Europa rebelliert - Alte und neue Zeiten
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12 | H I N T E R G R U N D<br />
RONALD BERTHOLD<br />
Z<br />
ehntausend Tote jedes Jahr weltweit<br />
– nur damit unser Strom<br />
aus der Steckdose kommt?<br />
Nein danke – sofort aussteigen!<br />
Nimmt man die Debatte um die Atom-<br />
energie zum Maßstab, bliebe bei solchen<br />
Zahlen eigentlich nur das Abschalten –<br />
<strong>und</strong> zwar aller Kohle-Kraftwerke. Denn<br />
bei Grubenunglücken sterben jedes Jahr<br />
mindestens 10.000 Kumpel. „Auch der<br />
Transport <strong>und</strong> die Weiterverarbeitung<br />
der Kohle fordern Menschenleben“, ergänzt<br />
Robert Peter Gale. Der 65jährige<br />
Mediziner leitete das internationale Ärzteteam,<br />
das nach der Reaktorkatastrophe<br />
in Tschernobyl aktiv wurde.<br />
Mit seinen Zahlen rückt Gale, der seit<br />
Fukushima auch die japanische Regierung<br />
berät, die Hysterie bezüglich der<br />
Kernenergie in geordnete Relationen.<br />
Nein, der international anerkannte Spezialist<br />
für Strahlenkrankheiten relativiert<br />
nicht – er mahnt zur Besonnenheit.<br />
Denn die Angst vor der Strahlung stehe<br />
in keinerlei Bezug zu deren Gefährlichkeit.<br />
Dafür führt der Amerikaner<br />
Zahlen an, die in der aufgebrachten<br />
Stimmung in Deutschland fast niemand<br />
hören möchte.<br />
Viele Zahlen haben nichts<br />
mit der Wirklichkeit zu tun<br />
Bei der Reaktorkatastrophe von<br />
Tschernobyl kamen unmittelbar 31<br />
Menschen um. Nur 31 könnte man eigentlich<br />
sagen. Denn nimmt man die bis<br />
heute andauernde Panik r<strong>und</strong> um den<br />
GAU von vor 25 Jahren zum Indikator<br />
waren es gefühlte Tausende, wenn nicht<br />
Zehntausende, die ihr Leben ließen.<br />
Bleiben wir also bei den Relationen: 31<br />
Tote – beinahe jedes Flugzeugunglück<br />
fordert mehr Menschenleben.<br />
Selbstverständlich starben an den<br />
Folgen des Unglückes weit mehr Menschen,<br />
<strong>und</strong> dies soll auch keinesfalls<br />
verharmlost werden. Laut Gale werden<br />
„innerhalb von 50 Jahren nach<br />
der Explosion in Tschernobyl insgesamt<br />
2.000 bis 15.000 Menschen zusätzlich<br />
an Krebs sterben.“ Bis heute ist dagegen<br />
oft von angeblich 100.000 Toten im<br />
Zusammenhang mit Tschernobyl die<br />
Mahnung zur Besonnenheit<br />
Energie <strong>und</strong> Sicherheit: Der US-Strahlenexperte Robert Peter Gale rückt die weitverbreitete Panik bezüglich der Kernenergie in geordnete Relationen<br />
Die CDU <strong>und</strong> der Atomausstieg<br />
Geht es nach der CDU, dann gibt es<br />
für ein „beschleunigtes Ende“ der Nutzung<br />
der Kernenergie keine <strong>Alte</strong>rnative.<br />
Zwar habe man noch im Jahr 2007<br />
beschlossen, die Kernenergie als längerfristige<br />
„Brückentechnologie“ zu<br />
sehen. Die Reaktorkatastrophe im<br />
Hochtechnologieland Japan sei nun<br />
aber auch für die CDU „Anlaß“, über<br />
ihre Position zur Kernenergie „neu<br />
nachzudenken.“ Entsprechend präsentierte<br />
der CDU-B<strong>und</strong>esvorstand<br />
vergangene Woche sein Umstiegskonzept.<br />
Es trägt den Titel „Den Umstieg<br />
beschleunigen – Wegmarken in das<br />
Zeitalter der Er<strong>neue</strong>rbaren Energien“<br />
