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Oberst a. D. Prof. Dr. Sc. Wilfried Hanisch Zur ... - AGGI-INFO.DE

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<strong>Oberst</strong> a. D. <strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Sc</strong>. <strong>Wilfried</strong> <strong>Hanisch</strong><strong>Zur</strong> Haltung der Soldaten der DDR bei der Grenzöffnung im November 1989(Vortrag beim wissenschaftlichen Symposion „Nationale Volksarmee – Armee für denFrieden“ der Karl-Theodor-Molinari-Stiftung im Frühjahr 1995) (1)In der seinerzeit üblichen täglichen „Aktennotiz für den Minister für Nationale Verteidigung“- eine Art Tagesmeldung, angefertigt durch den Chef des Hauptstabes derNationalen Volksarmee der DDR - hieß es über die Ereignisse des 9. November1989 wie folgt:„<strong>Zur</strong> Entwicklung der Lage auf dem Territorium der DDR, in der Nationalen Volksarmeeund den Grenztruppen der DDR mit Stand vom 10.11.1989, 05.00 Uhr,gestatte ich mir, Ihnen zu melden:1. In der Hauptstadt der DDR, BERLIN, führte die Festlegung, reise- und ausreisewilligenBürgern der DDR das Passieren der Grenzübergangsstellen mit Personalausweiszu gestatten, zu teilweise unkontrollierbaren Aktivitäten.An allen Grenzübergangsstellen zu BERLIN (West), besonders zu der Friedrich-/Zimmer- bzw. Bornholmer Straße, verließen ab 21.30 Uhr am 09.11.1989 einenicht feststellbare Zahl von DDR-Bürgern zu Fuß und mit Fahrzeugen die DDR,wobei ein großer Teil sich nur zeitweilig auf WEST- BERLINER Territorium aufhieltund dann in die Hauptstadt zurückkehrte.Bis in die frühen Morgenstunden hielten diese Bewegungen von DDR-Bürgern inbeiden Richtungen an.Im Grenzabschnitt BRAN<strong>DE</strong>NBURGER TOR kam es in den Nachtstunden am10. 11. 1989 zwischen 00.1 0 Uhr und 03.00 Uhr zum Betreten der Grenzanlagendurch Bürger aus BERLIN (West) und der Hauptstadt der DDR.Mit Kräften der Grenztruppen der DDR und der Deutschen Volkspolizei konntedie Ordnung in diesem Bereich ohne Gewaltanwendung wieder hergestelltwerden.Alle Personen wurden ständig aufgefordert, sich an die ab 10.11.1989 in Krafttretenden Festlegungen der Regierung der DDR zu halten und die dort aufgezeigtenMöglichkeiten zum zeitweiligen bzw. ständigen Verlassen der DDR zunutzen.Im Verlaufe aller Aktivitäten kam es zu keinen Ausschreitungen gegen Angehörigeder <strong>Sc</strong>hutz- und Sicherheitsorgane der DDR.2. An der Staatsgrenze zur BRD reisten über alle Grenzübergangsstellen bis 03.00Uhr am 10.11.1989 je 100 bis 300 Personen aus der DDR aus.Der Ausreiseverkehr wird bis 08.00 Uhr vermutlich in diesem Rahmen anhalten."Und nach Zahlenangaben über in der DDR an diesem Tage stattgefundene Demonstrationensowie über Festnahmen wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts"- an diesemTage 45 Personen - folgten:5. Im Ministerium für Nationale Verteidigung, in den Kommandos der Teilstreitkräfteder Nationalen Volksarmee, der Grenztruppen der DDR sowie der MilitärbezirkeIII und V wird die ERHÖHTE FÜHRUNGSBEREITSCHAFT aufrechterhalten.Die Informationsbeziehungen und Verbindungen des Zusammenwirkens warenständig gewährleistet.


6. In der Nationalen Volksarmee und den Grenztruppen der DDR befinden sich179 Hundertschaften in 2 bis 3 Stunden-Bereitschaft, davon- in den Landstreitkräften 138- in den LSK/LV 13- in der Volksmarine 7- in den Grenztruppen der DDR 12- in den dem MFNV unmittelbar unterstellten Truppen 9Ich bitte um Kenntnisnahme bzw. Ihre Weisung. " (2)Dieser Auszug aus der Tagesmeldung erscheint zumindest in zweierlei Hinsichtbeachtenswert: Erstens macht er sichtbar, wie sich die Abläufe jenes welthistorischenEreignisses in der wohl ersten offiziellen schriftlichen Übermittlung widerspiegeln,die - weil unmittelbar danach angefertigt und für den eigenen Geschäftsbereichbestimmt - noch frei sein dürfte von späteren Rechtsfertigungsbestrebungen,<strong>Sc</strong>huldzuweisungen oder Ansprüchen auf historische Verdienste.Und zweitens läßt er, bezogen auf den 2. Teil, noch deutlicher die Diskrepanz hervortreten,die darin besteht, daß trotz der damals seit mehreren Wochen andauerndenerhöhten Führungsbereitschaft und allgemein vorbereiteter Reservekräfte nicht nurdie vor Ort Dienst verrichtenden Soldaten, sondern zugleich die gesamte militärischeFührung, einschließlich Minister, von den Ereignissen völlig überrascht wurden understere zudem anfangs völlig auf sich allein gestellt handeln mußten - ein Umstand,der ihr Verhalten maßgeblich mit prägte und oft auch zu einer im wörtlichen Sinnepersönlichen Bewährungsprobe werden ließ.Um diesen fast unglaublichen Umstand zu verdeutlichen, sei kurz auf die Vorgeschichteverwiesen.Die halberneuerte Führung der SED unter Generalsekretär Egon Krenz hatte sichnun endlich zu einem Reisegesetz für DDR-Bürger ohne wenn und aber durchgerungen,der Gesetzentwurf