Europa rebelliert - Alte und neue Zeiten
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18 | F O R U M<br />
Bündnispfl icht oder<br />
Nibelungentreue:<br />
Die Kompaßnadel der<br />
Natoländer schwankte<br />
im Einsatz gegen<br />
das Gaddafi -Regime<br />
zwischen Isolation<br />
<strong>und</strong> Intervention<br />
Die Militärintervention<br />
der Nato im libyschen<br />
Bürgerkrieg<br />
brachte den Aufständischen<br />
keine schnelle<br />
Entscheidung. Wer sie<br />
erwartete, irrte doppelt: Denn Gaddafi<br />
war in der Lage <strong>und</strong> entschlossen, sich<br />
zu wehren. Und die Intervention folgte<br />
Resolution 1973 des Uno-Sicherheitsrats,<br />
die den Schutz der Zivilbevölkerung<br />
verbessern, aber nicht den Krieg<br />
entscheiden sollte.<br />
Die B<strong>und</strong>esregierung hielt die Freigabe<br />
militärischer Zwangsmaßnahmen<br />
nach Kapitel VII der Uno-Charta von<br />
Anfang an für „unausgegoren“ <strong>und</strong> versagte<br />
der Resolution zusammen mit vier<br />
weiteren Ratsmitgliedern ihre Zustimmung.<br />
Danach hieß es in politischen<br />
Kommentaren, Deutschland habe im<br />
Sicherheitsrat mangelnde Solidarität mit<br />
den Verbündeten bewiesen; mit der Entscheidung,<br />
keine deutschen Streitkräfte<br />
für den Libyen-Einsatz zur Verfügung<br />
zu stellen, sei es in der Nato isoliert. Das<br />
erinnert an frühere sicherheitspolitische<br />
Debatten über deutsche „Sonderwege“.<br />
Eine historische Rückblende hilft, die<br />
Frage der Isolierung abseits der Tagespolitik<br />
zu beurteilen.<br />
Frankreich, treibende Kraft im Fall<br />
Libyen, ist ein Muster für Selbstisolierung.<br />
Als 1966 die Nato-Strategie der<br />
„massiven Vergeltung“ von der Konzeption<br />
der „fl exiblen Erwiderung“ <strong>und</strong><br />
„Vorneverteidigung“ abgelöst wurde,<br />
machte Präsident Charles de Gaulle<br />
nicht mit. Vor allem weil eine Verteidigung<br />
am Eisernen Vorhang, die französische<br />
Truppen sofort einbezieht, seinem<br />
verteidigungspolitischen Konzept<br />
widersprach: Die französische Regierung<br />
sollte in einer Ost-West-Krise unabhängig<br />
handeln können.<br />
Frankreich zog sich also aus der alliierten<br />
Kommandostruktur <strong>und</strong> Verteidigungsplanung<br />
zurück, verjagte die<br />
Nato aus Fontainebleau <strong>und</strong> zog die<br />
in Deutschland stationierten Truppen<br />
ab. Für den Westen behielt Frankreichs<br />
Atommacht aber ihren hohen Wert, weil<br />
sie im Abschreckungskalkül der Sowjetunion<br />
nicht berechenbar war. Mit der<br />
Rückkehr Frankreichs in die militärische<br />
Organisation erreichte Präsident Nicolas<br />
Sarkozy 2009 die volle Mitwirkung<br />
im internationalen Krisenmanagement<br />
der Nato.<br />
Die Mäander der deutschen Sicherheitspolitik<br />
waren weniger drastisch,<br />
nähren aber heute noch Zweifel an Zuverlässigkeit<br />
<strong>und</strong> Zielsetzung Deutschlands.<br />
Als in den 1970er Jahren die<br />
Verhandlungen über Mutual Balanced<br />
Force Reductions (MBFR) festfuhren,<br />
wollte B<strong>und</strong>eskanzler Helmut Schmidt<br />
(SPD) Zugeständnisse an die Sowjetunion<br />
machen. Außenminister Hans-Diet-<br />
Deutschland <strong>und</strong> der Libyenkrieg<br />
In der Nato-Falle<br />
Von Michael Vollstedt<br />
rich Genscher (FDP) blockierte, weil er<br />
Nachteile für den sicherheitspolitischen<br />
Status Deutschlands voraussah. Unter<br />
Schmidt <strong>und</strong> dessen Nachfolger Helmut<br />
Kohl (CDU) trug er den Nato-Doppelbeschluß<br />
zu den atomaren Mittelstrekkenwaff<br />
en mit. Daneben entwickelte er<br />
jedoch eine Sicherheitspolitik – verspottet<br />
