Die Stadt im 21. Jahrhundert - Klassenkampffeld im Wandel
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Interview zu Verdrängung<br />
und pöbelnde Jugendliche. Hier stellt sich somit die<br />
Machtfrage und auch hier müssen die herrschenden<br />
Verhältnisse „geschützt“ werden. Auch bei politischen<br />
Aktionen gegen die Aufwertung von Quartieren<br />
und Vertreibung der proletarischen Bevölkerung<br />
wird nicht z<strong>im</strong>perlich vorgegangen. <strong>Die</strong>s wundert<br />
jedoch nicht, da die Bullen doch genau Funktionsträger<br />
der <strong>Stadt</strong> und des Kapitals sind und Widerstand<br />
unterdrücken sollen.<br />
Ein weiteres Mittel des Repressionsapparates ist<br />
die SIP, welche ein Beispiel für Vertreibung von Menschen<br />
auf eine „sozialere“ Art darstellt. <strong>Die</strong> SIP stellt<br />
ein Organ dar, das vor allem Jugendliche zu spüren<br />
bekommen. <strong>Die</strong> SIP Zürich (Sicherheit, Intervention,<br />
Prävention) versteht sich als sozialdienstliche Stelle<br />
mit ordnungspolitischen Aufgaben. <strong>Die</strong> SIP agiert<br />
in verschiedenen Städten, unter anderem in Luzern,<br />
St. Gallen und Zürich. In Bern gibt es einen ähnlichen<br />
<strong>Die</strong>nst namens PINTO. <strong>Die</strong> Funktion dieser<br />
Ordnungsdienste ist in diesen Städten, trotz eigener<br />
Besonderheiten, etwa dieselbe. Der Fokus liegt dabei<br />
laut SIP Zürich auf dem Wohl der Gesamtbevölkerung.<br />
Ihr Ziel ist die Attraktivität und Sicherheit der<br />
<strong>Stadt</strong> und der öffentlichen Plätze, mit besonderem<br />
Augenmerk auf mögliche Konflikte mit Jugendgruppen<br />
und „Randständigen“ <strong>im</strong> öffentlichen Raum. In<br />
kritischen Situationen arbeitet die SIP mit der <strong>Stadt</strong>polizei<br />
zusammen. D.h. mit anderen Worten: die SIP<br />
patrouilliert in Quartieren mit sogenannten „sozialen<br />
Brennpunkten“ und geht dabei gegen jegliche Gruppen<br />
vor, welche das „schöne“ <strong>Stadt</strong>bild stören könnten.<br />
Sie verscheucht beispielsweise Alkoholabhängige<br />
von öffentlichen Plätzen, damit sich Personen, die<br />
in den aufzuwertenden Quartieren gewünscht sind,<br />
wohler fühlen. <strong>Die</strong> Farce an dem Ganzen ist, dass die<br />
SIP sich dabei als Helferin ausgibt. Wenn man sich ihr<br />
Konzept jedoch genauer ansieht, merkt man schnell,<br />
dass die Aufgaben deutlich in die oben erwähnte<br />
Richtung gehen. So steht darin geschrieben, dass „die<br />
betroffene Person selber entscheiden kann: -ob sie<br />
sich der Repression aussetzten will oder sich entfernt,<br />
-ob sie ihr Verhalten anpasst oder -ob sie sich kooperativ<br />
verhält und sich konstruktiv beteiligt.“ Dass mit<br />
Repression der Einsatz der Bullen und deren Mittel<br />
gemeint ist, liegt auf der Hand. <strong>Die</strong> SIP positioniert<br />
sich klar auf der Seite des Staates, mit dem Auftrag<br />
zur Durchsetzung von Ordnung und Sicherheit und<br />
verzichtet dabei sogar gänzlich auf klientenorientierte<br />
Elemente einer eigentlichen Sozialen Arbeit. Es<br />
geht nur darum „störende Personen oder Gruppen“<br />
zu verdrängen. <strong>Die</strong> SIP ist in ihrer Rolle also ähnlich<br />
wie die polizeiliche Verdrängung zu verstehen, nur<br />
dass sie sich mit dem Wort „sozial“ schmückt. Sie<br />
versucht die Aufwertung mit kommunikationstechnischen<br />
Methoden durchzusetzen, während die Polizei<br />
Rayonverbote verteilt. „<strong>Die</strong> SIP-Mitarbeitenden<br />
weisen die betreffenden Personen darauf hin, welches<br />
Verhalten die <strong>Stadt</strong> Zürich von ihnen erwartet.“<br />
Zudem erhält die SIP Zürich vermehrt Aufträge auf<br />
Kosten von privaten Sicherheitsfirmen. Als Beispiele<br />
sind hier der neue Strichplatz in Altstetten und das<br />
neue Asylzentrum Juchhof zu nennen.<br />
Ein weiteres sehr umstrittenes Mittel der Verdrängung<br />
<strong>im</strong> sozialräumlichen Kontext sind Überwachungskameras.<br />
Sie dienen einerseits der Überwachung,<br />
sie können also zur Aufklärung von Delikten<br />
führen, doch sie dienen auch der Abschreckung,<br />
damit haben sie einen präventiven Charakter. Schön<br />
zu sehen ist dies auf all den Pausenplätzen, die neuerdings<br />
überwacht werden. Anders als bei Flughäfen<br />
geht es auf Schularealen sicherlich nicht um die<br />
Klärung verübter Delikte, da diese ja an den Schulen<br />
nicht an der Tagesordnung sind. Hier werden die<br />
Kinder präventiv vom Rumhängen und „Scheiss- Machen“<br />
abgehalten. Sie sollen gar nicht erst auf die Idee<br />