wurde auf der Politbüro-Sitzung vom 31.10.1989 beschlossenmit der Empfehlung an den Ministerrat, den Entwurf nach öffentlicher Diskussionso an die Volkskammer der DDR zu leiten, „daß das Inkrafttreten des Gesetzes spätestensam 20. Dezember 1989 möglich" ist (in der Zwischenzeit hoffte man, dasleidige Valutaproblem für Reisegeld, offensichtlich mit Hilfe der bundesdeutschenRegierung, zu lösen). (3)Aber die erneut einsetzende Ausreisewelle von DDR-Bürgern - inzwischen war notgedrungendie direkte Ausreise aus der CSSR in die BRD ermöglicht worden -drängte auf eine frühere Lösung zumindest dieses Problems. Angesichts der unmißverständlichenAnkündigung der tschechoslowakischen Seite, beim Nichtstoppendes Ausreisestromes seitens der DDR notfalls nun ihrerseits die Grenze zu schließen,beschloß das SED-Politbüro am 7. November 1989, für die nächste Sitzung desZentralkomitees (ZK) der SED einen Vorschlag zu unterbreiten, „wonach der Teil desReisegesetzes, der sich mit der ständigen Ausreise aus der DDR befaßt, durch eineDurchführungsbestimmung sofort in Kraft gesetzt wird.“ (4) Kurzfristig ausgearbeitetwurde dieses Dokument - inzwischen als Entwurf eines Ministerrats-Beschlussesvorgesehen - durch je zwei leitende Offiziere des Ministeriums des Innern und desMinisteriums für Staatssicherheit der DDR, die es aber als Widerspruch zu ihrerVerantwortung sahen, quasi den Ausreisestrom durch eine Bevorzugung der ständigenAusreise noch weiter zu beschleunigen, deshalb von sich aus die Regelung


der viel häufiger gewünschten Besuchsreisen hinzufügten und sogar an die Spitzedes Entwurfs stellten.(5)Der schon mehrfach gehörten Annahme, daß die über den Entwurf zu Befindendendiese Eigenmächtigkeit übersehen und auch generell nur flüchtig von der VorlageKenntnis genommen hätten, steht folgendes entgegen:- das zusammengefaßte Protokoll Nr. 50 der Politbürositzungen vom 8., 9. und 10.November weist unter 5. als Tagesordnungspunkt aus: "Zeitweilige Übergangsregelungfür Reisen und ständige Ausreise aus der DDR', einschließlich Bestätigungsvermerkder Vorlage (6),- der Entwurf des Ministerrats-Beschlusses und der beigefügten Pressemitteilungwurde lt. Verteiler in 30 Exemplaren angefertigt, am Nachmittag im Ministerrat insUmlaufverfahren gegeben und nachweislich auch im ZK vorgelesen, diskutiertund hierbei sogar in einigen Passagen geändert. Dabei wurde auch der - diespätere falsche Auslegung ermöglichende - Vorschlag angenommen, die beigefügtePressemitteilung nicht erst, wie im letzten Punkt des Beschlusses vermerkt,am 10. November zu veröffentlichen, sondern über den Regierungssprecher sogleich.Mehrfache Befragungen von Zeitzeugen bestätigten: Weder die Verfasser noch dieBeschließenden wollten mit dem Beschluß die Mauer einreißen, sondern vielmehrdas seit langem leidige Problem der ständigen Ausreise vereinfachen und die massivin den Demonstrationen geforderten Reisemöglichkeiten schaffen, aber natürlichgeordnet und ab 10. November 1989. Dabei gingen sie davon aus, daß ein Massenansturm- wenn überhaupt - ab 10. November auf die Volkspolizeikreisämter zurBeantragung der Reiseunterlagen eintreten könne, deshalb wurden für dort noch amgleichen Tage Vorbereitungen getroffen.Diese, von offensichtlicher Unkenntnis über die tatsächliche Stimmungslage in derBevölkerung getragene Meinung war ebenfalls die Ursache dafür, daß keiner derBeteiligten es für notwendig ansah, jetzt schon Vorkehrungen an den damaligenGrenzübergangsstellen zu treffen, zumindest aber die dort Dienst verrichtendenKräfte zu informieren.Alles weitere des historischen Ablaufs ist weltweit bekanntgeworden: Der bei der o.g.Diskussion nicht im Tagungsraum anwesende Günter <strong>Sc</strong>habowski, dem man einesder genannten Exemplare der Vorlage mit Beschluß und Pressemitteilung zur allgemeinenPressekonferenz mitgegeben hatte, verlas die Pressemitteilung im vollenWortlaut so, wie sie als Anlage dem Ministerratsbeschluß angefügt war – offensichtlichaber ohne den Punkt 3 des Beschlusses selbst, der festgelegt hatte, diesePressemitteilung erst am 10. November zu veröffentlichen, dem erfolgten Vorziehender Veröffentlichung entsprechend zu berücksichtigen. Nur so erklärt sich seine verlegenwirkende Antwort auf die Journalistenfrage, ab wann diese Regelung gelte, mit„ab sofort", „unverzüglich“ - Begriffe, die er aus dem Text des Punktes 2 des Beschlussesals erstes erfaßte.Diesen Vorgang hat man später in der Literatur auch als „überlegten oderunüberlegten Staatsstreich" (7) bezeichnet. Unabhängig von diesem faktenmäßiganderweitig nicht belegbaren Vorwurf verhieß diese öffentlich erfolgte Interpretationim Klartext tatsächlich - wenn auch nicht auf den ersten Blick so zu erfassen - daßzeitweilige und ständige Ausreisen ab sofort über sämtliche Grenzübergangsstellender DDR zur BRD und zu Westberlin erfolgen könnten.


