50 Backstage Jochen Distelmeyer prägte mit der Band Blumfeld eine ganze Generation von deutschsprachigen Künstlern. Für seine gesellschaftskritischen Songs erfand er eine völlig neue Sprache. Mit seinem neuesten Projekt „Songs From The Bottom Vol.1“ wagt sich der Sänger und Gitarrist mit der jungenhaften Stimme erstmals an englischsprachiges Liedgut aus fremder Feder heran. Olaf Neumann traf im Hamburger Schanzenviertel auf einen aufgeräumt wirkenden Dichter und Denker namens Distelmeyer ıMusik ist der Zugang zur Welt„ Foto: Sven Sindt
Backstage 51 Ex-Blumfeld-Mastermind Jochen Distelmeyer veröffentlicht mit „Songs From The Bottom Vol.1“ ein Album mit Coverversionen <strong>Neue</strong> <strong>Szene</strong>: In dem Album „Songs From The Bottom Vol.1“ interpretieren Sie Stücke von Britney Spears bis Joni Mitchell. Haben diese Lieder in Ihrem Leben eine besondere Rolle gespielt? Jochen Distelmeyer: Definitiv, sonst hätte ich sie mir nicht aneignen können. Das sind alles Songs, die mich im Zuge des Romans, den ich schrieb, interessiert haben. Auf das Stück „Turn Turn Turn“ in der Version von Pete Seeger bin ich vor Jahren noch mal gestoßen. Ich fand es schön und wichtig, dieses Stück heutzutage noch einmal zu spielen, weil es zeitgemäß, zeitlos und wahrhaftig ist. Pete Seeger ließ sich beim Schreiben dieses tiefsinnigen Protestsongs von der Bibel inspirieren, in der er tröstende Worte fand. Welche Beziehung haben Sie zur Bibel? Seeger hat den Text aus irgendwelchen Evangelien abgeschrieben. Ich selbst habe mich beim Songschreiben nie durch die Bibel inspirieren lassen. Ich bin Christ, aber die Kirche ist nicht der relevante Ort meines Glaubens. Pete Seeger war ein kratzbürstiger Künstler, der immer für etwas anderes als den Mainstream stand. Ist das ein bewusstes Statement Ihrerseits? Mich hat insbesondere die Bescheidenheit des Sängers Pete Seeger interessiert. Er sah sich immer im Dienst für die Gemeinschaft. In ästhetischer Hinsicht ist das häufig nicht besonders interessant, aber „Turn Turn Turn“ ist auch für ihn ein außergewöhnliches Stück. Bei einer bestimmten Aufnahme spielt Seeger das Stück ganz leise mit seiner Gitarre vor Publikum. Und von Refrain zu Refrain singen die Leute ganz leise aber sehr andächtig mit. Es hat mich ungemein gerührt, wie aus dieser fast uncoolen bescheidenen Position dieses Sängers etwas Feierliches entsteht. Das wollte ich mit meiner Version würdigen. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Pete Seeger und Britney Spears? Abgesehen davon, dass sie beide auf meinem Album sozusagen auftauchen? Da fällt mir jetzt kein anderer Bezug ein, muss ich sagen. Fangfrage! Interessieren Sie sich für die Lebensgeschichten der Künstler, deren Songs Sie singen? Auch. Bei allen Kunstwerken – ob ein Film, ein Buch oder eine Platte – nehmen wir bewusst oder unbewusst Kontakt auf mit der Schönheit des Produzenten. Das, was uns da entgegenkommt, ist eine Art Zugang zu den dahinter liegenden Menschen. Ob diese ominöse Gestalt jetzt Pete Seeger heißt oder Britney Spears - es ist immer ein liebevoller, wertschätzender Vorgang. Obwohl Spears eine Figur ist, mit der mich künstlerisch nicht viel verbindet, gelingt mir der Zugang zu ihrem Stück „Toxic“. Vielleicht auch aus Solidarität mit diesem gebrochenen Kinderstar. Haben Sie sich diesen Liedern aus dem Grund Ihres Herzens und nicht verstandesgemäß genähert? Das mache ich grundsätzlich immer. Ich kann das Herz nicht vom Hirn trennen, das ist ja alles in einem Body drin. Diesen chirurgischen Eingriff unternehme ich nicht. Aber ich reagiere immer vom Gefühl her. Viele Musiker wollen Musik machen, die noch nie dagewesen ist. Was wollen Sie? Ich will meine Musik machen, die noch nie dagewesen ist. (lacht) Große Fragen hier zur Mittagszeit! Gleichzeitig genieße ich es, das Gefühl zu haben, Teil einer großen Gemeinschaft von Musikern und Musikerinnen zu sein, die ich schätze. Dazu setze ich mich in Beziehung. Mit welchem Song hatten Sie als junger Mensch Ihr musikalisches Erweckungserlebnis? Das war kein bestimmter Song. So lange ich denken kann, ging es bei mir immer um Musik. Ein einschneidender Moment war natürlich Punkrock zu einem Zeitpunkt, an dem ich schon Musik machte. Punk war eine Möglichkeit, ohne Ausbildung den eigenen Kram zu machen. Das