kommen, dass man draussen ungestört irgendwo auf<br />
einer Treppe sitzen kann und machen kann wozu<br />
man gerade Lust hat. Gleich sieht es <strong>im</strong> sonstigen öffentlichen<br />
Raum aus. Wo Kameras installiert werden,<br />
kann man sich sicher sein, dass man sich nicht am<br />
Anblick herumhängender Jugendlichen stören muss.<br />
d) Annäherung an die Videoüberwachung<br />
in der Schweiz<br />
<strong>Die</strong> Überwachung des öffentlichen Raumes, insbesondere<br />
in den <strong>im</strong>perialistischen Metropolen,<br />
mittels Video Kameras (kurz CCTV = Closed Circuit<br />
Television) reicht bis in die 1970er und 1980er<br />
Jahre zurück. Damals war diese Form von sozialer<br />
Kontrolle allerdings weitgehend noch inakzeptiert.<br />
<strong>Die</strong> bürgerliche „Freiheit“ hatte noch einen gewissen<br />
gesellschaftlichen Stellenwert. <strong>Die</strong>s hat sich seit<br />
der Verschiebung von einer Disziplinargesellschaft<br />
hin zur Kontrollgesellschaft radikal geändert. In der<br />
Disziplinargesellschaft wurden die Individuen in<br />
der Schule, der Kaserne, der Familie, <strong>im</strong> Gefängnis<br />
und in der Psychiatrie systemkonform geformt. Der<br />
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<strong>Stadt</strong>aufwertung in Zürich heisst auch Vertreibung der Sexarbeiterinnen. Wir sprachen mit Marisol, die seit 2000<br />
<strong>im</strong> Kreis 4 lebt und arbeitet, über heuchlerische Schutzbehauptungen der Polizei und die Ohnmacht der Sexarbeiterinnen.<br />
Du wohnst seit bald 15 Jahren in diesem Quartier,<br />
dass lange für die Toleranz gegenüber der Prostitution<br />
bekannt war. Wenn du die Situation von heute<br />
mit damals vergleichst, was hat sich geändert?<br />
Marisol: Schau, der Kreis 4 ist heute tot. Oder zumindest<br />
auf dem Weg ins Grab. Früher war das hier ein<br />
le- bendiges Quartier, die Frauen konnten arbeiten,<br />
auf der Strasse und in den Bars. Sie hatten Arbeitsund<br />
Le- bensräume <strong>im</strong> Quartier. Heute ist davon wenig<br />
übrig. Wenn man jetzt durch den Kreis läuft, dann<br />
hat es kaum mehr Leute, die man kennt. Früher war<br />
das anders, es gab Tage, da kamen <strong>im</strong>mer wieder die<br />
selben Freier in das Quartier, sie liefen rum, gingen in<br />
die Bars. Dort konnten die Chicas mit ihnen Kontakt<br />
aufnehmen und danach in der Nähe in ein Z<strong>im</strong>mer.<br />
Das ist heute nicht mehr möglich, alles ist schwieriger.<br />
Wenn man die Aufwertung <strong>im</strong> Quartier anschaut,<br />
dann muss man sich doch eh fragen, ob<br />
die Prostitution auch ohne Repression aus diesem<br />
Quartier gedrängt worden wäre. Zahlbar sind die<br />
Räume zu arbeiten schon lange nicht mehr.<br />
Sicher. So Sachen wie die Europaallee, da ist es klar,<br />
was die <strong>Stadt</strong> in diesem Kreis will. Wir haben dadrin<br />
schlicht keinen Platz mehr, die Polizei verstärkt die<br />
Vertreibung aber natürlich. Aber man muss auch sehen,<br />
dass dieses Quartier bald nicht mehr attraktiv<br />
ist. Wer braucht schon eine Europaallee, wer ist dort?<br />
Niemand, der/die hier lebt. Letzthin hab ich <strong>im</strong> Zug<br />
gehört, wie zwei mit einander sprachen und sagten<br />
«Ja, heute war echt nichts los an der Langstrasse. Das<br />
ist langweilig.» Ich sag dir, die machen das Quartier<br />
kaputt, auch wenn dann noch so viele Millionarios<br />
hier wohnen. Das einzige, was noch funktioniert, sind<br />
die Klubs.<br />
Warum ist das so?<br />
Es gibt zwei Sachen: Erstens haben die Leute Angst.<br />
Wegen der Repression, die seit 2010 zun<strong>im</strong>mt, getrauen<br />
sich die Leute nicht mehr ins Quartier. Heute müssen<br />
sie <strong>im</strong>mer Angst haben, dass sie gebüsst werden,<br />
wenn sie schon nur mit uns reden. Viele Kunden rufen<br />
an und sagen «Ich kann nicht mehr zu dir kommen,<br />
ich getrau mich nicht.» Niemand will gebüsst werden,<br />
weil er gegen das Prostitutionsgesetz verstösst und<br />
dann ein Brief zuhause reinflattert. Zweitens wird uns<br />
der Raum genommen, zum Leben und zum Arbeiten.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Stadt</strong> kauft Häuser auf und ver- weigert die Bewilligung<br />
für Bordelle <strong>im</strong> Kreis 4. Wo sollen wir hin? Es<br />
gibt darauf keine Antwort. Sie wollen uns am Strichplatz<br />
in Altstetten. Dort draussen, in der Kälte, in<br />
einem Auto? Das sind unwürdige Arbeitsbe- dingungen,<br />
das ist kr<strong>im</strong>inell. Dort geh ich niemals arbeiten.