Da das DDR-Fernsehen die Pressekonferenz direkt übertragen hatte und ein Teil derWest-Medien bald die genannte Mitteilung als sofortige Grenzöffnung verbreitete,war es eigentlich nicht verwunderlich, daß sich vor allem Bewohner Berlins und desUmlandes davon überzeugten, was an dieser überraschenden Meldung wahr sei.Die unmittelbar nachfolgenden und kaum dokumentierten Entwicklungen sind in denMedien sehr unterschiedlich interpretiert worden, besonders hinsichtlich der Zeit undder möglichen Verdienste bzw. <strong>Sc</strong>huldzuweisungen für Entscheidungen. Bezogenauf das vorgenannte Thema läßt sich folgendes mit Sicherheit ableiten: (8)Zunächst waren die Menschenbewegungen zu den Grenzübergangsstellen unddamit übereinstimmend auch die Handlungen der Grenzsicherungskräfte noch rechtunterschiedlich. Während sich ab etwa 20.00 Uhr an einigen Grenzübergangsstellenim Innern Berlins schon größere Menschenansammlungen bildeten und entsprechende,aber vorerst unbeachtet bleibende Meldungen „nach oben" abgegebenwurden, konnten die an den Übergängen an der Außengrenze sich vereinzelt einfindendenBürger zumeist noch zur Umkehr mit dem Hinweis veranlaßt werden, siehätten eine Fernsehmeldung falsch verstanden. Als gegen 21.20 Uhr am GrenzübergangBornholmer Straße schon zwischen 500 bis 1000 Menschen die Öffnung des<strong>Sc</strong>hlagbaumes verlangten und der PKW-Rückstau bereits über einen Kilometer langbis zur <strong>Sc</strong>hönhauser Allee reichte, ließ der dortige Kommandant für einzelne Personen,die ihr Ausreisebegehren vortrugen, den Fußgänger-Durchgang bis zumKontrollbereich öffnen.Hier ist eine klärende Einfügung erforderlich: Der tatsächlich den Grenztruppenangehörende Kommandant der jeweiligen Grenzübergangsstelle (GÜST) trug dievolle Verantwortung für Zustand und Sicherheit der GÜST, aber auf die Durchführungder Paßkontrolle selbst und ihre Modalitäten hatte er keinerlei Einfluß. Diese oblagden ebenfalls die grünpaspelierte Uniform tragenden Angehörigen der Paßkontrolleinheiten,die dem Ministerium für Staatssicherheit unterstanden und von dort auchihre dienstlichen Weisungen erhielten. (9) Diese schon seit längerem eingeführteZweiteilung, die nur aus dem damals überzogenen Sicherheitsverständnis zu erklärenist, war von den Grenztruppen nie als sehr zweckmäßig empfunden worden.Dennoch hatten Paßkontrolleinheit und Kommandant der GÜST in der Regel einsachlich normales Verhältnis zueinander, offensichtlich auch hier.Nachdem also die ersten Ausreisewilligen in den Kontrollbereich eingelassen wordenwaren, erhielt die Paßkontrolleinheit auf eine entsprechende Anfrage von ihremnächsthöheren Vorgesetzten die Weisung, daß demjenigen, der an einer Grenzübergangsstelleauf Ausreise bestehe, diese mit dem Personalausweis zu gestatten sei.Doch statt hierdurch, wie offensichtlich beabsichtigt, den <strong>Dr</strong>uck zu mildern, trat dasgenaue Gegenteil ein - schließlich gingen die Bilder über die Ausreisenden sofortüber die Fernsehbildschirme. Gegen 23.30 Uhr war die Menge beispielsweise andiesem Grenzübergang auf ca. 20.000 angewachsen und rief „Tor auf", aber auch,„Wir kommen wieder". Da durch den angewachsenen <strong>Dr</strong>uck eine bedrohliche Situationentstanden war, die Vorgesetzten dennoch ablehnten, die Kontrollen einstellenzu dürfen, lösten die beiden ranghöchsten Offiziere der dortigen Paßkontrolleinheiteigenmächtig die Sicherung des <strong>Sc</strong>hlagbaumes und gaben ihn frei. Am GrenzübergangHeinrich-Heine-Straße wurde der <strong>Sc</strong>hlagbaum gegen 23.35 Uhr geöffnet,an der Oberbaumbrücke und in der Chausseestraße 23.40 Uhr und gegen 24.00 Uhrin der Friedrich-/Zimmerstraße - dem „Checkpoint Charlie" - sowie in der Invalidenstraße.Nach dem Lagebericht der Volkspolizei waren zwei Minuten nach Mitternachtalle Grenzübergange im Innern Berlins geöffnet und bis 01.00 Uhr am Außenringsowie auch an der Grenze zur Bundesrepublik - in der Regel in Übereinstimmung


zwischen den jeweils vor Ort Verantwortlichen von Grenztruppen, Paßkontrolleinheitenund Zoll.Sie handelten damit eindeutig gegen bestehende Gesetze, Vorschriften und Befehle- bzw. genauer: indem sie das taten, gaben sie in hoher persönlicher Verantwortungeinem einzigen Befehl den Vorrang: dem seit dem 3. November geltenden Befehl11/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, der festlegte, daß imFalle des Eindringens von Demonstranten in das Grenzgebiet diese „durch Anwendungkörperlicher Gewalt und geeigneter Mittel daran zu hindern (sind), daß es zuGrenzdurchbrüchen kommt", daß aber die Anwendung der <strong>Sc</strong>hußwaffe „grundsätzlichverboten" ist." (10) Aber zumindest juristisch läßt ja ein „grundsätzlichesVerbot" Ausnahmen zu - und war das nicht eine eindeutige Ausnahmesituation, da jaschon vom einfachen Zahlenverhältnis her die empfohlene Anwendung körperlicherGewalt und anderer geeigneter Mittel außerhalb jeder Diskussion stand?Angesichts dieser Tatsachen erscheint es zumindest etwas sehr vereinfacht, wennkürzlich in einem „Spiegel"-Artikel „über die Rolle des DDR-Militärs bei der Maueröffnung"zu lesen war: „Zehntausende von DDR-Bürgern hatten die sensibelsteGrenze der Welt' (SED-Jargon) in einem Taumel der Begeisterung gestürmt und dieGrenzwächter des Regimes zu Statisten degradiert." (11)Natürlich ist und bleibt unbestritten, daß der <strong>Dr</strong>uck der zu den Grenzübergangsstellengeeilten Menschen das Hauptmoment dafür war, daß unter den eingetretenenUmständen aus einer für den nächsten Tag beabsichtigten Grenzöffnung für denkontrollierten Reiseverkehr binnen weniger Stunden eine fast totale Öffnung dervorhandenen