinnen möglichst viel Freiraum haben, umauf jedes neue Kind angemessen eingehen zu können. Aus diesem Grund ist94vgl. Miklitz 2001, S. 25


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 48hier auch ein guter Kontakt zu den Eltern und deren Anwesenheit in denersten Tagen besonders sinnvoll. 95Besuche der Gruppe durch Praktikanten sollten in dieser Zeit vermiedenwerden. Ein sicherer Rahmen kann für die neuen Kinder geschaffen werden,indem in den ersten Wochen zu dem gleichen Platz gegangen wird. Wenn esnötig ist, kann der Aufenthaltsbereich für die jüngeren Kinder z.B. mit einem<strong>Seil</strong> eingegrenzt werden, um ihnen mehr Sicherheit zu geben. 963.1.4 Anregende Umgebung verschiedener WaldplätzeDer Wald regt die Neugierde und den Forscherdrang der Kinder an. Er lädtein zu Entdeckungsreisen, zum Phantasieren, zum Spielen und zum Gestalten(Werkeln, Bauen, Konstruieren). Er bietet unbegrenzt viel Raum, den dieKinder mit eigenem Sinn füllen können. Er kann durch die Kinder verändertwerden und verändert sich ganz natürlich selbst permanent durch die vielenveränderlichen Faktoren wie Jahreszeiten, Witterung, Licht, Himmel mitWolkenbildern und Flugobjekten, Licht und Schatten, Temperaturschwankungen,Wind, Bäche, Pflanzen und Tiere. Die Reize der Umgebung sind also injedem Moment neu und wechseln in ihrer Vielfalt.Durch den unbegrenzten Raum gibt es mehr als genug Bewegungs- undauch Rückzugsmöglichkeiten. Die Kinder können sich aus dem Weg gehen,wenn sie möchten und so die Eskalation von Aggressionen vermeiden. Siekönnen angestauten Emotionen Luft machen und sie in Bewegung umsetzen,ohne andere zu beeinträchtigen.Ein ruhiges Plätzchen kann bei Bedarf gefunden, der Kontakt zu denanderen aber auch jederzeit wieder hergestellt werden. Nach Absprache mitder Erzieherin steht für die Kinder sehr viel Raum zum Ausschweifen zurVerfügung.95vgl.Laewen, Andres, Hedevari 4 200396vgl. Miklitz 2001, S. 46


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 49Unter einer Vielzahl von unterschiedlichen Plätzen kann je nach Witterung,Jahreszeit und Bedürfnissen derjenige gewählt werden, der für die Tagesverhältnisseam geeignetsten erscheint.Bei Regen eignet sich im Sommer ein Platz mit dichtem Blätterdach, imWinter ein Platz, an dem die Regenplane gut aufspannbar ist oder bei sehrkalten Temperaturen eine weite Wanderung zu einer Schutzhütte.Ist es besonders windig, sollte wegen der Windbruchgefahr der Wald gemiedenwerden oder ein Platz mit jungem <strong>Baum</strong>bestand gewählt werden, da dortwenig morsche Äste zu erwarten sind. Eine windgeschütze Lichtung ist ebenfallsgut geeignet, falls von den umstehenden Bäumen keine Gefahr durchherabfallende Äste droht.Bei sonnigem heissem Wetter eignet sich ein luftiger schattiger Platz oder einWasserplatz, d.h. ein Platz an einem Tümpel oder Bach, der den Kindern dieMöglichkeit bietet, das Element Wasser zu erforschen.Im Gegensatz dazu ist im Winter ein sonniger windgeschützter Platz beitrocken kalter Witterung empfehlenswert. Bei Schnee ist die Wahl des Platzesvon der Schneequalität und den damit verbundenen Spaß-, aber auchGefahrenfaktoren (wie Vereisung u.a.) abhängig.Idealerweise gibt es auch einen Feuerplatz, an dem das Element Feuererlebt werden kann. 97Jeder Platz hat seine eigene spezifische Geländestruktur und charakteristischen<strong>Baum</strong>bestand. Ideal für die motorische Förderung sind Hügel, Gräben,Schluchten, Senken, Abhänge mit herausragenden Wurzeln, <strong>Baum</strong>stämme,Kletterbäume und Gesteinsformationen. Ich gehe in Kapitel 3.3 näher aufdiesen Aspekt ein.Vorteilhaft ist es, wenn die verschiedenen Plätze auch unterschiedlicheMöglichkeiten zum Spielen und Gestalten bieten, wie Lehm- oder Sandbodenmit oder ohne Wasserquellen, phantasieanregende Wurzelformationen,moosbewachsene <strong>Baum</strong>stämme, lose Gesteinsbrocken, Totholz in unterschiedlichstenVarianten.97vgl. Miklitz 2001, S. 82; zum Umgang mit Feuer S. 77-78


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 50In Rollenspielen entwickeln sich interessante dialogische Prozesse undKo-Konstruktionen unter den Kindern, die sich bei zeitnahem Wiederbesuchdes Platzes weiterentwickeln können.3.1.5 Bedeutung der festen GruppenzusammensetzungJeden Tag der Woche als feste Gruppe in der Natur gemeinsam unterwegszu sein, hat eine besondere Bedeutung für die Entwicklung des sozialen Verhaltens.Der Ablauf des Vormittags steht zwar vom Rahmen her fest, dochdie äußeren Bedingungen im Wald verändern sich permanent und sind nievöllig kalkulierbar. Häufig wird ein geplantes Vorhaben abgewandelt oder zugunstenetwas anderem aufgegeben, da ungeplante Ereignisse die Situationverändern, was jeden Vormittag unvorhersehbar und spannend macht.Flexibilität ist gefragt, wenn z.B. ein umgestürzter <strong>Baum</strong> den Weg versperrtund der Bollerwagen nicht weiterfahren kann, ein kleiner Unfall das Vorwärtskommenverzögert oder durch eine Gefahrenquelle wie ein Eichenprozessionsspinnernestder gewählte Platz aufgegeben und weiter gewandert werdenmuss. Hierbei sind es nicht primär die Erzieherinnen, die die Lösung für einProblem vorgeben, sondern die Entdeckungen einer Gefahrenquelle oder dieIdee für eine Lösungsstrategie kommt auch häufig von den Kindern.Kinder und Erzieherinnen sind in einem Waldkindergarten verbunden als einErfahrungs- und Lernkollektiv. 98 Sie sind eingebettet in die Bedingungen desNaturraumes, der oft überrascht, neugierig macht, freundlich und liebkosendsein kann oder rau und unwirtlich. Die Kinder machen die Erfahrung, dassdie Erzieherinnen sich auch nicht überall auskennen. Sie lernen dann gemeinsammit den Kindern, wenn Neues entdeckt wird und z.B. im Naturführernachgeschaut wird, von welchem Tier die gefundene Spur stammen könnte.Gefahren werden gemeinsam erlebt und gefürchtet, respektiert und überwunden.Ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt sich in der Gruppe.Die Kinder sind des öfteren aufeinander angewiesen und entwickeln Hilfs-98vgl. Miklitz 2001, S. 31


