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Europa rebelliert - Alte und neue Zeiten

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24 | S E I N & Z E I T<br />

Der Flaneur<br />

Die Mutter<br />

im Zug<br />

Von Felix Springer<br />

ach längerer Abwesenheit<br />

Nträgt mich ein klappernder<br />

Regionalzug über rostige Schienen<br />

zurück nach Hause. In den<br />

Zwischentönen des schlingernd<br />

schluckenden Getuckers der Maschine<br />

offenbaren sich dem wachen<br />

Passagier die Symptome der<br />

Materialermüdung.<br />

Dem Schaffner, den man heute<br />

Zugbegleiter nennt, scheint es<br />

ähnlich zu gehen – er spart sich<br />

den Kontrollgang <strong>und</strong> beschränkt<br />

seine Tätigkeit darauf, dem Lokomotivenbediener<br />

vor der Abfahrt<br />

entweder ein rotes oder ein grünes<br />

Signal zu geben, je nachdem,<br />

ob sich noch ein unachtsamer<br />

Mensch hinter der streng gezogenen<br />

Linie an der Bahnsteigkante<br />

befindet oder nicht.<br />

Das Abteil bietet sechs Sitzplätze,<br />

neu, aber bereits farblos gesessen.<br />

Mir gegenüber, mit dem Rükken<br />

zur Fahrtrichtung, sitzt eine<br />

Dame mittleren bis reifen <strong>Alte</strong>rs<br />

mit einem kleineren Kind. Das<br />

Kind heißt Malte. Malte quengelt<br />

herum <strong>und</strong> turnt leicht schnaufend<br />

zum Fenster. „Malte, nimmst<br />

du bitte mal deine Schuhe von<br />

dem Sitz?“ Malte beschäftigt sich<br />

ganz angestrengt mit dem Fenstergummi,<br />

die liebende Mutter gibt<br />

Ruhe <strong>und</strong> gräbt eine Tupperdose<br />

mit Karotten aus.<br />

„Strafe kennt dieses<br />

Kind nicht, denke ich<br />

<strong>und</strong> lenke meinen Blick<br />

aus dem Fenster.“<br />

Der Junge nimmt, ohne vom<br />

Fenster wegzutreten, die ihm angebotene<br />

Karotte <strong>und</strong> läßt sie auf<br />

den Boden fallen. „Malte, das ist<br />

zum Essen, mach das bitte nicht<br />

auf den Boden.“ Die Dame hebt<br />

die Karotte auf <strong>und</strong> wirft sie in das<br />

Müllfach. Malte legt eine Karotte<br />

auf den Sitz <strong>und</strong> hüpft drauf.<br />

„Malte, wann nimmst du denn<br />

bitte die Schuhe runter?“ Die Mutter<br />

macht ein bißchen sauber <strong>und</strong><br />

bemerkt meinen vorsichtig fragenden<br />

Blick nicht.<br />

Strafe kennt dieses Kind nicht,<br />

denke ich <strong>und</strong> lenke meinen Blick<br />

aus dem milchigen Fenster. Am<br />

Nebengleis fällt mir auf: Nur ganz<br />

oben auf der Schiene, da, wo der<br />

Stahl regelmäßig für Abrieb sorgt,<br />

ist das Metall blank <strong>und</strong> rein, nur<br />

dort kann sich die Sonne spiegeln.<br />

Man muß sein<br />

Brot mit dem Messer<br />

schneiden, das<br />

einem das Schicksal,<br />

ob stumpf oder<br />

scharf, dazu in die<br />

Hand gibt.<br />

Wilhelm Raabe<br />

(1831–1910)<br />

JA, ich abonniere die JF.<br />

CHRISTIAN SCHWIESSELMANN<br />

D<br />

Die JUNGE FREIHEIT kostet mich im Normal-Abo € 40,50 im Vierteljahr.<br />

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Oder im Netz: www.jungefreiheit.de<br />