Grenzübergänge wurde. Doch daß das unblutig, d.h. ohne Waffeneinsatzund damit ohne einen einzigen Verletzten oder gar Opfer verlief, war keineswegsso selbstverständlich. Die „Statisten" genannten Angehörigen der Grenzsicherungs-und -kontrollkräfte haben nicht nur einhellig - es gibt keinen einzigengegenteiligen Fall - an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten dasunter diesen Umständen einzig Vernünftige getan - auf Gewalt zu verzichten und die<strong>Sc</strong>hlagbäume zu öffnen - sondern dann auch umsichtig vieles unternommen, umunbeabsichtigte Zwischenfälle möglichst zu verhindern und die dort bisher unbekanntenMenschen- und PKW-Ströme in geordnete Bahnen zu lenken. Dazu gehörte,daß sie ihre eigenen Waffen ablegten und einschlossen, daß sie die Durchgängeentsprechend den Möglichkeiten rasch erweiterten und nach Beginn des Rückkehrerstromeseine Art Verkehrsregulierung vornahmen.Zu einer realistischen Einschätzung der tatsächlichen Situation gehört aber auch,daß - abgesehen von den Vorgängen in den Grenzübergangsstellen - weiterhin eineGrenze fortbestand, die ja damals immer noch - zumindest heute sagen wir leider -zu den am stärksten gesicherten in der Welt zählte. Das heißt, rechts und links vonden unmittelbaren Grenzübergängen lief die damals übliche Grenzsicherung weiter,militärisch straff organisiert und seit längerem sogar personell verstärkt, um Waffeneinsatzendlich auszuschließen. Angesichts der immer größeren MenschenbewegungenRichtung Grenze hätten diese sogar selbständig eingreifen können, daschließlich nach seinerzeit noch gültigen Vorschriften bereits das unerlaubte Eindringenin das Grenzgebiet ein kriminelles Delikt war.Und nicht zuletzt gab es vorbereitete Reserven, einschließlich der eingangs genanntenzusätzlich in Bereitschaft gehaltenen Hundertschaften, die binnen kürzester Fristhätten herangeführt werden können. Da Befehle von "ganz oben" zunächst ausblieben,hätten zumindest die ständigen Reserven auch durch die dazwischenliegenden


Befehlsebenen in Bewegung gesetzt werden können, schließlich hatte man dasjahrelang mit deutscher Gründlichkeit geübt und über Zyklogramme perfektioniert.Aber nichts dergleichen geschah - an keinem Grenzübergang und an keinem Grenzabschnitt.(12)Spätestens hier macht es sich erforderlich, ebenfalls etwas zum Verhalten derSoldaten in der Vorgesetztenebene zu sagen. Eingangs war schon festgestellt worden,daß die oberste Ebene in den entscheidenden ersten Stunden faktisch ausgeschaltetwar - m.E. zum Teil durch zufällig eingetretene Umstände, wie sieallerdings auch bei einem tatsächlichen Staatsstreich nicht besser hätten ausgedachtwerden können. (13) Diejenigen, die Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomiteesder SED waren, erfuhren nichts von der Pressekonferenz (der übermüdete<strong>Sc</strong>habowski war nach der Pressekonferenz nach Hause gefahren), weil die ZK-Sitzung fortgesetzt wurde. In einer Sitzungspause hatte der Verteidigungsministerdiese im Vorraum des Plenarsaals zusammengenommen und mitgeteilt, daß erbeabsichtige, sofort nach Rückkehr in Strausberg eine Kollegiumssitzung durchzuführen.Zum vorgesehenen Beginn um 19.00 Uhr wurden auch die übrigen Kollegiumsmitgliederdorthin eingeladen. Diese saßen nun zumindest seit 19.00 Uhr wartendvor dem Tagungsraum des Kollegiums und hatten daher ebenfalls keineAhnung vom Verlauf der Pressekonferenz und ihren baldigen Folgen. Denn die ZK-Sitzung hatte sich durch früher dort undenkbare, aber jetzt eingesetzte hitzigeDebatten beträchtlich verlängert, so daß die davon mitbetroffenen Militärs erst gegen21.00 Uhr in Strausberg eintrafen. Auf Grund der eingetretenen zeitlichen Verzögerungwurde die Sitzung ohne Zwischenpause begonnen.Wie Zeitzeugen ausdrücklich bestätigten, wußten auch noch zu diesem Zeitpunkt alledort Versammelten nicht nur nichts über die Pressekonferenz, sondern ebenfallsnichts davon, daß inzwischen einige Grenzübergänge schon von Hunderten bedrängtwurden. Deshalb ist es durchaus verständlich, wenn Theodor Hoffmann, alsdamaliger Chef der Volksmarine dort Teilnehmer, in seinem Buch „Das letzte Kommando"festhielt, daß es ihm „für immer im Gedächtnis haften bleiben (wird), daß derChef der Grenztruppen, Generaloberst Baumgarten, mitten aus der Kollegiumssitzungheraus ans Telefon gerufen wurde. Sein Stabschef meldete ihm, daß einAnsturm auf die Grenze eingesetzt habe und daß es angeblich einen Regierungsbeschlußüber die Öffnung der Grenzübergänge gebe, von dem er aber nichts wisse.Er bat um Klärung der Sachlage und um Anweisungen.Alle Teilnehmer der Kollegiumssitzung zeigten sich überrascht. GeneraloberstBaumgarten erhielt vom Minister die Weisung, die Sachlage zu klären und auch derChef des Hauptstabes bemühte sich um Informationen." (14)Nach heutigem Erkenntnisstand kann hinzugefügt werden, daß auch der soforttelefonisch befragte Stabschef des Ministeriums für Staatssicherheit zu diesemZeitpunkt keine näheren Informationen geben konnte außer zu bestätigen, daß sichan den Grenzübergangsstellen in Berlin Menschenansammlungen bilden, die sichauf die Pressekonferenz <strong>Sc</strong>habowskis berufen. Der darauf unternommene Versuch,Krenz zu erreichen, scheiterte, da dieser sich noch auf dem Wege vom ZK-Gebäudenach Wandlitz befand - moderne Auto-Telefone waren selbst in diesen Kreisen nochunbekannt. Daraufhin habe der Minister entschieden, daß sich der Chef Grenztruppensofort zu seinem Kommando nach Pätz begibt, ihn von dort aus sofort überdie Lage an der Grenze in Berlin und an der Westgrenze informiert, damit dienotwendigen <strong>Sc</strong>hritte eingeleitet werden könnten.