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 51bereitschaft. Diese kann zu Beginn jedes Kindergartenjahres durch Patenschaftender älteren Kinder für die neuen Kinder gefördert werden.Mit Improvisationstalent werden viele Situationen bewältigt. Die Gruppe hatnur die mitgeführte Ausrüstung zur Verfügung. Nasse Schuhe können z.B.durch eingelegte Plastiktüten weiter getragen werden, wenn die nassenStrümpfe gegen trockene getauscht wurden.Wenn keine Bücher eingepackt wurden, muss eben eine Geschichte erfundenwerden. Ist die Werkzeugtasche vergessen worden, kann an diesem Tagnicht geschnitzt oder gesägt werden, sondern nur mit den Händen oder„Waldwerkzeug“ gearbeitet werden. So lernen die Kinder, flexibel underfinderisch zu sein und sich auf neue Situationen einzustellen.In der festen Gruppe werden die Qualitäten und Potenziale jedes einzelnensichtbar, aber auch die „Schwächen“. Durch den täglichen Kontakt könnendie Kinder gut voneinander lernen. Sie können dazu ermuntert werden, sichgegenseitig zu helfen, anstatt auf die Hilfe der Erzieherin zu warten, wenndiese gerade ein anderes Kind unterstützt. Das soziale Verhalten und dieKommunikation untereinander werden gefördert. Die Kinder lernen im Laufeder Zeit, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, tolerant und geduldig zu sein,anderen zu helfen und selbst um Hilfe zu bitten, sich selbst zu behaupten,Konflikte auszuhalten und – wo möglich - friedlich zu lösen, Verantwortung zuübernehmen und rücksichtsvoll zu sein, Risiken realistisch einzuschätzenund Angst zu überwinden.Sie erfahren Bereicherung durch den freundschaftlichen Umgang in derGruppe und eine Sicherheit dadurch, dass alle aufeinander Acht geben. 9999vgl. Hess. Sozialministerium 2002, S. 22


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 523.1.6 Besondere Anforderungen an die Erzieherinnen im WaldSagst du es mir, so vergesse ich es.Zeigst du es mir, so merke ich es mir vielleicht.Läßt du mich teilhaben, so behalte ich es.Chinesische WeisheitGrundeinstellung und WerteUm mit Kindern im Wald arbeiten zu können, ist es wichtig, eine positiveGrundeinstellung zu einem Leben in der Natur zu haben und und mit Freudedort in der Gruppe unterwegs zu sein. Aufmerksamkeit, Wahrnehmungsvermögenund Phantasie werden buchstäblich auf Schritt und Tritt in viel stärkeremMaße als in einem üblichen Kindergarten gefordert. 100 In der LebensgemeinschaftWald hat alles seine Bedeutung. Wertschätzung und Respekt vorder Entwicklung und Reifung allen Lebens, auch des Kleinsten undGlitschigsten, gehört dazu, dabei ist Authentizität wichtig. Kinder können mitsicherem Gefühl echte Werthaltungen von unechten unterscheiden und achtendarauf, wie die Erzieherinnen (als ihre Vorbilder) von Pflanzen und Tierensprechen und mit ihnen umgehen, ob sie die Natur als Mitwelt begreifen undwahrhaftig achten. Die vielen „Warum-Fragen“ der Kinder haben Anspruchauf eine ehrliche authentische Antwort. 101Gefahren und ÄngsteHilfreich ist es, sich mit den eigenen Ängsten und Ekelgefühlen auseinanderzusetzen,die in der Natur lebende Tiere auslösen können, um sich diesebewusst zu machen. Im Bewusstsein dieser Gefühle ist es leichter, mitdiesen umzugehen und Angst und Ekel nach und nach abzubauen. 102 So istes möglich, authentisch zu sein und den Kindern einen natürlichen Umgangmit den Mitgeschöpfen und den damit verbunden Gefühlen vorzuleben, aberauch, Ängste und Ekelgefühle der Kinder zu verstehen und anzunehmen.100vgl. Hess. Sozialministerium 2002, S. 45101vgl. Miklitz 2001, S. 39102vgl. Miklitz 2001, S. 38


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 53Gefahren wie Fuchsbandwurm und Zecken, giftige Pflanzen und Tiere, Astbruchund Gewitter sowie der richtige Umgang damit sollten bekannt sein.Auf Näheres dazu möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen und verweiseauf Miklitz. 103Begleiten, Beobachten und Empathie„Wenn ein Kind seinen angeborenen Sinn für Wunder lebendig halten soll...braucht es die Gesellschaft wenigstens eines Erwachsenen,dem es sich mitteilen kann, der mit dem Kind zusammendie Freude, die Aufregung und das Wunderbare der Welt, in der wir leben,wiederentdeckt.“Rachel Carson 104Die Erzieherin und ihr Verhalten gibt den Kindern Orientierung als Resultateines natürlichen Identifikationsprozesses. Ihre Achtung vor dem Unscheinbarenund Kleinen in der Natur erreicht so auch die Kinder: „Die eigeneSinnlichkeit zu reaktivieren und zu sensibilisieren, ist die Voraussetzungdafür, Kinder in ihrer Entwicklung begleiten zu können.“ 105Sie begleitet die Kinder im empathischen Wahrnehmen der Mitwelt durchverbale und nonverbale Äußerungen eigener empathischer Empfindungen,wodurch soziales und empathisches Verhalten zwischen den Kinderngefördert wird.Zum Begleiten zählt weiterhin die Bereitschaft, Zeit und Zuwendung zugeben, wenn ein Kind dies braucht. Der Versuch, Kinder zu verstehen, ihreInteressen und subjektiven Bewältigungsformen wahr- und anzunehmen, istTeil des Begleitens als Kommunikationspartner. Mittels anteilnehmenderBeobachten des kindlichen Ausdrucks kann die Erzieherin evtl. die emotionalenBefindlichkeiten verbalisieren, die das Kind vielleicht selbst noch nichtausdrücken kann.103Miklitz 2001, S. 57-65104Cornell 1987/1991, S. 50105Syassen in Zimmer, Sinneswerkstatt, S. 21


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 54Durch ihr Beobachten sensibilisiert sie auch ihre eigene Wahrnehmung fürdie kindlichen Erfahrungsprozesse. Dies fördert die Wertschätzung deskindlichen Tuns. Interessen, Kompetenzen und eventuelle Schwierigkeitendes Kindes können erkannt werden.Im Beobachten werden kleine Geschichten von Kindern gesammelt. Wenigergeplante Angebote bedeuten ein Zurücktreten aus dem Handeln mit aktivemInteresse am Kind und seinem Spiel. So wird ein genaueres Hinsehen möglich;das Kind und die Situation können ohne ´vorherige Raster´ betrachtetwerden und an dem Kind kann wahrgenommen werden, was es bewegt, wases interessiert und auf was es sich bezieht. 106Dies bietet gute Voraussetzungen, wirklich auf ein Kind eingehen zu könnenund es in seinem Erleben zu unterstützen.Die Erzieherin kann Hilfen anbieten, die die kindliche Erkundungsbereitschaftsteigern und dabei das Kind anregen, selbst auf Lösungen bzw. Erkenntnissezu kommen. Dadurch kann dessen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten undKompetenzen wachsen. 1073.2 Ästhetische Erfahrungen im Lebensraum Natur„Wo können wir noch Geschicklichkeiten entwickeln, die uns ein Gefühlder Verhaltenssicherheit geben?Wann können wir uns einem Landschaftseindruck öffnen?Wieso können wir den richtigen Stein wählen, um ihn überdie Wasseroberfläche hüpfen zu lassen?“ 108Durch die Innenwahrnehmung über den Körper, die emotionale Wahrnehmung(Gefühle und Beziehungen) und vielfältige Sinnesreize entsteht eindifferenziertes Bild der subjektiven Wirklichkeit in jedem Menschen.Verbringt ein Kind seine Kindergartenzeit draussen in der Natur und im Wald,dann erlebt es die Natur fast täglich mit allen Sinnen und ist natürlichen106vgl. Leo, Neue Perspektiven der Bildungsarbeit im Elementarbereich, S. 37107vgl. Miklitz 2001, S. 47-48108zur Lippe in zur Lippe / Kükelhaus 1982, S. 26


