wachstUM
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Klaus hofmeister<br />
(Jahrgang 1960) ist<br />
katholischer theo -<br />
loge und Journalist.<br />
er arbeitet als redakteur<br />
für Kirche<br />
und religion beim<br />
hessischen rundfunk<br />
in frankfurt und<br />
moderiert dort bei<br />
hr1 die sendung<br />
„start am sonntag“.<br />
„Du bist aber groß geworden!“ Fast immer hat mich meine<br />
Großmutter mit diesen Worten begrüßt, wenn wir uns<br />
eine Zeit lang nicht gesehen hatten. Und jedes Mal war<br />
ich glücklich, das zu hören. Natürlich: Was will ein acht-,<br />
neun-, zehnjähriges Kind anderes, als größer werden,<br />
wachsen? Und immer ging es bei diesen Besuchen dann<br />
zu diesem Schlafzimmerschrank, wo die Oma das Wachstum<br />
ihrer Enkel, also auch meines, verzeichnete. Auf der<br />
Innenseite der Schranktür waren viele Striche und Daten.<br />
Nun hieß es: „Gerade hinstellen!“, und der neue Strich,<br />
deutlich über dem letzten, war meine ganze Seligkeit.<br />
Wachsen wollen, groß werden: Das ist ein urtümliches<br />
Streben. Nicht klein bleiben, nicht zurückbleiben. Mit<br />
dem Wachsenwollen teilen wir das Gesetz alles Lebendigen,<br />
der gesamten belebten Natur. Leben ist Wachsen.<br />
Mit 20 gilt der Mensch biologisch als „ausgewachsen“.<br />
Und er sollte schleunigst weg von zu Hause und eigenen<br />
Lebensraum entdecken. Denn: „Nichts gedeiht im Schatten<br />
großer Bäume“ sagt das Sprichwort. Oft sind unsere<br />
Eltern Bäume, die wohltuenden Schatten spenden, aber<br />
wenn wir zu lange unter ihrem Schutz ausharren, können<br />
sie uns auch das Licht und die Luft für die eigene<br />
Entwicklung nehmen.<br />
Die Grundstrukturen der Persönlichkeit sind in den<br />
ersten zwei Lebensjahrzehnten festgelegt. Das Persönlichkeitswachstum<br />
aber steht noch am Anfang. Denn<br />
was einer aus seiner „Erbschaft“ macht, aus den Samenkörnern<br />
seiner Gaben und Grenzen, ist ganz offen. Reibt<br />
sich einer zeitlebens an seinen Defiziten wund oder<br />
wächst er darüber hinaus und gelangt zu neuen Ufern?<br />
Hängt er irrealen Ideen nach, oder schaut er auf die<br />
Realität seiner Möglichkeiten hier und jetzt? Zum Lebenszyklus<br />
gehört nicht nur das Wachsen, Blühen, Reifen<br />
und Fruchtbringen, sondern auch das Vergehen. Es<br />
dürfte bis zum letzten Atemzug die herausforderndste<br />
Wachstumsaufgabe des Menschen bleiben, diesen Lebenszyklus<br />
in allen seinen Phasen zu bejahen.<br />
Sie zu durchleben ist heute schwieriger denn je. Denn<br />
unser Bewusstsein ist nicht mehr selbstverständlich<br />
geprägt von den Wachstumszyklen der Natur, sondern<br />
vom Wachstumsdenken der Wirtschaft, das ein „weniger“<br />
nicht zu kennen scheint. Deshalb gibt es in diesem<br />
System für die Alten und Schwachen, die Vergehenden<br />
anscheinend auch keinen rechten Platz mehr.<br />
Der Glaube an das stetige Wachstum ist seit gut zwei<br />
Jahrhunderten das gesellschaftliche Leitbewusstsein.<br />
Obwohl dieser Glaube inzwischen nicht mehr ungetrübt<br />
ist, sollen dennoch Kapitalvermögen, Renten und die<br />
ganze Volkswirtschaft immer weiter wachsen. Ja, wir<br />
müssen es wohl sogar wollen, damit das System funktioniert.<br />
Zugleich sehen wir die ökologischen Auswirkungen<br />
und die Kehrseiten kapitalistischer „Wertschöpfungszusammenhänge“<br />
so deutlich wie nie zuvor. Das Wirtschaftswachstum<br />
und die technologische Entwicklung<br />
kennen – anders als die Biologie – keinen Zustand des<br />
Ausgewachsenseins, keine Grenze oder Sättigung. Im<br />
Gegenteil: Wer auch nur stehen bleibt, fällt schon zurück.<br />
„Es ist so, als ob man eine Rolltreppe, die nach unten<br />
geht, hinaufläuft.“, so hat es der frühere Stuttgarter<br />
Oberbürgermeister Manfred Rommel in ein Bild gefasst:<br />
„Wer dort bleiben will, wo er ist, muss mindestens so<br />
schnell sein wie die Rolltreppe. Wer vorankommen will,<br />
muss schneller sein“. Dieses Gesetz der Wachstumsgesellschaft<br />
kennt jeder, der darin agiert. „Was immer du<br />
hast, du musst es entweder vermehren oder verlieren.“<br />
sagte Henry Ford, einer der Pioniere der modernen Industriegesellschaft.<br />
So ungemütlich es klingt: dieses Gesetz<br />
scheint auch für das persönliche Wachstum zu gelten.<br />
Selbstzufriedenheit führt zu Stillstand. Wer seine Talente<br />
vergräbt, anstatt sie zu entwickeln, verliert am Ende<br />
mehr, als er zu sichern meinte. Das sagt sogar Jesus in<br />
einem bekannten Gleichnis der Bibel, der bekanntlich<br />
kein Lehrer des Kapitalismus war … Auch Wachstum<br />
braucht Maß und Grenzen. Denn die Auswüchse hemmungsloser<br />
Wachstums-Ideologie erleben wir gerade<br />
äußerst krass. Damit die Renditelinien steil nach oben<br />
weisen, haben Finanzjongleure immer luftiger agiert.<br />
Am Ende basierte die ganze Wachstumsillusion auf „Blasen“.<br />
Einmal angestochen, kracht alles auf den harten<br />
Boden der Realitäten. Und ökologisch sind die „Grenzen<br />
des Wachstums“ mit der Klimakatastrophe inzwischen<br />
für jeden spürbar.<br />
„Wir müssen lernen, den Wachstumsbegriff für das<br />
21. Jahrhundert neu zu definieren“, sagt Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel. Und sie meint damit nicht nur die<br />
klassischen, ökonomischen Wachstumsgrößen, sondern<br />
ein Wachstum, das nachhaltigen Wohlstand sichert.<br />
Denn zurzeit überlassen wir einen großen Teil der Kosten<br />
unseres Wachstums einfach unseren Kindern. Wir<br />
müssen der „Ökonomie“ das „Öko“ zurückgeben, fordert<br />
der kanadische Biologe und Träger des Alternativen<br />
Nobelpreises, David Suzuki. Ob wir tatsächlich die Kraft<br />
haben, die fälligen Korrekturen am System vorzunehmen,<br />
ist fraglich. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat seine<br />
Skepsis so formuliert: „Die Menschen sind Zukunftsatheisten,<br />
sie glauben nicht an das, was sie wissen.“<br />
Die eigenen Grenzen im Blick haben und angepasst<br />
handeln: Das ist ein Lernschritt, der im Persönlichkeits-<br />
03/11 – 17<br />
DAS MAGAZIN DER CREATIVEN INNENEINRICHTER