Offensichtlich war sich das Kollegium aber noch immer nicht der Tragweite derEreignisse bewußt, denn die Sitzung ging weiter - nach Meinung von Teilnehmern indem bis Mitte November typischen Stil, daß der Minister langatmig über jenes ausder ZK-Sitzung informierte, was zum größten Teil am nächsten Tage ohnehin in derZeitung nachzulesen gewesen wäre.Diesmal löste eine solche Verfahrensweise aber die erste offene und massive Kritikam Führungsstil des Ministers auf einer dienstlichen Veranstaltung aus, indemverlangt wurde, statt dessen endlich eine seit langem fällige klare politischeOrientierung über die weitere Entwicklung in der NVA und in den Grenztruppen zugeben. Fairerweise sei hinzugefügt daß die sehr heftig geführte Diskussion zurFolge gehabt haben soll, daß die nach der ZK-Information beabsichtigte Beratungüber die neue Reiseregelung und ihre Konsequenzen für NVA und Grenztruppen inden Hintergrund gedrängt worden sei. Zwischenzeitlich habe auch Krenz telefonischdarüber informiert, daß die Entscheidung getroffen worden sei, daß die Grenzübergangsstellenin Berlin geöffnet werden und die Bürger der DDR nach Westberlinreisen dürften. Und darüber habe der Minister dann den Chef Grenztruppen inKenntnis gesetzt - aber da seien die <strong>Sc</strong>hlagbäume schon oben gewesen.Gegen 00.20 Uhr wurde nun endlich auch von der Führung der Grenztruppen herreagiert, wurden über das übliche Alarmierungssystem Reserven herangeführt, umdie Kräfte vor Ort zu unterstützen - allerdings nachweisbar ebenfalls mit der Zielrichtung,an den GÜST die Verkehrsströme noch besser zu regeln und zugleich zuverhindern, daß unbeherrschbare Situationen an der übrigen Grenze entstehen -doch dazu nachher noch einige Bemerkungen.Um das Führungsproblem abzuschließen: Die eben geschilderten, zweifellos nicht zuden Ruhmesblättern militärischer Führung gehörenden Geschehnisse waren, wieeingeschätzt, zum Teil Folge von Zufälligkeiten, was vor allem ihren Ablauf betraf.Vom Kern her waren sie aber die Folge dessen, daß im Laufe der Jahre immer mehrverschiedenen Ministerien unterstellte Kräfte an der Grenze eingesetzt wordenwaren, das eigentliche Sagen immer stärker an das Ministerium für Staatssicherheitüberging und grundsätzliche Entscheidungen und Beurteilungen von besonderenVorkommnissen schließlich nur noch durch den Generalsekretär selbst vorgenommenworden waren. Auch das hatte sicher mehrere Ursachen, lag aberletztlich in dem schon einmal genannten weit überzogenen Sicherheitsverständnisbegründet, das schließlich nicht mehr Sicherheit brachte, sondern, wie ebenfalls indiesem Fall drastisch demonstriert, zum <strong>Sc</strong>heitern der DDR maßgeblich beitrug.Um kurzfristig das angesichts der labilen Lage zweifellos besonders bedenklicheDurcheinander und Zuständigkeitsgerangel in der Führung zu beenden, wurde amnächsten Tag eine „operative Führungsgruppe des Nationalen Verteidigungsrates"der DDR gebildet.Der unter Leitung des stellvertretenden Verteidigungsministers und Chefs des Hauptstabes,Generaloberst Streletz, arbeitenden Gruppe gehörten weiter an:- der Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, Generalleutnant Neiber;- der Stellvertreter des Innenministers und Chef des Stabes, GeneraloberstWagner;- der Stellvertreter des Außenministers, Kurt Nier;- der Stellvertreter des Verteidigungsministers und Chef der Grenztruppen,Generaloberst Baumgarten;


- der Leiter der Abteilung Parteiorgane des SED-Zentralkomitees, Heinz Mirtschin,- der Leiter der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat,Harry Möbis.Die Arbeitsgruppe hatte am 10. November 1989 ab 16.00 Uhr ihre Arbeit im LageundInformationszentrum des Innenministeriums aufzunehmen.Auch die Zweckbestimmung der Bildung dieser operativen Gruppe war eindeutig benannt:„<strong>Zur</strong> Beherrschung der unter den gegenwärtigen Bedingungen bestehendenkomplizierten sicherheitspolitischen Situation" in der DDR und „dem sich darausergebenden Erfordernis, auf jede weitere Zuspitzung der Lage kurzfristig undangemessen zu reagieren". Dementsprechend war es ihre Hauptaufgabe, die Lageentwicklungständig zu analysieren und „<strong>Sc</strong>hlußfolgerungen bzw. Vorschläge fürgesamtstaatliche Führungsentscheidungen vorzubereiten". (16)Dennoch war die Bildung dieser Gruppe in bisherigen Darstellungen Anlaß für spekulativeDeutungen: sie sei der Auftakt dafür gewesen, die am Vortage erfolgte Maueröffnungmit militärischen Mitteln, d.h. unter Einsatz militärischer Gewalt, wiederrückgängig zu machen. Da zivile Maßnahmen allein keinen Erfolg versprachen,habe die militärische Führung Vorbereitungen für ein militärisches Eingreifengetroffen. Durch eine recht willkürliche Zusammenfügung und Interpretation unterschiedlicherpolitischer Äußerungen und militärischer Fakten aus völlig anderenZusammenhängen wird der Eindruck erweckt, als sei vorgesehen gewesen, in einerArt Neuauflage der 13. August-Aktion von 1961 durch die 1. Motorisierte <strong>Sc</strong>hützendivisionin Potsdam und das Luftsturmregiment 40 in Lehnin die gesamte Grenzewieder schließen zu lassen, aber nach „Nein" aus Moskau und vom eigenen Führungskorpssei das Ganze wieder abgeblasen worden. (17)Nach vorliegenden Untersuchungen sind tatsächlich am 10. November 1989 gegen13.00 Uhr die beiden genannten Verbände bzw. Einheiten in erhöhte Gefechtsbereitschaftversetzt worden, um durch sie bei Zuspitzung der Lage erforderlichenfallsdie Grenztruppen unterstützen zu können.