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 55Bedingungen ausgesetzt. Der Wald mit seiner Erhabenheit, Größe, Weite,Stille und seiner harmonischen Vielfalt wird zu seinem Lebensraum. 109Kein Tag gleicht dem anderen, da sich allein durch Wetter, Jahreszeiten undTagesverlauf permanent die Umgebungsbedingungen verändern. Je vielfältigeretwas wahrgenommen wird, desto informativer ist das ästhetischeWahrnehmungsbild, da sich die Informationen aus den verschiedenen Wahrnehmungenergänzen. 110Eine Fülle von äußeren Bildern, Geräuschen, Gerüchen, Berührungs- undBewegungsempfindungen, real, authentisch durch unmittelbare Begegnung,verknüpft sich subjektiv in jedem Kind mit Emotionen gefärbt zu seineninneren Bildern. Diese entwickeln sich permanent weiter durch die vielfältigenMöglichkeiten der neuen sinnlichen Erfahrungen, die die Kinder im Waldmachen können. 111Gerade der Wald bietet eine Fülle an Möglichkeiten, selbst tätig zu werden,die eigenen Interessen und Vorlieben herauszufinden und ihnen nachzugehen,aber auch Dinge auszuprobieren, die bisher fremd waren.Im Folgenden möchte ich das Zusammenwirken der vielfältigen Sinneswahrnehmungenund deren Förderung bzw. Anregung durch die Erzieherinnen imVerlauf der unmittelbar in ihren unterschiedlichen Qualitäten erlebbarenJahreszeiten beschreiben:3.2.1 Im SommerDie Klanglandschaft des Naturraumes 112 ist vor allem an warmen Tagen erfülltvon dem Summen der Insekten, dem Gezwitscher der Vögel und demRauschen der Blätter. Das Gehör wird angeregt durch diese Vielfalt, jedochnicht überlastet. Nur manchmal überlagert das Brummen eines Flugzeugsoder Hubschraubers oder je nach Standort das Rattern eines Zuges dieGeräusche des Waldes.109vgl. Video: Waldkindergärten in Deutschland, Teil 1110vgl. Schäfer 1995, S. 240111vgl. Schäfer 1995, S. 240112vgl. Miklitz 2001, S. 53


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 56Alle intensiven Geräuschquellen können gut zur auditiven Lokalisationgenutzt werden, indem die Kinder die Richtung bestimmen, aus welcher dasGeräusch kommt, wie z.B. das laute Brummen einer Hummel, die gerade dieblaue Frühstücksdose interessant findet. Der auditive Sinneseindruck wirdmit dem optischen Eindruck sowie den subjektiven Gefühlen in Bezug auf dieHummel verknüpft. Wenn die erwachsene Bezugsperson Ruhe ausstrahlt,kann ein Kind lernen, dass das Brummen dieses relativ großen Insekteskeine Gefahr bedeutet, da es bloß an intensiven Farben interessiert ist unddas Kind in Ruhe lässt.Feiner wird der Gehörsinn im Bereich der auditiven Diskrimination durch dasLauschen auf verschiedene Vogelstimmen oder die unterschiedlichen Summtöneder verschiedenen Insekten geschult, da dabei Unterschiede und Ähnlichkeitenfestgestellt werden können 113 Das verschiedenartigste Rauschender Blätter in den <strong>Baum</strong>kronen bildet einen sehr feinen Klanghintergrund.Bei Stilleübungen in Kleingruppen oder im Morgen- oder Schlusskreiskönnen die Kinder angeleitet werden, einmal die Augen zu schliessen undnur den Geräuschen um sie herum zu lauschen. So können sie direkterleben, dass sie intensiver hören können, wenn sie nicht durch visuelle Reizeabgelenkt werden.An sonnigen Tagen zaubert der Wind im sommerlichen Laubwald Licht- undSchattenspiele auf den Boden, die Pflanzen und die Menschen, wodurchsowohl das Helligkeitssehen und die Helligkeitsunterscheidung gefördert wirdals auch die Figur-Grund-Wahrnehmung. 114Im Nadelwald können im Sommer an warmen Tagen intensive Gerüchewahrgenommen werden, wie der würzige Duft von warmem Harz und vonTannen-, Fichten- oder Kiefernnadeln. Der mit Nadeln bedeckte Boden istdabei weich und federnd. Rote Waldameisen können beobachtet werden,wie sie Materialien transportieren, die viel größer und schwerer sind als sieselbst. Vorsichtig kann eventuell einer Ameisenkolonne gefolgt werden bis zuihrem hügelförmigen Bau. Die Beobachtungen der Kinder und von der Erzie-113vgl. Kapitel 1.4.2114vgl. Kapitel 1.4.1


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 57herin aufgegriffenen oder angeregte Fragen können der Beginn eines Projektessein. Es geht zuerst nicht darum, den Kindern Wissen über die Ameise zuvermitteln, sondern sie zum genauen beobachten und zum Fragen stellenanzuregen und in ihrem Lernprozess zu unterstützen.Die Kraft und auch die Gefahr der Sonne wird spürbar, wenn der Schattenweiterwandert und plötzlich die Sonnenstrahlen direkt und ungefiltertauftreffen.Wasser hat in Verbindung mit Erde oder Sand eine elementare Bedeutungfür die Kinder.Mit feuchter Erde oder feuchtem Lehm lässt sich kneten und formen. Außerdemkann <strong>Baum</strong>aterial mit feuchtem Lehm oder Matsch als „Mörtel“ aneinandergeklebt werden. Als handschuhfreie Zeit bietet der Sommer günstigeVoraussetzungen, um die Hände als Werkzeug zu benutzen, für alle Artenvon Gestaltungsarbeiten und Bautätigkeiten.Ist genügend Wasser vorhanden, wird besonders gern eine Suppe „gekocht“oder ein Pudding gerührt. Ist kein Wasser verfügbar, können die Kinder mittrockener sandiger Erde spielen und gestalten.Durch Beobachten können die Erzieherinnen herausfinden, was die Kindergerne tun und ihnen weiterführende Angebote machen, z.B. Lehm zur Verfügungstellen und zeigen, auf welche Arten dieser bearbeitet werden kann.Wasser ist ein knappes Element, wenn der Waldkindergarten nicht gerade aneinem Bach gelegen ist, denn es gibt kein fliessendes Wasser aus demWasserhahn. Das vorhandene Wasser ist beschränkt auf das Wasser in derRegentonne, das zum Spielen verwendet wird oder zum Gießen (Regen wirdals Wasserlieferant erfahren und geschätzt), und das von zu Hause mitgebrachteWasser in den Trinkflaschen der Kinder und dem Wasserkanister fürdie Gruppe. So wird das Wasser als eine Ressource erfahren, die kostbar ist,geteilt werden sollte und wovon immer eine Notreserve aufgespart werdensollte; seine verschiedenen Funktionen werden den Kindern deutlich.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 58Dies gilt vor allem bei großer Hitze, denn es kann auch in Verbindung miteinem Tuch zum Kühlen genutzt werden.Je nach Standort können Heidelbeeren, Walderdbeeren oder Holunderbeerengesammelt werden. Wegen der Gefahr durch den Fuchsbandwurmdürfen diese jedoch nicht roh gekostet werden, da ein einfaches Abwaschenkeinen Schutz darstellt. Wenn es nicht zu trocken ist und keine Feuergefahrbesteht, kann jedoch aus den Beeren eine Marmelade oder ein Saft gekochtund probiert werden, so dass der Geschmackssinn neue Reize erfahrenkann. Der Tast- und der Bewegungssinn wird beim Sammeln der Früchteangeregt, ebenso beim Sammeln von Brennholz.3.2.2 Im HerbstIn dieser Zeit gibt es morgens oft besonders viel auf dem Waldboden zu entdecken,da die verschiedenartigsten Früchte über Nacht von den Bäumenund Sträuchern zu Boden fallen: Esskastanien in ihren viel-stacheligen,intensiv hellgrünen und igelartigen Hüllen, Rosskastanien in braunen Hüllenmit weniger Stacheln, Eicheln in einem holzigen Fruchtbecher, Haselnüsse,Bucheckern in filzigen sechszipfeligen Fruchthüllen und Walnüsse.Das Sammeln der Kastanien, die teilweise noch halbverborgen in ihrenstacheligen Hüllen stecken, stellt die Kinder vor eine große Herausforderunghinsichtlich der visumotorischen Koordination 115 : Sie müssen die Kastanienauf dem Waldboden erkennen, sich bücken, vorsichtig danach greifen undsie aufheben und transportieren. Besonders die Hand-Auge-Koordination inVerbindung mit Achtsamkeit ist wichtig, da sonst die spitzen Stacheln schnelldie Haut verletzen. Ist die Hülle entfernt, tasten die Kinderhände die samtigglatte,kühle und leicht feuchte Oberfläche der rundlichen Kastanien.Um die Früchte und Schalen intensiver kennen zu lernen, können dieErzieherinnen verschiedene Bastelideen anbieten.Die Hasel- und Walnüsse dürfen mit dem Nussknacker von den Kindern odermit dem Messer von den Erzieherinnen geöffnet und probiert werden, eben-115vgl. Kapitel 1.3.1