als „Genscherism“ –, die bewaff neten<br />
Konfl ikten durch ein System internationaler<br />
Organisationen <strong>und</strong> Abkommen<br />
vorbeugen sollte.<br />
Deutschland hat sich<br />
mit seiner Entscheidung,<br />
keine deutschen<br />
Streitkräfte für den<br />
Libyen-Einsatz zur Verfügung<br />
zu stellen, nicht<br />
isoliert. Anders als die<br />
Franzosen gehen die<br />
Deutschen keinen Sonderweg.<br />
Der Einsatz<br />
zeigt aber: Die Nato<br />
muß sich er<strong>neue</strong>rn.<br />
Folglich stemmte sich die FDP in<br />
der Regierung gegen Auslandseinsätze<br />
der B<strong>und</strong>eswehr, deren Zulässigkeit sie<br />
vom B<strong>und</strong>esverfassungsgericht klären<br />
ließ. Dabei ist das von Internationalität<br />
geprägte Gr<strong>und</strong>gesetz unmißverständlich;<br />
Artikel 24 läßt sogar die Abtretung<br />
von Hoheitsrechten zu. Mit dem Karlsruher<br />
Urteil von 1994 endete der deutsche<br />
Sonderweg. Fortan war es Konsens,<br />
Waff eneinsätze der B<strong>und</strong>eswehr, außer<br />
im Verteidigungs- <strong>und</strong> Bündnisfall, nur<br />
unter einem Uno-Mandat zuzulassen.<br />
Der Einsatz im Kosovokrieg erfolgte<br />
ohne Uno-Mandat.<br />
Was Bündnissolidarität aus Nato-<br />
Sicht bedeutet, erklärt sich zunächst<br />
aus der Konstruktion des Nordatlantikvertrages.<br />
Der Artikel 5 defi niert den<br />
Bündnisfall, enthält aber keine automatische<br />
Beistandsklausel; die Verfassung<br />
der USA läßt sie nicht zu. Die Nato-<br />
Staaten regeln im Bündnisfall ihren Beitrag<br />
selbst, sind aber zu abgestimmten<br />
Streitkräfteplanungen <strong>und</strong> gemeinsamen<br />
Verteidigungsvorbereitungen verpfl<br />
ichtet. Die Unterstellung von Kampftruppen<br />
unter Nato-Kommando erfolgt<br />
konditioniert, abhängig von Rechtslage<br />
<strong>und</strong> Sicherheitspolitik des jeweiligen<br />
Staates. Angesichts des gewaltigen Militärpotentials<br />
im Warschauer Pakt richteten<br />
die Bündnispartner ihre Beiträge<br />
zur gemeinsamen Verteidigung jedoch<br />
immer darauf aus, einer „großangelegten<br />
Aggression“ begegnen zu können.<br />
Dabei stärkte das vertraglich festgelegte<br />
Einstimmigkeitsprinzip den Ver-<br />
teidigungswillen der Allianz. In der strategischen<br />
Lage heute schlagen vermehrt<br />
nationale Sichtweisen <strong>und</strong> Interessen<br />
durch. Ihre Wurzeln reichen meist weit<br />
in die Vergangenheit <strong>und</strong> haben immer<br />
mit Innenpolitik zu tun. Manche Beobachter<br />
sehen dann den Zerfall des Bündnisses<br />
voraus, dem allerdings mehr gemeinsames<br />
Nachdenken, bevor nationale<br />
Entscheidungen fallen, nützen würde.<br />
Auch praktische Regelungen, die den<br />
Vertragskern nicht berühren, können<br />
helfen. Für die Soldaten in der Nato-<br />
Kommandostruktur <strong>und</strong> bei der Awacs-<br />
Flotte wäre ein internationaler Status<br />
wichtig, mit dem sie auf ihren Dienstposten<br />
verbleiben, auch wenn ihr Land<br />
sich nicht an einem Einsatz beteiligen<br />
will. Deutsches Personal wird in solchen<br />
Situationen nach dem Prinzip der „kausalen<br />
Affi nität“ neutralisiert oder abgezogen,<br />
was die Funktionsfähigkeit der<br />
Nato beeinträchtigt. Im Gr<strong>und</strong>e ist eine<br />
Modernisierung des Nordatlantikvertrags<br />
nötig, um die Möglichkeiten für<br />
„Koalitionen der Willigen“, falls also die<br />
Nato nicht als Ganzes handeln will, zu<br />
kodifi zieren.<br />
Diese Schlaglichter auf nationale <strong>und</strong><br />
alliierte Sicherheitspolitik zeigen, daß<br />
Deutschland sich mit einer einzelnen<br />
Absage im Bündnis nicht isoliert. Dagegen<br />