(18) Deshalb sei ausdrücklichdie schwere Technik ausgeklammert , der Transport mit LKW - und weil die nichtausreichten - höchstens mit SPW vorbereitet worden.Anlaß dafür waren die spektakulären Vorgänge am Brandenburger Tor, als gegenMitternacht - also zu einer Zeit, wo an den Grenzübergängen bereits der friedlicheRückreiseverkehr eingesetzt hatte - zunächst von westlicher, dann auch von östlicherSeite her von mehreren hundert Menschen die Mauer besetzt worden war und rechtsund links der dortigen Panzermauer Versuche begannen, die angrenzenden leichterenMauerelemente aufzubrechen. Man mag heute darüber sicher sehr unterschiedlichurteilen, aber damals hätte das zu unbeherrschbaren gewaltsamen Aktioneneskalieren können, die bekanntlich keiner wollte; das belegen auch diedamaligen diplomatischen Aktionen aller vier Alliierten und ebenfalls klare Äußerungenvon Bundeskanzler Kohl (19) sowie nicht zuletzt die gemeinsame Lösung desProblems am nachfolgenden Tag.Doch zunächst ist noch anzumerken, daß es den herangeführten unmittelbarenReservekräften der Grenztruppen in den frühen Morgenstunden des 10. November1989 zwar gelang, gewaltfrei an diesem noch nicht geöffneten Grenzabschnitt diefrühere Ordnung wiederherzustellen, aber vor allem von westlicher Seite die Mauerimmer wieder besetzt wurde. In der folgenden Nacht - also vom 10. zum 11.November - konzentrierten sich lt. Lagebericht im Grenzabschnitt Brandenburger Torca. 3000 Personen, davon ca. 900 auf der Mauer, und an der Grenzübergangsstelle


Potsdamer Platz „versuchten ca. 1000 Personen, mit Hilfsmitteln die Grenzmauer zuzerstören“. (20)Nach Darstellung von Beteiligten sei das und sich abzeichnende Ausweitungen derAnlaß gewesen, daß der Verteidigungsminister der DDR am 11. November 1989zwischen 10.00 Uhr und 10.30 Uhr beim Chef der Landstreitkräfte telefonischanfragte, ob er bereit sei, mit 2 Regimentern nach Berlin zu marschieren, um dieGrenztruppen zu unterstützen. Dieser habe empfohlen, das doch nochmals zuüberdenken. Bei dieser Situation mit zwei Regimentern nach Berlin zu marschieren,sei nicht abzusehen, welche Folgen das haben könne. Man sollte doch versuchen,das angeführte Problem, die besetzte Mauer wieder zu räumen, mit anderen Mittelnzu lösen. Der Minister habe geantwortet, er bekomme Bescheid.Bevor das geschah, gab es ein in diesem Zusammenhang nicht unwichtiges Ereignisin Strausberg. Dort hatte es am Vormittag des gleichen Tages eine Parteiaktivtagungder SED gegeben, die nach Bekanntgabe der geschilderten Ereignisse amBrandenburger Tor abgebrochen worden war. Danach wies der Chef des Hauptstabesdie Kollegiumsmitglieder sowie die Chefs und Leiter des Ministeriums an – ca.25 Personen - noch zu einer Information im Saale zu verbleiben. Er informierte überdie am Vortage erfolgte und hier schon dargestellte Auslösung der erhöhten Gefechtsbereitschaftfür die 1. Motorisierte <strong>Sc</strong>hützendivision und das Luftsturmregimentsowie über die Zielstellung, bei Andauern und Ausweiten der Provokationen undBesetzungen an der Mauer die Grenztruppen erforderlichenfalls mit solchen Kräftenzu unterstützen. Das löste Diskussionen aus, in denen ähnliche Argumente, wie vomChef der Landstreitkräfte benannt, gegen ein derartiges Vorgehen zu bedenkengegeben wurden. Die einhellige Auffassung war, unter keinen Umständen, auchnicht ungewollt, die Lage zu eskalieren.Am Nachmittag, gegen 14.00 Uhr, übermittelte dann der Chef des Hauptstabes demChef der Landstreitkräfte die Weisung, die erhöhte Gefechtsbereitschaft für die 1.Motorisierte <strong>Sc</strong>hützendivision und das Luftsturmregiment aufzuheben. Auf dessenFrage, wie das Problem nun gelöst worden sei, wurde ihm geantwortet: inZusammenarbeit mit dem Westberliner Polizeipräsidenten.In der Tat wurde in der Zwischenzeit durch eine unbewaffnete Offizierskompanie derGrenztruppen auf der östlichen Seite und - nachdem auf diplomatischem Wegeoffensichtlich sehr rasch die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen wordenwaren - durch Fahrzeugkolonnen der Westberliner Polizei auf dem sonst als tabugeltenden, der Mauer vorgelagerten, Streifen die Lage zumindest zeitweilig entschärft.Die notwendige Abstimmung aller dafür erforderlichen Maßnahmen hattenübrigens am 11. November 1989 der amtierende Kommandeur des GrenzkommandosMitte, <strong>Oberst</strong> Günther Leo, und der Polizeipräsident von Berlin (West),Georg <strong>Sc</strong>hertz, bei einem Treffen am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße selbstvorgenommen.Und was ein angebliches Ersuchen der operativen Führungsgruppe oder andererFührungskräfte der DDR vom 10. November 1989 an die Westgruppe der sowjetischenStreitkräfte bezüglich des Beistands für eine militärische Lösung anbetrifft,so gibt es dafür keinen realen Anhaltspunkt. (21)Im Gegenteil. So, wie die damalige politische Führung der UdSSR den in der DDRendlich eingeleiteten politischen Reformkurs generell unterstützte, so hatte sie auchunverzüglich auf diplomatischem Wege die erbetene Hilfe für die Entschärfung derLage in Berlin geleistet. (22)


Gleichermaßen verhielten sich ebenfalls die Militärs der Westgruppe. Beispielsweisehatte das Oberkommando der Westgruppe entsprechend einer Bitte des DDR-Verteidigungsministers am 12. November 1989 den Oberkommandos der britischenStreitkräfte in Deutschland, der USA-Landstreitkräfte Europa und der französischenStreitkräfte in Deutschland den Wunsch übermittelt, daß sie „die von der DDR-Regierunggetroffenen Maßnahmen verständnisvoll als Akt eines souveränen Staatesbetrachten mögen,- sich jeglicher Einmischung in die Ereignisse enthalten und- die erforderlichen <strong>Sc</strong>hritte unternehmen werden zur Wahrung der öffentlichenOrdnung in ihren Zuständigkeitsbereichen,- um etwaigen Störungen der Ordnung und Mißverständnissen vorzubeugen, diedie Situation in der DDR ebenso wie in der BRD und BERLIN (West) komplizierenkönnten". (23)Übrigens noch ein vielleicht nicht uninteressantes Beispiel „diplomatischer" Hilfe: <strong>Zur</strong>großen Verblüffung des Leiters der operativen Arbeitsgruppe erschien bei