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 59so die Esskastanien. Die geschmackliche Veränderung wird erfahren, wenndie Maronen am Lagerfeuer oder in einem Ofen gebacken und erst anschließendgeschält und verzehrt werden. Der Duft der backenden Maronen gehtdem Geschmackserlebnis voraus.Die Früchte des Waldes schmecken jedoch nicht nur den Menschen, sondernvor allem auch den Wildschweinen, von denen es in Deutschland derzeitsehr viele gibt. Waren die Wildschweine nachts unterwegs, gibt es für dieKinder morgens nicht mehr viel zu sammeln, dafür aber umso mehr WühlundKlauenspuren zu entdecken. Feine Nasen können die Wildschweine untergünstigen Umständen auch riechen.Je nach Standort und Art des Waldkindergartens bietet der Herbst die unterschiedlichstenErlebnisse des Erntens von Äpfeln, Mirabellen und Zwetschgenbis zu Kartoffeln, Kürbis, Zucchini, Mohhrüben und Rote Beete, welchedann auf verschiedenste Art verarbeitet und gekostet werden können. Dabeikönnen die Kinder das Obst pflücken oder das Gemüse aus dem Beetziehen, es waschen und bei Bedarf schälen und dann kleinschneiden. Siekönnen Zutaten mischen, Teig rühren oder kneten und abschmecken. Hierbeisind visuelle, emotionale (Neugier, Aufregung, Vorfreude), olfaktorische, taktileund gustatorische Sinneseindrücke sowie Bewegungs-, Kraft- undStellungssinn in den feinmotorischen Handlungen beim Ernten und Verarbeitenmiteinander verknüpft. Kinder, die solche Tätigkeiten schon kennen, sindzumeist zuerst daran interessiert, wodurch die anderen Kinder zuschauenkönnen und dann evtl. selbst Lust dazu bekommen, die eine oder andereTätigkeit auszuprobieren.Im Mischwald mit den verschiedensten Laubbäumen ist eine sich täglichverändernde Farbenpracht zu beobachten. Die Blätter verfärben sich langsamvon differenziertem Grün in die unterschiedlichsten Gelb-, Orange-, RotundBrauntönen. Auch die Nadeln der Lärche verfärben sich gelb-bräunlich.Differenzierte Farbwahrnehmungen finden statt und können vor allem vonden älteren Kindern auch benannt werden.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 60Die zu Boden schwebenden Blätter werden von den Kindern bestaunt undals Schätze gesammelt, ihre Farben, Formen und Strukturen verglichen. MitAhornblättern lassen sich schöne Blätterkronen herstellen, was ebenfalls zurSchulung der Feinmotorik dient.Die bunte Vielfalt im Herbstwald lädt dazu ein, farbenfrohe Kunstwerke zugestalten. Durch kleine Anregungen von Seiten der Erzieherinnen gestaltendie Kinder allein oder gemeinsam Bilder auf dem Waldboden oder auf verschiedenenEbenen, wozu alle Arten von Waldmaterial gesammelt und eingesetztwerden: Beeren und andere Früchte; Hüllen von Eicheln, Bucheckernund Kastanien; bunte Blätter und Lärchenzweige, Moos (in Maßen); toteStöckchen und Äste, uvm. , dabei machen die Kinder die unterschiedlichstenTastempfindungen (rau, glatt, stachelig, eben, uneben, filigran, zart, hart,weich, glitschig) kombiniert mit visumotorischer Koordination und Form-,Muster- und Farbwahrnehmungen sowie verschiedenen Düften von modrigbis fruchtig.Das Blätterdach wird im Laubwald langsam lichter. Täglich verändert sichdas Bild der Umgebung. Durch starken Wind oder einen Sturm kann esgeschehen, dass plötzlich über Nacht fast alle Blätter zu Boden gefallen sindund die <strong>Baum</strong>kronen fast kahl ihre je nach <strong>Baum</strong>art charakteristische Gestaltzeigen. Es wird ruhiger im Wald, da die Tiere sich zurückziehen oder wegziehen.Die Erzieherinnen können die Aufmerksamkeit der Kinder auf daseine oder andere lenken, indem sie eine Entdeckung eines Kindes aufgreifenund den anderen zeigen oder indem sie zu Vergleichen anregen, z.B. derunterschiedlichen Silhouetten der Bäume oder der Formen und Farben derBlätter.Die Resultate des ersten Nachtfrostes wie der Raureif auf Grashalmen unddie Eiskristalle am Rand von Wasserlachen werden entdeckt, betastet underforscht. Über Nacht zu Eis gefrorenes Wasser fasziniert aus meiner Erfahrungdie Kinder immer wieder. So wird aus erster Hand gelernt, wie dieTemperatursenkung unter den Gefrierpunkt den Aggregatzustand des