würden Sonderwege, die ein Muster<br />
der Absonderung erkennen lassen,<br />
dem Bündnis <strong>und</strong> unserem politischen<br />
Einfl uß schaden.<br />
Das ist gegenwärtig kein Th ema, zumal<br />
die meisten Nato-Staaten nicht am<br />
Kampfeinsatz in Libyen teilnehmen <strong>und</strong><br />
Deutschland mit Nachdruck harte Sanktionen<br />
gegen das Gaddafi -Regime unterstützt.<br />
Deshalb ist es auch die weitaus<br />
wichtigere Frage, auf welchen gemeinsamen<br />
Prinzipien die Sanktionen, an<br />
denen Deutschland beteiligt ist, <strong>und</strong> das<br />
militärische Vorgehen der Nato gegen<br />
Libyen beruhen.<br />
Die B<strong>und</strong>esregierung hat zusammen<br />
mit anderen Regierungen erklärt, Gaddafi<br />
sei wegen des brutalen Vorgehens<br />
gegen die libysche Protestbewegung<br />
nicht mehr zur Führung des Landes legitimiert<br />
<strong>und</strong> müsse zurücktreten. Dem<br />
liegen Vorstellungen über Humanität<br />
<strong>und</strong> Freiheitsrechte zugr<strong>und</strong>e, die schon<br />
in der Uno-Charta von 1945 angesprochen<br />
werden, aber ohne Vorschriften zur<br />
innerstaatlichen Ordnung zu machen.<br />
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte<br />
von 1948 beschreibt ein<br />
Ideal, das gemeinsam erreicht werden<br />
soll, enthält aber keinen konkreten Plan.<br />
Die Uno ist also nicht als Weltregierung<br />
organisiert, für die der Fall Libyen<br />
Teil einer Weltinnenpolitik wäre. Auch<br />
Artikel 2 <strong>und</strong> Kapitel VII der Charta, die<br />
den sicherheitspolitischen Handlungsspielraum<br />
der Uno abstecken, folgen<br />
dem Prinzip der Zwischenstaatlichkeit.<br />
Aber der Westen tut sich schwer, bei<br />
Entwicklungen wie in Libyen allein auf<br />
nichtmilitärische Sanktionen <strong>und</strong> internationale<br />
Gerichtsbarkeit zu setzen;<br />
deshalb sollte Resolution 1973 der Zivilbevölkerung<br />
stärkeren Schutz geben.<br />
Nach der Uno-Charta war dazu eine Bedrohung<br />
von Weltfrieden oder internationaler<br />
Sicherheit anzunehmen – im<br />
Fall Libyen ein gewagtes, folgerichtig<br />
aber auf beide Konfl iktparteien anzuwendendes<br />
Konstrukt: Die Spirale der<br />
Gewalt läßt in diesem Bürgerkrieg eine<br />
generelle Trennung nach Opfern <strong>und</strong><br />
Tätern nicht mehr zu.<br />
Die Interventionsmächte<br />
haben die<br />
Uno-Resolution<br />
unterlaufen, durch<br />
Propaganda, einseitige<br />
Auslegung des Embargos<br />
<strong>und</strong> Entsendung<br />
von Militärberatern.<br />
Sie verbiegen das<br />
Völkerrecht <strong>und</strong> ziehen<br />
die Nato hinein. Auch<br />
Deutschland.<br />
Zum Beispiel Misrata: Die Behauptung<br />
von US-Außenministerin Hillary<br />
Clinton, die Gaddafi -Truppen hätten<br />
dort menschliche Schutzschilde für ihr<br />
Vorrücken mißbraucht, ist einäugig.<br />
Die unterschiedslose Beschießung von<br />
Kämpfern <strong>und</strong> Zivilisten war zwar ein<br />
Kriegsverbrechen der Belagerer. Aber die<br />
Aufständischen kämpften aus der Mitte<br />
der Bevölkerung, zogen sie in Mitleidenschaft<br />
<strong>und</strong> verstießen selbst gegen<br />
humanitäres Recht.<br />
Und als US-Senator John McCain<br />
öff entlich forderte, den Aufständischen<br />
die erbetenen Waff en zu liefern, hatten<br />
Gaddafi s Truppen Gr<strong>und</strong> genug, den<br />
von den Verteidigern kontrollierten Hafen<br />
zu beschießen. Der Schutz der auf<br />
ihre Ausschiff ung wartenden Gastarbeiter<br />
oblag somit den Aufständischen. Eine<br />
Parteinahme nach dem Muster „gut<br />
oder böse“ ist sicherheitspolitisch immer<br />
unsolide <strong>und</strong> wäre auch hier unklug.<br />