ihm am 10.11.1989 gegen 1 0.00 Uhr der auch später nicht selten für Überraschungen fähige<strong>Sc</strong>halck-Golodkowski mit zwei Mitarbeitern und übergab eine komplette Dokumentationdarüber, wo in Berlin sofort neue Grenzübergangsstellen geschaffenwerden konnten. Dank dieser Hilfe war man in der Lage, noch in der Nacht vom 10.zum 11. November acht neue Übergänge vorzubereiten und am 12. auch am PotsdamerPlatz einen neuen Übergang zu schaffen. Sicher muß man nicht lange raten,mit wem <strong>Sc</strong>halck vorher diese Fragen auch besprochen und wofür vorbereitet hatte.Durch die Pionierkräfte der Grenztruppen wurden im Tag- und Nachteinsatz sowohldiese neuen Übergänge geschaffen als auch weitere in den folgenden Tagen, so daßab 14. November von und nach Berlin (West) bereits 22 Grenzübergänge für denReiseverkehr zur Verfügung standen.Insgesamt erscheint folgende <strong>Sc</strong>hlußfolgerung berechtigt. Die Fakten belegen, daßdie Soldaten der DDR von den unter den geschilderten komplizierten Bedingungenmöglichen Verhaltensvarianten wohl nicht die schlechtesten gewählt haben. Natürlichpaßt da manches nicht in jetzt oft übliche Klischees, vor allem auch, daß mit denAngehörigen der Paßkontrolleinheiten ebenfalls Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheitmaßgeblichen Anteil an der Öffnung der Übergänge und zusammen mitden damaligen Grenzsoldaten am gesamten friedlichen Verlauf der Grenzöffnunghatten. Oder daß ebenfalls für die große Mehrheit der Soldaten der Führungsspitzeder technisch zweifellos mögliche Einsatz größerer militärischer Kräfte unter denentstandenen Bedingungen schon deshalb nicht in Frage kam, weil dann allein durchdie rollenden Kolonnen Zwischenfälle möglicherweise provoziert werden konnten.Wer ihnen diesen moralischen Anspruch nicht abnehmen will, kann sich aber wohlkaum der Logik ihrer Argumentation entziehen, daß eben, weil sie für den Fortbestandder DDR waren, als wichtigstes kein Blut fließen durfte. Denn sonst wärenicht nur jeglicher Rückhalt im Volke beseitigt worden, sondern auch internationaljene Sympathie, die die DDR in jener Zeit bekanntlich nicht nur im Osten nochbesaß, und die für die Chance einer demokratischen Wende in der DDR ebensounabdingbar war.Noch eine Anmerkung sei gestattet: Es ist heute üblich geworden, von den beidenDiktaturen in Deutschland in diesem Jahrhundert zu sprechen. Ein Vergleich desVerhaltens der Armeen beider Diktaturen macht aber nicht unwesentliche Unterschiedesichtbar: Die Armee der ersten Diktatur hat nicht nur andere Völker miteinem verheerenden Krieg überzogen, sondern auch wesentlich dazu beigetragen,


das deutsche Volk in die schlimmste Katastrophe seiner Geschichte zu stürzen undsie hat - mit wenigen Ausnahmen - insgesamt bis zum blutigen Ende gekämpft. DieArmee der zweiten Diktatur ist zwar auch nicht frei von <strong>Sc</strong>huld, aber sie hat keineKriege geführt und aktiv dazu beigetragen, daß die schließlich akute Systemkrisenicht zum blutigen Ende wurde.Das verdeutlicht m.E., wie wenig ein formaler Strukturvergleich ausreichend ist, qualitativeWesensinhalte in der Geschichte zu erfassen. Aber vor allem drängt sichangesichts dessen die Frage auf, wie im Gegensatz zu diesen unbestreitbaren Tatsachenheute in Deutschland mit den ehemaligen Soldaten beider Armeen umgegangenwird.Anmerkungen1. Der Beitrag stützt sich vor allem auf die Auswertung von Archivmaterial aus demBundesarchiv-Militärarchiv und aus der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationender DDR im Bundesarchiv (ehemal. Zentrales Parteiarchiv derSED) sowie auf vom Autor maßgeblich mit vorbereitete und durchgeführte zweiöffentliche Anhörungen von ehemaligen Akteuren - besonders der Grenztruppenund der Paßkontrollkräfte - in Potsdam und darüber hinaus auf Befragungenweiterer Zeitzeugen. Vom Gegenstand betrachtet soll er eine sachliche Ergänzungzu: Die Maueröffnung. Eine russisch-deutsche Trilogie, von Igor F.Maximytschew, Moskau/Hans-Hermann Hertle, Berlin, Teil I und II (DeutschlandArchiv Nr. 11/1994) und Teil III (Deutschland Archiv Nr. 12/1994) sein.2. Kopie im Besitz des Autors. Die unter der Ziffer 6 genannten Hundertschaftenwaren Teil der vom 4. Oktober bis 11. November 1989 in der DDR bestehendenbis zu 183 Hundertschaften, die - da es eine Notstandsgesetzgebung in der DDRnicht gab - auf der Grundlage eines „übergesetzlichen Notstandes" gemäß Befehldes Ministers für Nationale Verteidigung aus Teilen der NVA und der Grenztruppenals nichtstruktumäßige Einsatzkommandos für einen eventuellen Polizeieinsatzzur Unterstützung der Ordnungs- und Sicherungskräfte im Innern derDDR gebildet worden waren. Ursprünglich nur als zusätzliche Reserven für denRaum Berlin für die Zeit der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR gedacht,wurden diese bis dahin völlig unüblichen Reservekräfte nach den gewaltsamenAuseinandersetzungen in <strong>Dr</strong>esden am 4. Oktober 1989 in allen größeren Städtenvor allem im Süden der DDR geschaffen und generell am 11. November 1989aufgelöst. Vgl. Bundesarchiv-Militärarchiv (im Folgenden BA-MA) VA-01/37603,Bl. 10 ff.3. Protokoll Nr. 47 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 31. Oktober1989, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR imBundesarchiv (im Folgenden SAPMO B Arch) ZPA-SED J IV 2/2/2356.4. Protokoll Nr. 49 der Sitzung des Politbüros vom 7. November 1989, ebd., J IV2/2/2358.5. Nach Aussagen von Herrn Gerhard Lauter, damals Leiter dieser Gruppe, in deröffentlichen Anhörung am 5.11.199 in Potsdam, Tonband i. Bes. d. Verf. (Außerihm und den Autoren der 1. Anhörung wirkten hier vor allem zusätzlich mit: EgonKreuz und der Mitarbeiter am Zentralinstitut für Sozialwissenschaftliche Forschungder Freien Universität Berlin, Hans-Hermann Hertle).