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 61Wassers von flüssig zu fest verändert. Bei sonnigem kaltem Wetter erlebendie Kinder, wie das Eis in einer Pfütze oder eine Eisscholle, die als Schatzaufbewahrt werden soll, immer weniger wird, da es durch die Sonnenstrahlentaut und verdunstet. Die Enttäuschung, dass der Eisschatz nicht ewig hält, istzunächst oft groß.Bei Frost können z.B. Eisbilder aus Wasser und Waldgegenständen, die indas Wasser gelegt werden, mit den Kindern hergestellt und aufgehängtwerden.Das Laternenfest im Wald hat eine besondere Atmosphäre, da es im Waldnach Einbruch der Dunkelheit völlig dunkel ist (im Gegensatz zu beleuchtetenStraßen in Stadt oder Dorf). Die Laternen leuchten aus diesem Grundintensiver und werden auch als Leuchtquellen benötigt, da sonst der Wegnicht zu erkennen ist. Das gemeinsame Singen der bekannten Lieder in demvertrauten und doch in der Dunkelheit völlig anders erscheinenden Wald istein intensives Gruppenerlebnis der Kinder, ihrer Eltern und der Erzieherinnen.Der Wald kann unheimlich, düster und fremd wirken, aber durch dievertrauensvolle Beziehung zu den Bezugspersonen und den anderenKindern können aufkommende Ängste anerkannt und überwunden werden.Die Beziehung zum Wald entwickelt sich dadurch weiter. Er zeigt ein neuesGesicht und kann den Kindern nun auch in Dunkelheit ein Stück vertrauterwerden. Das Fest klingt in vielen Waldkindergärten traditionell mit einemBeisammensein am Feuer aus, welches in der Dunkelheit ebenfalls völliganders wirkt als bei Tageslicht. Das Teilen von Gebäck und warmen Getränkenin Verbindung mit der Atmosphäre am flackernden Feuer bietet vielfältigeAnregungen für den Geruchs-, den Geschmacks- und den emotionalen Sinn.Im freien Rollenspiel werden in den darauf folgenden Tagen vielleichtElemente des Festes nachgespielt und phantasievoll weiterentwickelt.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 623.2.3 Im WinterVor allem der Winter hat viele Gesichter und hält einige Grenzerfahrungenbereit, schwierige und auch schmerzhafte. Im Vergleich zu den anderenJahreszeiten ist der Winter still, starr und kahl, je nach Standort in Deutschlandauch eher nasskalt und düster als sonnig und verschneit. Doch diedunkle Jahreszeit hält trotzdem viele Erlebnisse bereit.Für die Kinder, die ihren ersten Winter im Waldkindergarten erleben, ist derWinter eine herausfordernde Zeit, da sie zuerst lernen müssen, wie sie ambesten mit Kälte und Nässe zurecht kommen können. Die Körperempfindungensind intensiv und können den Kindern das Leben schwer machen, wennsie noch nicht wissen, wie sie am besten damit umgehen können.In einem Waldkindergarten kann das Kind nicht einfach wieder in ein Hausgehen, wenn ihm kalt ist. Es kann aber lernen, zu sagen, dass ihm kalt istund erleben, dass ein zusätzlicher Pullover hilfreich ist. Die Aufmerksamkeitder Erzieherinnen ist in diesem Punkt besonders wichtig, da manche Kindernicht spüren, aus welchem Grund sie sich unbehaglich fühlen. Durch vorsichtigesNachfragen kann diesen Kindern dann geholfen werden. Die angenehmeErfahrung der Hilfe durch ein zusätzliches Kleidungsstück oder ein paartrockene Handschuhe bewirkt, dass das Kind mit der Zeit lernt, seineBedürfnisse eher zu spüren und mitzuteilen.In Bezug auf Kälte, Nässe und Kleidung werden so viele wichtige körperlicheund soziale Erfahrungen gemacht. Wenn man seine Bedürfnisse mitteilt,bekommt man Unterstützung, die unangenehmen Empfindungen verändernsich dadurch und man kann sich in seinem Körper wieder wohler fühlen.Durch Bewegungsspiele lernen die Kinder, dass sie sich bewegen müssen,um nicht zu frieren. Auf Bewegung gehe ich ausführlicher in Kapitel 3.3 ein.Eine andere faszinierende Variante des Aufwärmens bietet ein Feuer. Nochbevor es entzündet wird, wärmt es die Kinder, denn Holz muss gesammeltund herbeigeschleppt sowie gesägt oder gehackt werden (nur mit Hilfestellungder Erzieherinnen!). Die Kunst des Feuermachens wird so erlebt und


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 63erlernt. Die Regeln und ihr Sinn werden erfahren. Der Rauch des Feuersriecht unterschiedlich, je nach Witterung und verwendetem Holz, wenn nichtein Schnupfen das Riecherlebnis einschränkt.Sägen ist generell im Winter beliebt, da dazu die Handschuhe angezogenbleiben können.Vor allem im frischen Schnee lohnt es sich, auf Spurensuche zu gehen. DieSpuren vieler Tiere, die im Winter aktiv sind, können entdeckt und betrachtetwerden. Dies ist eine besondere Erfahrung, da diese Spuren sonst weitgehendunsichtbar bleiben, wie z.B. die Fußspuren der verschiedenen Vögel.Selbst Spuren zu hinterlassen ist eine interessante Erfahrung, die auch gutals Bewegungsspiel angeleitet werden kann, z.B. indem ein Kind eine Spurläuft und die anderen ihm folgen.Rodeln und Rutschen sind für viele Kinder beliebte Aktivitäten bei Schnee.Die Zeitspanne des Interesses daran ist jedoch sehr unterschiedlich. Kindermit einem hohen Bewegungsdrang rodeln und rutschen gerne den ganzenVormittag, andere Kinder rodeln einmal und bauen dann lieber Schneegebildeoder machen eine Schneeballschlacht.3.2.4 Im FrühlingWenn der Winter lange nicht gehen wollte, ist der erste warme Tag desFrühlings ein Geschenk. Da nun keine Handschuhe mehr getragen werdenmüssen, ist Werkeln mit Schnitzen, Bohren und anderen feinmotorischenTätigkeiten wie Fädeln und Knoten knüpfen wieder möglich.Die Entwicklung von der Knospe zur Blüte bzw. zum Blatt kann verfolgtwerden. Die ersten Bienen fliegen wieder.Die Vögel kommen zurück bzw. werden aktiv, bauen Nester, suchen Futterund sind dabei zu dieser Zeit noch gut zu beobachten, da die Blätter derLaubbäume noch fehlen.In einer Wiese können interessante Erfahrungen gemacht werden. DerLöwenzahn, im Garten oft noch als Unkraut verpönt, ist eine Heilpflanze, von


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 64der alle Teile verwendet werden können. In einer Wiese finden sich alle Stadiender Blüte, von der noch geschlossenen Knospe über die gelbe Blüte biszur beliebten „Pusteblume“. Dies kann dazu genutzt werden, ein Löwenzahnprojektanzubieten, indem z.B. die unterschiedlichen Blütenstadien gepflücktund und diese auf einem Tuch angeordnet werden, wodurch der Kreislaufdes Entstehens und Vergehens der Löwenzahnblüte direkt erlebt wird. DieVeränderungen schreiten fort, wenn die Blüten auf dem Tuch ausgebreitetliegen. An einem sonnigen Tag sind diese in kurzer Zeit mit allen Sinnen zuerleben, wenn die Aufmerksamkeit der Kinder darauf gelenkt wird. Weiterführendbieten sich viele Möglichkeiten an, je nach Interesse der Kinder undWissen der Erzieherin: Mit den Stängeln der Blüten lassen sich Miniatur-Wasserleitungen zusammenstecken, aus den Blüten kann ein Kompottgekocht werden, oder aus den jungen Blättern ein Salat zubereitet werden,wenn genügend Wasser zum mehrmaligen Waschen mit der Überlaufmethodevorhanden ist (hierbei werden evtl. vorhandene Eier des Fuchsbandwurmsabgespült, da sie mit dem überlaufenden Wasser weg geschwemmtwerden).3.3. Psychomotorische Herausforderungen„Das Gefühl der Fremdheit gegenüber Bereichen des eigenen Körpersist wesentliche Grundlage von psychosomatischen Erkrankungenwie von Selbstgefühlsschwundmit allen Folgen der Aggressivität gegensich selbst und andere.“ 116Wie schon in Kapitel 2 beschrieben stärkt regelmäßige und herausforderndeBewegung ein positives Körperbewusstsein und leistet einen entscheidendenBeitrag zu jeglichem körperlichen und seelischen Wohlbefinden. 117Bewegung ist der Motor der kindlichen Entwicklung, ein elementarer Teil derästhetischen Bildung und ein Seismograph für die emotionale Befindlichkeit.116zur Lippe 1982, S. 28117Vgl. Entwurf des Hessischen Bildungsplanes, S. 53