�<br />

Datum Unterschrift<br />

Spur der Steine<br />

Das Berliner Schloß wächst: vorerst als Modell /<br />

Ab Juni meißeln die Steinmetze in der Bauhütte<br />

as Berliner Stadtschloß ist im<br />

Bau. Vorerst besteht es aus<br />

300.000 Legosteinen <strong>und</strong> ist<br />

mit zwei Metern Breite, drei Metern<br />

Länge <strong>und</strong> 1,50 Metern Höhe um das<br />

60fache verkleinert. Wofür der Modellbauer<br />

Pascal Lenhard im Berliner<br />

Legoland am Potsdamer Platz mehrere<br />

Monate braucht, könnte in der Realität<br />

wohl noch Jahre dauern. Der Beschluß<br />

der B<strong>und</strong>esregierung, wegen der<br />

Eurokrise den Baubeginn auf 2014 zu<br />

verschieben, dämpfte die Euphorie der<br />

Schloßbefürworter.<br />

Davon unbeeindruckt zeigt sich<br />

der Hamburger Förderverein Berliner<br />

Schloß e. V.: „Wir sind im Kostenplan.<br />

Wir bleiben im Zeitplan“, beruhigt der<br />

Geschäftsführer Wilhelm von Boddien<br />

in einem Schreiben seine Spender. Gemeinsam<br />

mit dem Vereinsvorsitzenden<br />

Richard Schröder trommelt der gebürtige<br />

Pommer aus einem mecklenburgischen<br />

Adelsgeschlecht für den Wiederaufbau<br />

des Hohenzollernschlosses. Sein<br />

Ziel ist es, die historischen Fassaden der<br />

Hauptresidenz der Preußen-Dynastie<br />

schon 2017 fertigzustellen.<br />

Größte Hoffnungen setzt Boddien<br />

in seinen Chefbildhauer Matthias Körner.<br />

Dieser modelliert in seinem Atelier<br />

im Berliner Bezirk Wedding viele<br />

Einzelobjekte der Schloßfassade – von<br />

Zierelementen wie Girlanden, Wappenschildern<br />

<strong>und</strong> Widderköpfen bis hin zu<br />

Kolossalfiguren wie der Borussia. Der<br />

Künstler, der schon zu DDR-<strong>Zeiten</strong> an<br />

den Rekonstruktionen Ost-Berlins beteiligt<br />

war, möchte die Geschichte zum<br />

Sprechen bringen: „Man muß sehr präzise<br />

auf die untergegangene Welt, ihre<br />

Formen <strong>und</strong> ihren Stil eingehen. Ich<br />

möchte schon, daß in den mehreren<br />

tausend Objekten, die am Ende fertig<br />

sein müssen, der Geist der alten Zeit zu<br />

sehen <strong>und</strong> zu spüren ist“, erklärte er in<br />

TILMANN WIESNER<br />

er Stammbaum ist gefällt, die<br />

DAhnenreihe durchbrochen.<br />

Pünktlich zum Tag der Monarchie<br />

in Ungarn legte der rumänische Ex-<br />

König Michael I. die Axt an<br />

die Wurzeln seiner deutschen<br />

Herkunft. Beginnend mit<br />

dem 10. Mai 2011 werde<br />

das rumänische Königshaus,<br />

so erklärte der 89jährige, die<br />

dynastischen Verbindungen<br />

zum Haus Hohenzollern<br />

abbrechen <strong>und</strong> nur noch<br />

als „Königshaus Rumänien“<br />

auftreten. Das Kommuniqué<br />

verfaßte der Chef des Hauses,<br />

der als Fünfjähriger erstmals<br />

FOTO: WIKIMEDIA; FOTOSTUDIO LENINGER<br />

Michael I. von<br />

Rumänien<br />

einem Interview mit der Epoch Times<br />

Deutschland.<br />

Der Preußenstuck des 1443 von Kurfürst<br />

Friedrich II. errichteten Bauwerkes<br />

war vom italienischen Barock inspiriert.<br />

Andreas Schlüter hatte die römischen<br />

Paläste seiner Zeit vor Augen, als er<br />

1699 damit begann, das alte Renaissanceschloß<br />

der Hohenzollernfürsten<br />

umzugestalten. Zuvor hatte der Schloßbaumeister<br />

das Zeughaus im gleichen<br />

Stile vollendet. Seine heutigen Nachfolger<br />

können dadurch im wörtlichen<br />

Sinne Maß nehmen.<br />

Die U-Bahnlinie 5 könnte<br />

einen Bauschub bringen<br />

Was Körner zunächst in Ton formt<br />

<strong>und</strong> dann in Gips gießt, das müssen die<br />

Steinmetze später eins zu eins in Sandstein<br />

hauen. Der Zeitplan dafür ist eng.<br />

Bereits im Juni 2011 soll eine Bauhütte<br />

in Spandau erste Fassadenteile restaurieren.<br />

Wilhelm von Boddien verspricht<br />

sich einen Schub vom Ausbau der Berliner<br />

U-Bahnlinie U5: „Schloßf<strong>und</strong>amente<br />

<strong>und</strong> der Tunnelbau dafür müssen<br />

synchron gebaut werden, sonst drohen<br />

Mehrkosten allein im F<strong>und</strong>amentbereich<br />

von 30 Millionen.“<br />

Um die W<strong>und</strong>e im Berliner Stadtzentrum<br />

zu schließen, die der SED-Staat<br />