In Libyen handelt es sich um einen<br />
Volksaufstand, den die zuvor international<br />
anerkannte Regierung niederschlagen<br />
will. Die schon bald eingetretene<br />
humanitäre Katastrophe ist als vorhersehbare<br />
Kriegsfolge zum größten Teil<br />
beiden Seiten, Regime <strong>und</strong> Aufständischen,<br />
zuzurechnen. Die von Resolution<br />
1973 bezweckte Schutzwirkung ließ sich<br />
daher schwer kalkulieren. Sie mußte denen<br />
gelten, die sich nicht am Aufstand<br />
oder seiner Niederschlagung beteiligen,<br />
FOTO: FOTOLIA; JF-MONTAGE<br />
aber trotzdem beschossen, mißhandelt<br />
<strong>und</strong> vertrieben werden.<br />
Das war in der Anfangsphase des Aufstands<br />
einfacher als mitten im Bürgerkrieg.<br />
Nachdem der Uno-Sicherheitsrat<br />
die Verwendung von Bodentruppen<br />
ausgeschlossen hatte, ermöglichte sein<br />
Mandat nur den Einsatz von Luftkriegsmitteln<br />
<strong>und</strong> zwar hauptsächlich gegen<br />
Gaddafi s Luftwaff e <strong>und</strong> deren Fähigkeit<br />
zur Bombardierung von Städten sowie<br />
gegen die schweren Waff en von Bodentruppen,<br />
mit denen rücksichtslos auf<br />
Wohnviertel geschossen wird.<br />
Die Nato-Führung wollte die von<br />
Resolution 1973 gezogenen Grenzen<br />
einhalten, wobei sie über kein ganz zuverlässiges<br />
Lagebild verfügte – so war ihr<br />
anfangs entgangen, daß auch die Aufständischen<br />
über einige schwere Waffen<br />
verfügten. Mit einer präzisen Umsetzung<br />
der Uno-Vorgaben<br />
hätte sie dazu beigetragen,<br />
die humanitären Standards<br />
in der Völkergemeinschaft<br />
zu stärken: Kosovo <strong>und</strong> Libyen<br />
wären eine Warnung,<br />
daß keiner Regierung absolute<br />
Macht über das Volk<br />
zusteht <strong>und</strong> das Ideal der<br />
Menschenrechte mehr als<br />
bisher zum politischen<br />
Maßstab werden soll.<br />
Die USA, Frankreich,<br />
Großbritannien <strong>und</strong> Italien<br />
haben die Resolution<br />
unterlaufen, durch Propaganda,<br />
einseitige Auslegung<br />
des Waff enembargos <strong>und</strong><br />
Entsendung von „Militärberatern“<br />
zu den Aufständischen;<br />
besonders schwer<br />
wiegen die Kampfeinsätze<br />
ohne Bezug zum Schutz<br />
der Bevölkerung, der Angriff<br />
auf das Haus mit Sohn<br />
<strong>und</strong> Enkeln Gaddafi s eingeschlossen.<br />
Die USA <strong>und</strong><br />
Großbritannien zeigten off en, daß sie<br />
den Aufständischen militärisch zum Erfolg<br />
verhelfen wollten.<br />
In der arabischen Welt muß dies als<br />
Bruch der Resolution 1973 <strong>und</strong> Beweis<br />
für westliche Hegemonialpolitik empf<strong>und</strong>en<br />
werden. Dafür sind zuerst die<br />
Interventionsmächte verantwortlich,<br />
aber sie ziehen die ganze Nato hinein.<br />
Im Uno-Sicherheitsrat ist Mißtrauen gewachsen,<br />
inwieweit nichterklärte nationale<br />
Interessen die Libyen-Intervention<br />
befeuerten.<br />
Zu Syrien, das für den Westen kritischer<br />
ist als Libyen, kommt schon keine<br />
Uno-Resolution mehr zustande. Sanktionen<br />
wurden daher von der EU beschlossen<br />
– völkerrechtskonform? Man<br />
kann nicht beides haben: Die Vorteile<br />
des Völkerrechts <strong>und</strong> die Privilegien des<br />
realpolitisch Stärkeren.<br />
JUNGE FREIHEIT<br />
Nr. 21/11 | 20. Mai 2011<br />
Michael Vollstedt,<br />
Generalmajor a. D.,<br />
Jahrgang 1943, war<br />
Kommandeur der<br />
2. Luftwaff endivision,<br />
diente im B<strong>und</strong>esministerium<br />
der<br />
Verteidigung <strong>und</strong><br />
bis 2000 im Nato-<br />
Hauptquartier in<br />
Brüssel. Er ist Mitglied<br />
der Mölders-<br />
Vereinigung.