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 65In einem Waldkindergarten ist Bewegungsfreiheit gegeben und Bewegungein Muss. Jedes Kind kann seinen natürlichen Bewegungsdrang auslebenund sich seinen Fähigkeiten entsprechende Herausforderungen suchen. DerPhantasie der Kinder sind auch in dieser Hinsicht keine Grenzen gesetzt. Sieentdecken spielerisch die unterschiedlichsten Möglichkeiten, zu balancieren,zu klettern, zu schaukeln, zu wippen, zu springen, zu rollen und zu toben.Besonders reizvoll ist die Überwindung aller Arten von Höhenunterschieden.Auf die vielfältigen Bewegungsmöglichkeiten im Wald und im natürlichenGelände und deren Auswirkungen auf die senso- und psychomotorischeEntwicklung gehe ich im folgenden näher ein:3.3.1 Geländestruktur und BalanceIm Waldkindergarten Flensburg konnten die Kinder zu Anfang nur ca. 500 mweit laufen. Sie hatten Schwierigkeiten, abseits der Wege zu gehen. 118 Diesdeckt sich mit den Beobachtungen, die ich bei den neuen dreijährigenKindern machen konnte. In den ersten Wochen fallen viele dieser Kindersogar auf relativ ebenem Boden ohne Hindernisse sehr oft hin. Sie stehenwieder auf, laufen ein paar Meter, um erneut hinzufallen. Im Verlauf einerindividuellen Zeitspanne verbessert sich ihre sensorische und motorischeKoordination. Sie lernen, genau zu schauen, wie der Boden beschaffen istund ihre Fuß- und Beinbewegungen darauf abzustimmen. Sie werdengeschickter darin, ihr dynamisches Gleichgewicht auszubalancieren.Wenn ein Kind sich durch häufiges Hinfallen nicht entmutigen lässt, ist es ambesten, das Hinfallen zu ignorieren, da das Kind mit der Situation zurechtkommt. Ein anderes Kind ist vielleicht eingeschüchtert durch den vielenungewollten Bodenkontakt und braucht Ermunterung durch ein verständnisvollesanerkennendes Verbalisieren seiner Mühe.An der Hand der Erzieherin sollte ein Kind nur gehen, wenn es diese selbstgesucht hat oder wenn es der Erzieherin als angemessene Unterstützungerscheint, weil das Kind entmutigt ist durch häufiges Hinfallen. Kinder, diehäufig an der Hand gehen wollen, sollten so geschickt ermutigt werden, auch118Vgl. Video: Waldkindergärten in Deutschland, Teil 1


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 66einmal allein zu laufen, dass sie dies nicht als Ablehnung empfinden müssen.Die Bewegungssicherheit der Kinder nimmt jedoch nach der Eingewöhnungszeitrasch zu. 119Die Waldwege haben unterschiedlichste harte Beläge und sind häufig vonSchlaglöchern durchsetzt, oder sie sind weich und mit Moos und Grasbewachsen oder mit Nadeln bedeckt. Die unebene Geländestruktur abseitsder Wege mit Böschungen, Gräben, Hügeln, Senken, Wurzeln, Steinen,Ästen und Laub bietet ideale Voraussetzungen, um den Gleichgewichtssinnzu trainieren. Die Kinder lernen, mit ihrem gesamten Körper Unsicherheitenauszubalancieren, beispielsweise, indem sie die Arme einsetzen. Sobald dieKinder auf der Ebene des Erdbodens sicherer geworden sind, beginnen sie,neue Herausforderungen für ihre Balance zu suchen: Steilere Hänge mitherausragenden Wurzeln zum Erklimmen und Rutschen, <strong>Baum</strong>stämme mitWurzelstöcken zum Balancieren, Klettern, Hinabgleiten und -springen.Hierbei kommen dann auch die Hände und Arme verstärkt zum aktivenEinsatz (Greifen, Festhalten, Hochziehen), was die Koordinationsfähigkeitund die Konzentration fördert.3.3.2 Autonomie und Beziehung am Beispiel KletterbaumDurch die Vielfalt der Möglichkeiten zum Klettern kann jedes Kind in seinemindividuellen Tempo neue Bewegungen ausprobieren. Viele jüngere Kinderschauen zuerst einmal den anderen zu, wodurch sie sich motorischeLösungsstrategien abschauen können. Wenn sie genügend neugierig sindund Mut gesammelt haben, beginnen sie ganz individuell, ihre Fähigkeiten zutesten. Manche brauchen die Anwesenheit einer Erzieherin in ihrer Nähe, umsich auf den ersten Ast des Kletterbaumes zu wagen. Aufsicht beim Kletternsollte gewährleistet sein, jedoch nicht ablenkend auf die Kinder wirken.Die Hände und Füße tasten nach sicherem Halt und Stand auf unterschiedlichbeschaffener Rinde. Dabei gibt das kinästhetische System über denStellungs-, Bewegungs-, Kraft- und Spannungssinn die verschiedenen Infor-119Vgl. Miklitz 2001, S. 65


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 67mationen an das vestibuläre System und wirkt beim Klettern insbesonderemit dem räumlichen Sehen zusammen, d.h. die visumotorische Koordinationist sehr stark beansprucht. Gleichzeitig tasten die Hände die unterschiedlicheBeschaffenheit der evtl. mit Moos bewachsenen oder rauen Rinde, der Windbewegt die Blätter des <strong>Baum</strong>es und streicht über die Haut, Harz, Moos oderRinde duften immer wieder anders.Wichtige Regeln beim Klettern sind freie Hände, feste Schuhe, Aufmerksamkeitund (falls mehrere Kinder auf dem <strong>Baum</strong> klettern) Rücksichtnahme aufandere Kinder. Anders als auf einem Klettergerüst kann auf einem <strong>Baum</strong>sehr individuell geklettert werden. Hierbei kann das Kind eigenständigesHandeln üben. Da die Abstände der Äste und deren Stärke und Form sehrunterschiedlich sind, ist es notwendig, dass jedem Handeln ein Vordenkenvorausgeht. Vor jeder Bewegung ist es erforderlich, die Entfernung und denHöhenunterschied zum nächsten Ast abzuschätzen, sowie die eigenenFähigkeiten einzuschätzen. In der Bewegung offenbart sich dann, ob dieSituation richtig eingeschätzt wurde. Ist das Kind achtsam und vorsichtig,kann es jederzeit wieder in die vorherige Position zurückkehren, wenn esbemerkt, dass seine Einschätzung falsch war oder wenn es sich den geplantenSchritt doch nicht zutraut. Hat es den geplanten Kletterabschnitt eigenständiggeschafft, wird es durch ein Erfolgserlebnis belohnt.Wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Klettersicherheit eines Kindes istseine Fähigkeit, den erkletterten <strong>Baum</strong> wieder sicher und ohne Hilfestellunghinabzuklettern. Klettern ermöglicht verantwortbare Grenzerfahrungen. 120Die Autonomie ist beim Klettern hoch, da niemand direkt neben dem Kindstehen kann. Beziehung kann jedoch jederzeit mithilfe des unsichtbarenBandes zur Erzieherin hergestellt werden. Wenn ein Kind auf dem Kletterbaumin Schwierigkeiten kommt, hat es die Möglichkeit, sich direkt oder überandere Kinder Hilfe herbeizurufen. In Absprache mit der Erzieherin kann esdann den nächsten Schritt klettern oder den sicheren Weg nach untenfinden.120Vgl. Miklitz 2001, S. 77