<strong>und</strong> soll als „Kompaß für den Aufbruch<br />
FOTO: PICTURE ALLIANCE / DPA<br />
Rede. Doch diese Zahl hat nichts mit<br />
der Wirklichkeit gemein.<br />
Bereits vor sechs Jahren ist sie endgültig<br />
ins Reich der Fabel verwiesen<br />
worden. Um endlich Klarheit über die<br />
tatsächliche Zahl der Opfer zu erreichen,<br />
trat im September 2005 das sogenannte<br />
Tschernobyl-Forum zusammen. Die Internationale<br />
Atomenergie-Organisation<br />
<strong>und</strong> zahlreiche andere Nichtregierungsorganisationen<br />
kamen nach eingehender<br />
Untersuchung zu dem Schluß, daß die<br />
auf die Katastrophe zurückzuführenden<br />
Todesfälle bei insgesamt 4.000 liegen.<br />
Nimmt man diese Zahlen, so sterben<br />
laut Gale 40 bis 300 Menschen pro Jahr<br />
an den Folgen der in der Ukraine freigesetzten<br />
Radioaktivität. Das Tschernobyl-<br />
Forum kommt auf 190 Tote jährlich <strong>und</strong><br />
liegt damit ziemlich genau in der Mitte.<br />
Dies ist eine erschreckende Zahl –<br />
aber sie ist nicht erschreckend hoch.<br />
Auch für diese nüchterne, aber keineswegs<br />
gefühlskalte Feststellung bedarf es<br />
noch einmal gewisser Einordnungen.<br />
Nehmen wir zum Beispiel die Zahl der<br />
Drogentoten – nur in Deutschland.<br />
Zwischen 2001 <strong>und</strong> 2010 starben laut<br />
B<strong>und</strong>eskriminalamt pro Jahr zwischen<br />
1.237 <strong>und</strong> 1.835 Menschen am Rauschgiftmißbrauch.<br />
Aber ausgerechnet viele<br />
jener politischen Aktivisten <strong>und</strong> auch<br />
jene Partei, die seit Jahrzehnten einen<br />
sofortigen Atomausstieg fordern, sind<br />
gleichzeitig für die teilweise oder völlige<br />
Freigabe bisher illegaler Drogen.<br />
Opfer des Kohlebergbaus<br />
werden nicht thematisiert<br />
Daß die Zahl der Rauschgifttoten<br />
durch eine Liberalisierung deutlich steigen<br />
würde, weil es mehr Konsumenten<br />
geben würde, ist unbestritten. Seit 2001<br />
sind also allein in Deutschland 14.243<br />
Menschen an den Folgen des Drogenkonsums<br />
gestorben. Dies sind 10.000<br />
mehr als über einen doppelt so langen<br />
Zeitraum – nämlich in den vergangenen<br />
25 Jahren – an den Folgen der Reaktorkatastrophe<br />
von Tschernobyl.<br />
Und im Kohlebergbau ließen seit<br />
Tschernobyl eine Viertelmillion Menschen<br />
ihr Leben. Man darf sich schon<br />
w<strong>und</strong>ern, daß diese Zahl – sie ist in Relation<br />
zu den 4.000 Kernenergietoten<br />
wahrlich erschreckend hoch – überhaupt<br />
nicht thematisiert wird, wenn es um Energiegewinnung<br />
aus Kohlekraftwerken<br />
geht. Im Vordergr<strong>und</strong> der Debatte stehen<br />
hier einerseits die Zahl der Arbeitsplätze,<br />
die der (Unter-)Tagebau sichert <strong>und</strong><br />
andererseits die Luftverschmutzung.<br />
Wer aber eine Diskussion um Energie<br />
<strong>und</strong> Sicherheit führt, der muß auch im<br />
Zusammenhang mit dem Bergbau von<br />
Toten <strong>und</strong> zum Teil menschenunwürdigen<br />
Arbeitsbedingungen reden.<br />
Doch das tut niemand. Denn mit<br />
einer unsichtbaren Strahlung läßt sich<br />
viel mehr Grusel verbreiten als mit einem<br />
Grubenunglück. Letzteres kann<br />
doch „nur“ die Bergleute treff en, nicht<br />
aber die junge Mutter, die in der Nähe<br />