6. Protokoll Nr. 50 der Sitzung. des Politbüros v. 8., 9., 10. Nov. 989, wie Anm. 3, JIV 2/2A/3256, Unterstreichung durch den Autor.7. Siehe Theodor Hoffmann: Das letzte Kommando. Berlin/Bonn/Herford 1993, S.27.8. Soweit nicht anders genannt, Angaben nach: 9. November 1989. Nachbetrachtungenzur Grenzöffnung, Potsdam, Oktober 1994, 2. überarb. u. erg. Auflage(Ergebnis der 1. Anhörung in Potsdam) und 2. Anhörung v. 5.11.94, wie Anm. 5.9. Angesichts dieser Rechtslage konnte beispielsweise auch der Stabschef derGrenztruppen, Generalmajor Dieter Teichmann, gar nicht „eigenmächtig und ohneAbstimmung mit dem MfS" eine Weisung zum Offnen der Übergänge erteilen.Vgl. demgegenüber: Die Maueröffnung, wie Anm. 1, S. 1243.10. Befehl Nr. 11/89 des Vors. des Nationalen Verteidigungsrates der DDR überMaßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in den Bezirken derDDR vom 3.11.1989, BA-MA, VA 0 1/39592, Bl. 275.11. „Ein Stein vom Herzen". Der Historiker Hans-Hermann Hertle über die Rolle desDDR-Militärs bei der Maueröffnung in: Der Spiegel, Hamburg, Nr. 46/94, S. 40.12. Es reicht offensichtlich nicht aus, „das Geheimnis" für das tatsächliche Verhaltender Grenzsoldaten in jenen Nachtstunden allein in einer mathematisch nachgewiesenenParalysierung zu suchen. Warum übergeht man eigentlich völlig dieFrage nach dem Selbstverständnis der Soldaten damals? Vgl. Die Maueröffnung,wie Anm. 1, S. 124313. Soweit nicht anders angegeben im weiteren nach Befragungen der Herren:Generaloberst a. D. Klaus-Dieter Baumgarten, <strong>Oberst</strong> a. D. Heinz Geschke,<strong>Oberst</strong> a. D. Wolfgang Krug., <strong>Oberst</strong> a. D. Peter Priemer, Generalmajor a. D. <strong>Dr</strong>.Werner Siegmund, Generaloberst a. D. Horst Stechbarth und Generaloberst a. D.Fritz Streletz - Unterlagen beim Autor.14. Theodor Hoffmann, wie Anm.7.15. Siehe Befehl Nr. 12/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates derDDR über die Bildung einer operativen Führungsgruppe des NationalenVerteidigungsrates der DDR vom 10. November 1989, Kopie im Besitz desAutors.16. Ebd.17. Vgl. Die Maueröffnung, wie Anm. 1, Teil III, S. 1241 ff Ein Stein vom Herzen; wieAnm. 11, S. 40 ff. Einer deutlich ausgeprägten Akribie beim Zusammentrageneiner Vielzahl von Einzelfakten steht die methodische „Großzügigkeit", mit deru.a. hypothetische Prämissen zu Tatsachen avancieren, diametral gegenüber.18. Auch Streletz erklärte, zur angegebenen Zeit dem Chef der Landstreitkräfte,Generaloberst Stechbarth, als seinerzeitiger Ministerstellvertreter und Chef desHauptstabes im Auftrage des Verteidigungsministers den Befehl erteilt zu haben:“Auslösung der erhöhten Gefechtsbereitschaft für die 1. MSD und das Luftsturmregiment40 in der Bereitschaft ohne Panzer, ohne Artillerie und ohne schwereTechnik, um in Berlin zur Unterstützung der Grenztruppen eingesetzt zu werden."Er habe das übrigens nie bestritten - im Gegensatz zur Behauptung bei: Ein Steinvom Herzen, wie Anm. 11, S. 40. Offen bleibt noch, ob die genannten Einschränkungenbezüglich der Technik überall korrekt ankamen, z. B. im Artillerieregimentder 1. MSD. Die gegenteilige Darstellung bei Hertle für den 10. November 1989


(Die Maueröffnung, wie Anm. 1, Teil III, S. 1247) wird aber bei Weber auf den 11.November bezogen, vgl. H.-W. Weber, in: NVA. Ein Rückblick für die Zukunft,hrsg. von Manfred Backerra, Köln 1992, S 60 f.19. Nach Krenz habe der Kanzler bei einem gemeinsamen Telefongespräch am 11.November 1989 betont, daß es wichtig sei, daß sich die Dinge beiderseits derStaatsgrenze nicht radikalisieren. Vgl. Egon Krenz an Helmut Kohl zum fünftenJahrestag des Mauerfalls: „Herr Bundeskanzler, setzen Sie politische Signale", in:Neues Deutschland. Berlin, vom 8. November 1994. Auch Wolfgang <strong>Sc</strong>häubleschrieb später, daß er vom 9. November an Sorge hatte, „es könne zu einer unkontrollierbarenEskalation kommen". Vgl. ders.: Der Vertrag. Stuttgart 1991, S.17.20. Aktennotiz für den Minister für Nationale Verteidigung (Stand: 11.11.1989 04.00Uhr), Kopie im Besitz des Autors.21. Der in dem Beitrag „Die Maueröffnung" auf S. 1249 f als „Beweis" wiedergegebeneBericht von Maximytschew ist hier von Hertle im Gegensatz zur Erstveröffentlichungverkürzt wiedergegeben worden. Nach der Wiedergabe der Äußerung<strong>Sc</strong>hewardnadses, daß er über Informationen verfüge, daß sich die Militärs rührenwürden, fehlt hier die anschließende Einschätzung Maximytschews: „Uns wurdekein Anzeichen bekannt, das die Sorge <strong>Sc</strong>hewardnadses bestätigt hätte. Nachmeiner damaligen Einschätzung hatten wir es mit einer Vorbeugemaßnahme deslistigen Georgiers zu tun." Vgl. I.F. Maximytschew/H.-H. Hertle: Der Fall derBerliner Mauer. Freie Universität Berlin, Zentralinstitut für sozialwissenschaftlicheForschung, Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichenForschung, Nr. 93, Berlin, November 1994, S. 26.22. Vgl. die auch im Beitrag „Die Maueröffnung“ wiedergegebenen telegrafischenAktivitäten von Krenz an Gorbatschow und von diesem an westliche Spitzenpolitiker.Das Telegramm von Krenz an Gorbatschow hat allerdings tatsächlichStreletz entworfen. Vgl. Die Maueröffnung, wie Arm. 1, S. 1153 f23. Abschrift des Fernschreibens des Chefs des Stabes der Westgruppe der Streitkräfteder UdSSR an den Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigungder DDR und Chef des Hauptstabes der NVA, Genossen Generaloberst FritzStreletz, Kopie im Besitz des Autors.24. Vgl. Märkische Volksstimme, Potsdam, vom 14. November 1989.

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