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 68Das Selbstvertrauen und das Selbstbewusstsein werden gestärkt durch positiveErfahrungen. Diese können einerseits ganz eigenständig stattfinden,andererseits mithilfe einfühlsamer und ermutigender Unterstützung. Diesegeschieht am besten durch ein Beobachten und Verbalisieren der Gefühledes Kindes durch die Erzieherin, damit das Kind sein Gefühl wahrnehmenund annehmen kann. Einem Kind zu sagen, dass es die Herausforderungschafft, wenn es gerade verängstigt ist und sich nicht traut, sich zu bewegen,ist nicht hilfreich. Unterstützung erfährt das Kind dadurch, dass sein Gefühlernst genommen wird. Nur dann kann es sich verändern. Dazu brauchenKinder unterschiedlich viel Zeit, die ihnen gewährt werden muss.3.4 Gleiche Ausgangspunkte für Mädchen und JungenIn einem Waldkindergarten gibt es in der Regel weder geschlechtsspezifischesSpielzeug noch geschlechtsspezifische Räume wie z.B. eine eher vonMädchen besetzte Puppen- und eine eher von Jungen frequentierteBauecke. Die neutrale Umgebung wirkt dem entgegen, dass bestimmteBereiche von Beginn an geschlechtsspezifisch besetzt sind.Durch die differenzierten Anregungen im Wald kann jedes Kind das finden,woran es gerade interessiert ist, seinen Interessen ungehindert nachgehenund hat die Möglichkeit, die unterschiedlichsten Tätigkeiten auszuprobieren.Die Fantasie der Kinder wird angeregt, da kein vorgefertigtes Spielzeug inden Wald mitgenommen wird. Ein Holzobjekt kann je nach Spielsituation einAuto oder eine Puppe sein. So kann der Inhalt des Spiels sich fließendverändern und sich neuen Situationen, z.B. durch neue Mitspieler flexibelanpassen.Das Angebot beim Werken wird von den meisten Kindern gern angenommen.Jedes Kind sucht sich sein Material in der Umgebung selbst und kannSchnitzen und Sägen, Bohren und Feilen, Fädeln und Knüpfen, Nähen undWeben (z.B. mit Stopfnadel und Wolle), Wickeln und Binden. Es ist sehrindividuell, womit sich einzelne Kinder gerne beschäftigen. Die Erzieherinnenkönnen durch ihr Tun Anregungen geben.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 69Beim freien Gestalten arbeiten und spielen die Kinder häufig in wechselnderGruppenzusammensetzung und erschaffen eine Burg, ein Tiergehege oderein Haus mit den unterschiedlichsten Naturmaterialien. Dies geht oft über inein Rollenspiel oder entsteht aus einem solchen. In freiem oder gelenktenRollenspiel wird gemeinsam gekocht, gebaut, `Feuer´ gemacht – ebengeschlechtergemischt gespielt. Dabei kann jedes Kind sich für die Aufgabeanbieten, die ihm Spaß macht. Zusätzlich kann jedes Kind kann seinen individuellenBewegungsdrang ausleben.Trotz der offenen und neutralen Umgebung sind nach Miklitz Jungen eherzuständig für schwere Arbeiten wie Stöcke schleppen und sägen, Mädchenhaben nach ihrer Beobachtung eher die Rolle der Köchin oder Mutter. 121Die Rollenvorbilder aus der Familie werden als innere Bilder von den Kindernmitgebracht. Die neutrale Umgebung und die breitgefächerten Angebote vonKochen bis Werken bieten deshalb eine gute Gelegenheit, auch jeweils neueTätigkeiten auszuprobieren und evtl. Spaß daran zu finden. So könnenschlummernde Neigungen entdeckt werden und sich eher Interessengruppenfinden.3.5 FazitIn der Kindergartenzeit wird das Kind sensomotorisch betrachtet ein reifesWesen. In dieser Zeit ist das Gehirn gegenüber Wahrnehmungseinwirkungenam aufnahmefähigsten und hat die besten Voraussetzungen, diese zugliedern. Gerade in dieser Zeit ist deshalb der Wald eine hervorragendeUmgebung für ästhetische Bildung. Er bietet komplexe Primärerfahrungen,d.h. Erfahrungen aus erster Hand, vielfältigsten Raum zum Entdecken undErforschen, Gestalten und Bauen, Bewegen und Toben. Für forschendesLernen und Projektarbeit, sich über weiten Raum erstreckende Rollenspieleim Freispie, Stilleerfahrungen und Rückzug ergeben sich in dem natürlichenLebensraum Wald unbegrenzte Möglichkeiten.121vgl. Miklitz 2001, S. 111


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 70Wahrnehmung mit allen Sinnen, innere und äußere Beweglichkeit, Fantasie,Flexibilität und Spontaneität, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen undauszudrücken, Anpassung an sich verändernde Umgebungsbedingungen, ineiner unangenehmen Situation auch einmal durchhalten zu können, Lernenin Sinnzusammenhängen, forschendes Lernen, sich auf andere Menscheneinstellen können und Kooperation mit anderen sind Schlüsselqualifikationen,die Kinder im Jetzt und in der in der Zukunft brauchen. Für den Erwerbdieser Schlüsselqualifikationen bietet der Aufenthalt in einem Waldkindergartengünstige Voraussetzungen.Als feste Gruppe in einem Lernkollektiv täglich unter sich permanent veränderndenUmweltbedingungen unterwegs zu sein, stellt eine Art von Abenteuerdar. Im Wald ist die Gruppe relativ ungestört für jeweils einen ganzenVormittag unterwegs. Jeder Tag ist anders und unvorhersehbar, woraus sichso manche Herausforderung ergibt. Dadurch lernen sich Kinder und Erzieherinnenintensiv und immer wieder neu kennen. Die Qualitäten jedes einzelnenund seine Einzigartigkeit werden in ganz unterschiedlichen Situationensichtbar. Unterschiedlichste Fähigkeiten können so erkannt und wertgeschätztwerden sowie der gegenseitigen Unterstützung dienen. Jeder, derschon einmal sehr müde einen langen Rückweg selbst laufen musste, istfroh, wenn jemand, der noch viel Kraft hat evtl. seinen Rucksack trägt oderihn an der Hand nimmt.Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen treten in einem Waldkindergarteneher in den Hintergrund, da das individuelle Potential dort eher entfaltetwerden kann. Aus eigener Kraft etwas zu schaffen stärkt das Vertrauen in dieeigenen Fähigkeiten (Gemüse schneiden, einen Ast durchsägen, einen<strong>Baum</strong> erklettern). Jedes Kind erfährt sich als ein Individuum, wodurch eineleichtere Annäherung von Mädchen und Jungen stattfinden kann. Es könnensich eher geschlechtsgemischte Interessen- und Spielgruppen bilden alsreine Mädchen- oder Jungengruppen, wobei dies auch vorkommt.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 71AbschlussgedankenDie Auseinandersetzung mit ästhetischer Bildung hat mit differenzierte undvielschichtige Einblicke eröffnet und meine eigene Wahrnehmung sensibilisiert.Im ersten Teil der Arbeit wurde mir deutlich, dass schon von den erstenLebenstagen an alle Sinneseindrücke eine nachhaltige Wirkung haben, dadie Reizleitungsbahnen im kindlichen Gehirn in den ersten Monaten gebildetwerden und auf diese ein Leben lang zurück gegriffen wird. Dies zeigt, wiefrüh schon vielfältige differenzierte Eindrücke notwendig sind, um möglichstgute Entwicklungsvoraussetzungen zu schaffen.Im zweiten Teil habe ich mich intensiv mit der selbständigen Bewegungsentwicklungbeschäftigt, um zu zeigen, welche Bedingungen gegeben seinsollten, damit ein Kind von Beginn an ein möglichst eigenverantwortlichesWesen sein kann. Autonomie und Beziehung, Atmosphäre und Raum, sowieein Rahmen, der mit dem Kind wächst, spielen eine wichtige Rolle.Zusätzlich von hoher Bedeutung ist die Selbsttätigkeit des Kindes und dieaus vielen kleinen eigenaktiven Erfolgserlebnissen resultierende Motivationzu neuen Herausforderungen.Optimale Bedingungen für eine ganzheitliche frühkindliche Entwicklungliegen dann vor, wenn gleichzeitig motorische, sinnliche und emotionaleBedürfnisse erkannt und gestillt werden können. All dies trifft in noch stärkeremUmfang auf Kinder im Vorschulalter zu. Hervorragende Voraussetzungendafür bietet der Wald. Die natürliche Vielfalt in Verbindung mit nahezuunbegrenztem Raum ermöglicht motorische, sinnliche und emotionale Erfahrungsmöglichkeiten,die in der heutigen Lebenswelt von Kindern wenigergegeben sind.Bei der Auseinandersetzung mit den verschiedenen ästhetischen Erfahrungenim Wald (Jahreszeiten) wurde mir bewusst, wie vielschichtig Erlebnisseim Wald sein können, die mit nichts in einer `künstlichen´ Welt vergleichbar