beflügelte mich ungemein und gab mir Selbstbewusstsein. Punk ließ mich die Sachen so machen, wie ich dachte, dass man sie machen muss. Ging es Ihnen darum, den Charme und den Charakter der ursprünglichen Versionen zu wahren? Ja, aber nicht bei allen Stücken auf dem Album. Manche sehe ich als Verbeugung vor der ursprünglichen Version oder der Art, wie Künstler wie Joni Mitchell, Nick Lowe, Al Green oder Kris Kristoffersen das gemacht haben. Bei anderen Stücken, wie „Toxic“ oder „I Could Be The One“, bestand der Reiz darin, mir sie anders anzueignen und zu zeigen, was noch in ihnen drin ist. Macht es einen Unterschied, ob man Songs von einer Frau oder von einem Mann covert? Eigentlich nicht. Joni Mitchell zum Beispiel ist es gelungen, eine eigene Musikalität und Songsprache zu entwickeln, die ich auf eine außergewöhnliche Weise originell finde. Damit setzt sie sich von männlichen Songwritern ab. Sie ist schon sehr frei, während die Jungs häufig noch mit dem Verwalten des historischen Know-hows beschäftigt sind oder gerne dahinter in Deckung gehen. Für mich macht es keinen Unterschied, ich reagiere immer darauf, ob der Song mich anspricht und etwas mit mir macht. In dem Moment, wo das stattfindet, ist es sowieso mein Song. Ging es Ihnen bei der Auswahl auch darum, Songs zu finden, die eine gewisse Sonderbarkeit haben mit Rissen in der Oberfläche? Nein, das ist für mich kein Kriterium. Wenn das Ergebnis dann aus der Reihe fällt, dann liegt es möglicherweise daran, dass ich mich selber nicht an einem Kanon orientiere. War es für Sie angenehm, bei einer Albumproduktion einmal keine eigenen Songs schreiben zu müssen? Angenehm weiß ich nicht, es war ja nicht geplant. Dieses Album ergab sich aus einer Lesereise zu meinem Roman „Otis“, bei der ich einige dieser Stücke gespielt hatte. An jedem Abend wurde ich danach gefragt. Noch während der Tour habe ich mir überlegt, diesem Flow zu folgen und ein Album als Dankeschön an die Fans zwischenzuschieben. Eigentlich war ich schon wieder mit der nächsten regulären Platte beschäftigt. Reizvoll fände ich auch mal ein Album mit HipHop-Coverversionen, weil das in dieser Kunstform eigentlich nicht vorgesehen ist. Vielleicht hat das ja auch seine guten Gründe. Wie finden Sie ganz zu sich selbst und holen ein Höchstmaß an Kreativität aus sich heraus? Keine Ahnung, ich mache das ja jetzt schon einige Jahre. Ich übe nicht viel, ich mache einfach. Es gibt so einen schönen Spruch: Vom vielen Üben wird man nur gut im Üben. Dadurch, dass ich die Sachen häufiger live spiele, werden sie so, wie sie sind. Ich weiß nicht, ob ich da irgendwas aus mir raushole, darüber denke ich nicht nach. Gibt es bei Ihnen Methoden, um sich in einen kreativen Zustand zu versetzen? Ja, das ist die Art, wie man lebt. Das zu erklären wäre jetzt zu ausführlich. Die Arbeit fängt nicht erst in dem Moment an, wo man sich hinsetzt und einen Song schreibt oder das Stück spielt. Sondern sie läuft die ganze Zeit. Dazu gehört auch die Art, wie man auf dem Markt einkaufen geht und sich mit Freunden und Freundinnen in Gespräche vertieft. Sie ist Teil der Methode. Es ist eine bestimmte Art zu leben, die Kreativität ermöglicht. Rock’n’Roll halt. Was ist das für ein Gefühl, in der heutigen Zeit zu leben? Nun, ich antizipiere Sachen, zum Beispiel durch meinen Roman. Ich wollte damit genau die Kräfte und Stimmungen einfangen, die in der Luft liegen. Beschreiben, was passiert und aus welcher historischen Tiefe bestimmte Entwicklungen sich speisen, die dann eben zu genau solchen Situationen führen, wie wir sie jetzt erleben: Einer Verunsicherung der westlichen Hemisphäre und einem Backlash, der in einer Kultur der Ressentiments, Verrohung, Hilflosigkeit und Kriegsbereitschaft mündet. Das habe ich alles präzise in meinem Roman beschrieben. Und das Album drückt aus, was ich in diesem Moment dazu sagen möchte - mit meinen Versionen von „Turn Turn Turn“ oder „Bittersweet Symphony“. Wozu ist Musik in der Lage? Zu unterhalten. Einem das Gefühl zu geben, nicht alleine zu sein. Zu Tanzen. Spaß zu haben. Musik ist der Zugang zur Welt. „Songs From The Bottom Vol.1“ erscheint am 12. Februar bei Four Music (Sony). Am 16. April gastiert Jochen Distelmeyer in der Kantine – präsentiert von der <strong>Neue</strong>n <strong>Szene</strong>. *