bei der Sprengung des Schlosses 1950<br />

geschlagen hatte, müssen freilich mehr<br />

als die vom Förderverein avisierten 80<br />

Millionen Euro für die Wiederherstellung<br />

der historischen Fassaden aufgetrieben<br />

werden. Das B<strong>und</strong>esbauministerium<br />

geht von mehr als einer halben Milliarde<br />

Euro aus, die das geplante Humboldtforum<br />

kosten wird.<br />

Wem das zuviel Geld ist, der kann das<br />

Schloß auch günstiger haben. Die Gesellschaft<br />

Berliner Schloß e. V. bietet im<br />

Internet einen Bastelbogen an, der nur<br />

20 Euro kostet. Fünf Euro davon kommen<br />

direkt dem Wiederaufbau zugute.<br />

www.historisches-stadtschloss.de<br />

Haltungsnote<br />

Entwurzelt<br />

den rumänischen Thron bestieg, „eingedenk<br />

des Wunsches unseres geliebten<br />

Großvaters, König Ferdinand I. von<br />

Rumänien, der Dynastie <strong>und</strong> dem<br />

Königshaus Rumäniens einen nationalen<br />

<strong>und</strong> unabhängigen Charakter<br />

zu verleihen“.<br />

Wie die deutsch-rumänische<br />

Internetplattform<br />

www.punkto.ro berichtete,<br />

glaubte sich Ferdinand –<br />

Sohn des Fürsten Leopold<br />

von Hohenzollern-Sigmaringen<br />

– bereits 1921 von<br />

seinem abgedankten deutschen<br />

Stammhaus distanzieren<br />

zu müssen, zumal<br />

sich das Deutsche Kaiserreich<br />

<strong>und</strong> das Königreich<br />

Rumänien im Ersten Welt-<br />

FOTO: PRIVAT<br />

krieg an der Front gegenüberstanden.<br />

Was Michael I. bewogen haben<br />

könnte, den Wunsch seines Großvaters<br />

mit 90jähriger Verzögerung zu<br />

verwirklichen, bleibt rätselhaft. Eine<br />

Wiederbelebung der Monarchie hat<br />

Umfragen zufolge keine Chance. Das<br />

Bekenntnis zur rumänischen Nation<br />

könnte auch den politischen Ambitionen<br />

seiner Tochter Margareta oder<br />

ihres Ehemannes Radu Duda geschuldet<br />

sein, mutmaßte die Süddeutsche<br />

Zeitung. Von einem greisen König hätte<br />

man mehr Lebensklugheit erwartet.<br />

Schon 1944 hatte er seine Herrschaft<br />

durch den Bruch mit den Diktatoren<br />

Antonescu <strong>und</strong> Hitler zu verlängern<br />

versucht. Vergeblich: 1947 schickten<br />

ihn die Kommunisten für 45 Jahre ins<br />

Schweizer Exil.<br />

Perspektiven zum Schlucken<br />

MATTHIAS BÄKERMANN<br />

as als Mai-Scherz aufgestellte<br />

DSchild im Weinstädter Ortsteil<br />

Strümpfelbach sei eine „geschmacklose<br />

rassistische Parole gegen eine Minderheit<br />

der Menschen in unserer Stadt“,<br />

empört sich der SPD-Stadtrat <strong>und</strong> Vorsitzende<br />

des Ausländerbeirats, Michele<br />

Genco, in der Waiblinger Kreiszeitung.<br />

Unbekannte hatten zum 1. Mai vor<br />

dem leerstehenden Gasthof „Traube“<br />

in der schwäbischen Kommune auf einem<br />

großen Plakat angekündigt: „Hier<br />

entsteht in Kürze auf 2000 m2 das<br />

muslimische Kulturzentrum ÜZÜM.<br />

Fertigstellung Oktober 2011.“ Weil<br />

diese „Bauankündigung“ neben Gebeträumen<br />

<strong>und</strong> Döner-Imbiß auch<br />

Aufgeschnappt<br />

JUNGE FREIHEIT<br />

Nr. 21/11 | 20. Mai 2011<br />

Im Atelier: Dieses Bukranion (Stierschädel) soll in den Fensterverdachungen der Fassade verbaut werden<br />

einen „Fliegender Teppich-Verleih“<br />

<strong>und</strong> „Eselsparkplätze“ aufzählte, habe<br />

ein „in seiner Ehre gekränkter Türke“<br />

daraufhin im Rathaus von Weinstadt<br />

die „zügige Entfernung“ angemahnt,<br />

berichtet das Blatt. Die örtliche Polizei<br />

sah wegen „nicht erfüllter Kriterien der<br />

Volksverhetzung“ leider keinen Handlungsbedarf.<br />

Oberbürgermeister Jürgen<br />

Oswald (CDU) hat sofort die Beseitigung<br />

des Corpus delicti, das bei vielen<br />

Strümpfelbachern „ein Schlucken<br />

verursacht“ habe, angeordnet <strong>und</strong> sich<br />

öffentlich distanziert: „Ich halte dies<br />

für eine nicht zu tolerierende Aktion.“<br />

Gesellschaftliche Veränderungen<br />

werden sich im Ort dennoch bald für<br />

jeden sichtbar widerspiegeln: Nach dem<br />

Abriß des Gasthofes im Sommer soll<br />

dort ein Seniorenstift entstehen.<br />

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