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 72sind. Die Lebendigkeit und das Entstehen und Vergehen, welches in einemununterbrochenen Prozess geschieht, macht den Lebensraum Wald so vielfältigund immer wieder anders. Kinder können dort Natur direkt erfahren.Kinder brauchen Erwachsene, die ihre Erfahrungen teilen und vertiefen, ihrInteresse und ihre Aufmerksamkeit wecken und sie in ihren Tätigkeitenanregen und begleiten. Von Seiten der Erzieherinnen ist deshalb anteilnehmendeBeobachtung der Kinder besonders wichtig, um auf diese eingehenzu können.Durch die Betrachtung der Bewegungsmöglichkeiten im Wald zeigte sich mirbesonders die in der Natur gegebene Vielseitigkeit, die ebenso mit nichts ineiner von Menschen geschaffenen Welt vergleichbar ist. Selbst ein noch soauthentisch aufgebauter Bewegungs- und Sinnesparcours bleibt im Wesentlichengleich, während sich der Wald permanent verändert. Vielfältige, immerwieder neue Bewegungsmöglichkeiten in Kombination mit differenziertenSinneswahrnehmungen resultieren daraus. Es ist faszinierend für mich zubeobachten, wie die Kinder ständig neue Bewegungsherausforderungen, wiein eine Schlucht rutschen, einen Hang erklettern, über eine Graben springen,durch eine Pfütze waten, auf einem <strong>Baum</strong>stamm wippen, entdecken undnutzen.Meiner Meinung ist die Zeit in einem Waldkindergarten für Jungen und fürMädchen eine wunderbare Gelegenheit, die verschiedensten Neigungen undInteressen zu entdecken und ausleben zu können.Mit Freude beobachte ich die eigenständige Entwicklung des Potenzials derKinder.Schön ist, dass die Waldkindergartenbewegung dazu geführt hat, die Kindergartenlandschaftzu bereichern und die so genannten Regelkindergärten zuWaldbesuchen zu inspirieren. Vor allem für Kinder, die wenig Gelegenheithaben, die Natur kennen zu lernen, sind regelmäßige Waldaufenthalte eineBereicherung.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 73LiteraturverzeichnisAyres, Jean A. Bausteine der kindlichen Entwicklung. Berlin ³1998AV1 TV & VideoProduktionAV1 TV & VideoProduktion„Spielzeug zerbricht – Erlebnisse sind unsterblich“Waldkindergärten in Deutschland. 1996. Pfalzstr. 10,34260 Kaufungen, Tel. 05605-4321, Fax 70219„Erlebnisse und Ergebnisse“Waldkindergärten in Deutschland, Teil 2 1999.Anschrift s.o.Birkenbihl, Vera F. Jungen und Mädchen: wie sie lernen. München 2005.Cornell, JosephCornell, JosephDoering, Waltraut &Winfried / Dose, Gude /u.a. (Hrsg.)Dornes, MartinAuf die Natur hören. Wege zur Naturerfahrung.Mülheim an der Ruhr, 1987/1991.Mit Freude die Natur erleben. Naturerlebnisspiele füralle. Mülheim an der Ruhr, 1989/1991.Sinn & Sinne im Dialog. Der Kongreß zur Wahrnehmung.Dortmund 1996.Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt am Main42000Duden Das Fremdwörterbuch. Mannheim; Wien; Zürich 5 1990.Elschenbroich, DonataFeldenkrais, MosheFthenakis, Wassilio E.,(Projektleitung) u.a.Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Weltentdecken können. München 7 2001.Bewusstheit durch Bewegung. Frankfurt am Main1978.Bildung von Anfang an. Bildungs- und Erziehungsplanfür Kinder von 0 bis 10 Jahren. März 2005.Herausgeber: Hessisches Sozialministerium undHessisches Kultusministerium, Wiesbaden.Goleman, Daniel Emotionale Intelligenz. München 13 1997.Hessisches SozialministeriumKalff, MichaelKöllner, Sabine /Leinert, CorneliaWaldkindergärten. Wo Kinder mit Bäumen wachsen.Aspekte eines pädagogischen Konzeptes. Wiesbaden,April 2002.Handbuch zur Natur- und Umweltpädagogik.Tuningen 1997Waldkindergärten. Ein Leitfaden für Aktivitäten mitKindern im Wald. Augsburg ³1999.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 74Kükelhaus, Hugo /Zur Lippe, RudolfKuhfuss, WernerKuhfuss, WernerKuhfuss, WernerLaewen, Hans-Joachim /Andres, Beate (Hrsg.)Laewen, Hans-Joachim /Andres, Beate /Hédervári, ÉvaMiklitz, IngridOerder, Sigrid /Wüstenberg, WiebkeEntfaltung der Sinne. Ein „Erfahrungsfeld“ zur Bewegungund Besinnung. Frankfurt am Main 1982(Ausgabe von 1993).Früherziehung contra Spiel des Kindes – ein offenerBrief. Zeitschrift „Der Europäer“ Jg. 8 / Nr. 7 / Mai 2004Was ist Bildung des kleinen Kindes? Das Spiel alsaktives Kraftfeld. Medizinisch-Pädagogische Konferenz,Rundbrief für in der Waldorfpädagogik tätige Ärzte, Erzieherund Therapeuten. Stuttgart Mai 2004Das kulturschaffende Grundgesetz des kindlichenSpiels.Eine geisteswissenschaftliche Forschungsaufgabe.Juni 2004Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit.Bausteine zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen.Weinheim, Berlin, Basel 2002.Die ersten Tage – Ein Modell zur Eingewöhnung inKrippe und Tagespflege. Weinheim, Berlin, Basel42003Der Waldkindergarten. Dimensionen eines pädagogischenAnsatzes. Neuwied; Berlin ²2001.Seminarpapier zur personenzentrierten Gesprächsführungmit Kindern vom 19.04.2005Oerter, Rolf &Montada, Leo (Hrsg.)Entwicklungspsychologie.52002.Weinheim Basel BerlinPikler, EmmiPütz, Günter / Lensing-Conrady, Rudolf / u.a.Schäfer, Gerd E. (Hrsg.)Schäfer, Gerd E.Laßt mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklungdes Kindes bis zum freien Gehen. München³2001.An Wunder glauben... Die Kunst der Psychomotorik,„das Unbegreifliche“ greifbar zu machen. Dortmund1998Bildung beginnt mit der Geburt. Ein offener Bildungsplanfür Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen.Weinheim und Basel ²2005.Bildungsprozesse im Kindesalter – Selbstbildung,Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit.Weinheim München 1995.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 75Schäfer, Gerd E. /Leo, Sonja u.a.Spitzer, ManfredVester, FredericZimmer, RenateZimmer; RenateNeue Perspektiven der Bildungsarbeit im Elementarbereich.www.tageseinrichtungen.nrw.de/material/doku_ws7.pdfGeist im Netz: Modelle für Lernen, Denken undHandeln. Heidelberg; Berlin; Oxford 1996Denken, Lernen, Vergessen. München, überarbeiteteerweiterte Ausgabe Oktober 2001.Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlageneiner ganzheitlichen Erziehung. Freiburg i. Br. 11 1995.Sinneswerkstatt. Projekte zum ganzheitlichen Lebenund Lernen. Freiburg i. Br. ³1997.


Ästhetische Bildung für Mädchen und Jungen im Waldkindergarten 76Eidesstattliche Erklärung zur DiplomarbeitIch versichere, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbständig angefertigtund keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel verwendethabe.Ort, Datum, UnterschriftIch bin damit einverstanden – nicht einverstanden - , dass ein Exemplar meinerArbeit in der Bibliothek der Fachhochschule Frankfurt am Main aufbewahrtwird und im Online Public Access Catalogue eingesehen werden kann.Ort, Datum, Unterschrift

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