eines Kernkraftwerkes wohnt. Es ist<br />
bemerkenswert, wie hier in moralisch<br />
wichtige <strong>und</strong> eher unbedeutende Tote<br />
unterschieden wird. Niemand würde<br />
auf die Straße gehen, um gegen Kohle<br />
zu demonstrieren, obwohl diese – statistisch<br />
betrachtet – 62mal mehr Tote<br />
fordert als die Atomkraft.<br />
Doch dies wird hingenommen wie<br />
ein Verkehrsunfall. Apropos: Laut Weltbank<br />
<strong>und</strong> Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation<br />
(WHO) sterben auf dem Globus jährlich<br />
etwa eine bis 1,2 Millionen Menschen<br />
an den Folgen von Unfällen im<br />
Straßenverkehr. 40 Millionen Menschen<br />
erleiden dabei Verletzungen. Fordert<br />
deshalb jemand den sofortigen Ausstieg<br />
aus dem Personenkraftverkehr?<br />
Bleiben wir weiterhin bei den Relationen:<br />
Die stinknormale Grippe raff t<br />
jeden Winter Tausende Deutsche dahin<br />
– die meisten 1995/1996. Da waren es<br />
31.000 Tote, die die Infl uenza zwischen<br />
Rhein <strong>und</strong> Oder forderte.<br />
All diese Zahlen sind kaum jemandem<br />
präsent, wenn er über die unerhörte<br />
Gefahr durch die friedliche Nutzung<br />
der Kernenergie spricht. Der Leiter des<br />
internationalen Ärzteteams von Tschernobyl,<br />
Robert Peter Gale, sagt nun sogar,<br />
daß umgekehrt „die Folgen der Strahlung<br />
für die menschliche Ges<strong>und</strong>heit<br />
weitaus weniger drastisch sind, als es bis<br />
heute fast alle glauben“.<br />
Der Onkologe hat für die Umgebung<br />
von Tschernobyl eine überraschende Erkenntnis<br />
gewonnen: „Es gab in den 25<br />
Jahren, die seit dem Unfall vergangen<br />
sind, keine überzeugend dokumentierte<br />
Zunahme von Leukämiefällen oder<br />
anderen Krebsarten.“<br />
Drohkulissen brechen<br />
in sich zusammen<br />
Gale, andere Mediziner <strong>und</strong> Wissenschaftler<br />
klammern das Risiko aber<br />
aufgr<strong>und</strong> der scheinbar beruhigenden<br />
Lage nicht aus. Sie greifen vielmehr auf<br />
die Daten zurück, die zeigen, wie sich<br />
das Krebsrisiko der Überlebenden von<br />
Hiroshima <strong>und</strong> Nagasaki entwickelt hat.<br />
Auf diese Weise errechnen sie das Ausmaß<br />
der Folgen einer Reaktorkatastrophe.<br />
Aber auch hier ist – wie eingangs<br />
dargestellt – die Zahl selbst über den<br />
Zeitraum von 50 Jahren deutlich geringer<br />
als man annehmen möchte <strong>und</strong> als<br />
unausgesprochen als Drohkulisse aufgebaut.<br />
Gale <strong>und</strong> andere Experten rücken<br />
diese Zahlen in eine weitere Relation,<br />
„da in diesem Zeitraum in der EU <strong>und</strong><br />
der ehemaligen Sowjetunion 80 Millionen<br />
Menschen ganz unabhängig von<br />
Tschernobyl an Krebs sterben werden“.<br />
Auch die Opferzahlen des Unglücks<br />
von Fukushima werden daher weit gerin-<br />
JUNGE FREIHEIT<br />
Nr. 21/11 | 20. Mai 2011<br />
Anti-Atomkraft-Demonstration in München (26. März 2011): Unter dem Motto „Fukushima mahnt: Atomkraft abschalten!“ off enbaren Zehntausende ihre Ängste vor der Kernenergie<br />
in ein <strong>neue</strong>s Energiezeitalter“ dienen.<br />
Die Wegmarken sind: Stärkung des Klimaschutzes<br />
durch Er<strong>neue</strong>rbare Energien,<br />
Effi zienzsteigerungen bei modernen<br />
