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gangart 6

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Zugesteckt am<br />

Grenzübergang nach<br />

Freilassing:<br />

die Zeichnung des<br />

kleinen Mädchens<br />

Durch dick und dünn:<br />

Muhamad Sheikho und<br />

Fayad Mulla Khalil<br />

zum nächsten. Sie waren zu Hause, als die Bombe<br />

einschlug. Ahmed zieht unvermittelt das T-Shirt<br />

des fünfjährigen Arif hoch. Eine 20 Zentimeter<br />

lange, zwei Zentimeter breite, geschwulstähnliche<br />

Narbe zieht sich links des Nabels von der Leiste bis<br />

zum Brustkorb hoch. Ähnlich sieht das linke Bein<br />

des 15-jährigen Mohammed aus. Die ganze Familie<br />

starrt mich* an und holt sich in meinem Gesichtsausdruck<br />

des Entsetzens die Bestätigung, dass<br />

ihr Unerhörtes widerfahren ist. Und Ahmed setzt<br />

nach: Der elfjährige Assad und der zehnjährige<br />

Hassan haben den Angriff nicht überlebt. Sie sind<br />

tot. Gemeinsam schweigen wir. Fatima, die Mutter,<br />

presst die Lippen aufeinander und blickt mich<br />

mit fragendem Blick an, als ob ich ihr erklären<br />

könnte, warum so etwas möglich ist. Wir sitzen in<br />

Traiskirchen, dem österreichischen Erstaufnahmezentrum.<br />

Dazwischen liegen sieben Monate Flucht.<br />

Sie, die damals schwanger war, hält jetzt ein drei<br />

Monate altes Baby in den Armen.<br />

Von Kobani nach Abtenau<br />

Aleppo war einmal eine wunderschöne Stadt. Genauso<br />

wie Kobani, die Heimat von Muhamad Sheikho,<br />

einem kurdischen Syrer, der im September<br />

2014 in Abtenau „gestrandet“ ist. „Ich bin Kurde wie<br />

alle in Nordsyrien. Meine Muttersprache ist kurdisch.<br />

Aber die war verboten. Wir lernten Arabisch in der<br />

Schule. 12 Jahre. Immer auf Tuchfühlung mit der<br />

syrischen Geheimpolizei, die jeden unserer Schritte<br />

überwachte. Danach habe ich auf der Uni Englische<br />

Literatur studiert und 2010 abgeschlossen.“ Sechs<br />

Monate später brach der Krieg aus und er sollte<br />

Kriegsdienst leisten: „Ich konnte mich entscheiden:<br />

Assad, IS oder PKK. Aber ich kämpfe nicht. Mir blieb<br />

nichts übrig. Ich musste fliehen und meine Familie<br />

zurücklassen.“ Zuerst nach Kurdistan, in den Norden<br />

Iraks, dann nach einem halben Jahr weiter in<br />

die Türkei, alles illegal, alles zwischen den Fronten. Monate, Jahre<br />

vergingen. Überall war er U-Boot. Unbehaust. Lebte von der<br />

Hand in den Mund, hatte Gelegenheitsjobs und versuchte, so gut<br />

es ging, seine Eltern und sieben Geschwister zu unterstützen,<br />

die nach kurzer Flucht in die Türkei wieder nach Kobani zurückgekehrt<br />

waren, als die Kämpfe nachgelassen hatten. Sie kamen<br />

in eine Stadt zurück, die zu 80% zerstört war. Eine Geisterstadt,<br />

in der nur noch ein paar Tausend Menschen lebten.<br />

Für Sheikho war diese Tür geschlossen. Und blieb es. Es gab<br />

kein Zurück. Wohl aber den Traum einer Zukunft, der nach<br />

Jahren des Umherirrens im Niemandsland der Illegalität immer<br />

fordernder wurde. Und so beschloss er 2013, zusammen mit<br />

seinem Freund Fayad Mulla Khalil, nach Europa aufzubrechen.<br />

Nicht mit dem Boot von der Türkei nach Griechenland, das konnten<br />

sie sich nicht leisten, sondern über Libyen, wo der Platz auf<br />

einem Boot „nur“ 1.000 Euro kostet. Sie kratzten alles zusammen,<br />

was sie hatten und machten sich auf einen labyrinthischen<br />

Weg – zunächst ging es mit einem Flugzeug nach Algerien, das<br />

einzige Land, in das man als Syrer ohne Visum einreisen konnte.<br />

Von dort 4.000 km nach Süden zur nigerianischen Grenze.<br />

Durch die Wüste. „Kein Honiglecken“, wie Sheikho meint, „schon<br />

gar nicht mit meinem Freund, der infolge einer Kinderlähmung<br />

eine Fußprothese hat. Kaum zu essen, kaum zu trinken und immer<br />

mit der Gefahr, dass uns das algerische Militär aufgreift. So wurden<br />

wir „weitergeschleppt“. In Autos, Bussen und zu Fuß. Übergaben<br />

im Nirgendwo. Wir mussten vertrauen, wir hatten keine Wahl.<br />

Und als wir dann nach sieben Tagen endlich illegal über die Grenze<br />

nach Libyen kamen, völlig erschöpft, brach dort der Krieg aus.<br />

Wir blieben in der Nähe der Grenze, warteten ein, zwei Tage. In<br />

der Wüste. Dann ging es weiter, irgendwie.“ 4.000 km und weitere<br />

sechs Tage zurück in den Norden, bis nach Tripolis, wo sie in der<br />

Wohnung von Sheikho’s Bruder Unterschlupf fanden. Die Handy-<br />

Verbindung zu ihm war ihr Lebensnerv. Dort blieben sie eine<br />

Woche lang. Konnten nicht raus, weil rundherum geschossen<br />

wurde. Als es eines Morgens ruhig war, fuhren sie zur Küste,<br />

nach Suara, wo sie Platz auf einem Boot zu finden hofften. Und<br />

liefen prompt einer radikalislamischen Gruppe in die Hände.<br />

14 <strong>gangart</strong>

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