Kohle- <strong>und</strong> Gaskraftwerken<br />
sowie der Ausbau zukunftsfähiger<br />
Netzinfrastruktur <strong>und</strong> Energiespeicher.<br />
Auch will man die Suche nach<br />
einem „sicheren Endlager“ vorantreiben.<br />
Eine Jahreszahl für den Ausstieg<br />
aus der Kernenergie wurde in dem Beschluß<br />
nicht genannt. Man wolle die<br />
Berichte der Reaktorsicherheits- <strong>und</strong><br />
Energie-Ethik kommission der B<strong>und</strong>esregierung<br />
abwarten. Letztere hält nach<br />
Medienberichten einen Atomausstieg<br />
bis zum Jahr 2021 für möglich.<br />
Unabhängige Zeitung mit klarem Profil<br />
„Die JUNGE FREIHEIT schätze ich als Zeitung mit klarem Profil.<br />
Die eigenständigen Analysen der JF basieren auf einem festen<br />
Wertef<strong>und</strong>ament <strong>und</strong> ergänzen dadurch die allgemeine<br />
Berichterstattung mit <strong>neue</strong>n Perspektiven <strong>und</strong> Themen.<br />
Für die Zukunft wünsche ich der JF deshalb vor allem den Erhalt<br />
ihrer Unabhängigkeit!“<br />
Norbert Geis<br />
B<strong>und</strong>estagsabgeordneter der CSU<br />
ger sein als deutsche Medien suggerieren.<br />
In Japan sei, so Gale „etwa ein Zehntel<br />
der Menge an Jod 131 <strong>und</strong> Cäsium 137,<br />
die in Tschernobyl ausgetreten ist, in die<br />
Umwelt gelangt, wobei sich diese Menge<br />
auf viel geringerem Raum verteilt“. Ein<br />
weiterer Unterschied zur Katastrophe in<br />
der Ukraine bestehe darin, daß es in Japan<br />
gelungen sei, den Verzehr von kontaminierter<br />
Milch <strong>und</strong> Milchprodukten<br />
zu unterbinden sowie Jodtabletten zu<br />
verteilen.<br />
Der Mediziner rechnet daher für die<br />
nächsten fünfzig Jahre mit 200 bis zu<br />
1.500 zusätzlichen Fällen von Leukämie<br />
<strong>und</strong> anderen Krebsarten. Dies wären<br />
vier bis dreißig Erkrankungen pro Jahr.<br />
Um das klar zu sagen: Jeder Einzelfall<br />
ist furchtbar, <strong>und</strong> hinter jedem Toten<br />
steckt eine Familie, die trauert. Aber<br />
in einer industrialisierten Gesellschaft<br />
bleibt das Risiko, an den Folgen einer<br />
Atomkatastrophe zu sterben, überdeutlich<br />
hinter vielen anderen Gefahren<br />
zurück.<br />
Im selben Zeitraum werden unabhängig<br />
von der Atomkatastrophe etwa<br />
18 Millionen Japaner an Krebs sterben,<br />
so Gale: „Das Risiko, das sich Fukushima<br />
zuschreiben läßt, wäre also kleiner<br />
als 0,1 Promille – deutlich unter dem<br />
Wahrnehmungshorizont epidemiologischer<br />
Studien.“<br />
Und daß es keine Energie ohne Risiko<br />
gibt, verdeutlichen auch die Zahlen im<br />
Zusammenhang mit Windkraft. Selbst<br />
durch die Nutzung dieser grünen Energie<br />
sind seit 1975 weltweit 22 Menschen<br />
gestorben.<br />
www.robertgalemd.com<br />
25 Jahre JUNGE FREIHEIT<br />
Dieses Jahr ist Jubiläumsjahr: Am 1. Juni 1986<br />
erschien in Freiburg im Breisgau die erste<br />
Ausgabe der JUNGEN FREIHEIT.<br />
Als Studentenblatt gegründet, hat sich die<br />
JF zu einer deutschlandweit beachteten<br />
Wochenzeitung mit Verlagssitz in Berlin<br />
entwickelt. In der JF finden sich Informationen,<br />
Perspektiven <strong>und</strong> Autoren, die andere<br />
Medien meistens ausblenden.<br />
Lesen, was Sache ist.