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Europa rebelliert - Alte und neue Zeiten

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16 | K U L T U R<br />

Subtile<br />

Bombe<br />

Hörbuch: Kurt Tucholskys<br />

„New Journalism“<br />

HARALD HARZHEIM<br />

ie Hörbuch-Edition Apollon<br />

Dfiel bislang durch originelle<br />

Ausgrabungen auf: Manfred Hausmann,<br />

Walter Rheiner, die frühe<br />

„Kosaken“-Novelle von Tolstoi<br />

– sie alle kamen hier zu <strong>neue</strong>m<br />

Leben. Aber Kurt Tucholsky?<br />

Was läßt sich da noch „ausgraben“?<br />

Seine Gedichte, Chansons,<br />

Satiren <strong>und</strong> Novellen fehlen in<br />

keiner Anthologie, bei keinem<br />

Nostalgie-Abend, Tucholsky ist<br />

fester Bestandtteil der modernen<br />

Zitatkultur, seine Romane werden<br />

weiterhin verfilmt. Also, was gibt’s<br />

da noch an Unbekanntem?<br />

Nun, wer „New Journalism“ für<br />

eine amerikanische Erfindung der<br />

Sechziger hält, kreiert von Autoren<br />

wie Tom Wolfe, die schräge Reportagen<br />

mit literarischem Mehrwert<br />

servierten, der könnte Tucholsky<br />

jetzt als deren Vorläufer entdecken!<br />

Man lese (pardon: höre) nur dessen<br />

Beobachtung zur Sklaverei des<br />

Telefonierens: Menschen, die man<br />

niemals zur Tür reinlassen würde,<br />

erhalten am Telefon absolute<br />

Priorität. Für jeden x-beliebigen<br />

Anrufer läßt man alles stehen <strong>und</strong><br />

liegen. Was im Zeitalter des totalen<br />

Handyterrors gesteigerte Aktualität<br />

besitzt.<br />

Zwischen Fiktion <strong>und</strong><br />

möglicher Wahrheit<br />

An anderer Stelle betrauert<br />

Tucholsky den Verlust eines Buches<br />

mit erotischen Illustrationen.<br />

Beim Umzug nach Paris sei es ihm<br />

gestohlen worden. Der Leser wird<br />

um Mithilfe ersucht, Finderlohn<br />

winkt: eine selten subtile Bombe<br />

ins Lager der Doppelmoralisten.<br />

Und selbst der spätere „Borderline-Journalismus“<br />

findet hier Antizipation,<br />

bei Gratwanderungen<br />

zwischen Fiktion <strong>und</strong> (möglicher)<br />

Wahrheit: Was tut beispielsweise<br />

ein Pfarrer, dem eine Frau 60.000<br />

Francs für eine Platzreservierung<br />

im Paradies anbietet?<br />

Surrealistisch wird’s im „Wassersanatorium“,<br />

in dem sich das<br />

Wasser entspannen kann! Erholen<br />

von all der symbolischen Aufladung,<br />

mit der Menschen es tagtäglich<br />

versehen. Nicht zu vergessen<br />

den Zornmonolog eines Mannes,<br />

den das Pech verfolgt, um das<br />

übermäßige Glück eines Mitmenschen<br />

kosmisch auszubalancieren.<br />

Regisseur Tom Blankenberg<br />

ist klug genug, Tucholskys Pointen<br />

nicht als Schenkelklopfer zu<br />

präsentieren. Seine Sprecher (Bodo<br />

Primus, Jochen Kolenda <strong>und</strong><br />

Kordula Leise) lesen beschwingt,<br />

ausdrucksstark, aber zwischen den<br />

Texthappen spielt ein melancholisches<br />

Piano. Und warum nicht?<br />

Der Alltag ist ja schließlich auch<br />

zum Heulen.<br />

CD: Kurt Tucholsky – Abends nach<br />

sechs, Laufzeit 69 Minuten, Beiheft,<br />

Edition Apollon, 2011, 14,99 Euro<br />

www-edition-apollon.com<br />

FOTO: WOLFRAM HUKE AT EN.WIKIPEDIA<br />

Jürgen Habermas (2008): Philosoph mit Orientierungsproblemen<br />

THORSTEN THALER<br />

in für Anfang nächster Woche ge-<br />

Eplanter Besuch der Präsidentin des<br />

B<strong>und</strong>es der Vertriebenen, Erika Steinbach<br />

(67), in der Seemannskirche des<br />

Heiligen Petrus in Gdingen (polnisch:<br />

Gdynia) an der Danziger Bucht sorgt<br />

für Wirbel. Wie die größte <strong>und</strong> einflußreiche<br />

polnische Tageszeitung Gazeta<br />

Wyborcza am Dienstag berichtete, will<br />

die Kirchenleitung die CDU-B<strong>und</strong>estagsabgeordnete<br />

nicht in das Gebäude<br />

lassen. Steinbach möchte in der Kirche<br />

Blumen vor einer deutsch-polnischen<br />

Gedenktafel niederlegen. Sie erinnert<br />

an die Opfer der untergegangenen „Wil-<br />

BJÖRN SCHUMACHER<br />

M<br />

einungsbildende Publizistik<br />

betreibt der Philosoph Jür-<br />

gen Habermas, ideologischer<br />

Ahnherr der 68er-Generation, mit Hilfe<br />

linksliberaler Vorzeigemedien. Lesenswert<br />

sind seine großen Essays allemal,<br />

auch wenn sie, wie in der Süddeutschen<br />

Zeitung vom 8. April dieses Jahres, groteske<br />

Fehleinschätzungen deutscher <strong>Europa</strong>politik<br />

<strong>und</strong> Widersprüche in den<br />

Gr<strong>und</strong>positionen des Philosophen offenbaren.<br />

So dichtet Habermas dem wiedervereinigten<br />

Deutschland eine „stärkere<br />

Selbstzentrierung“ sowie einen „unverhohlenen<br />

Führungsanspruch“ an <strong>und</strong><br />

beklagt das als Abkehr von einem „verpflichtenden<br />

historisch-moralischen Erbe“.<br />

Wer Helmut Kohls gebückten Weg<br />

in die Währungsunion <strong>und</strong> die Deformation<br />

der Eurozone in eine Transfergemeinschaft<br />

zu Lasten des Steuerbürgers<br />

verfolgt hat, staunt über einen solchen<br />

Realitätsverlust. Bemerkenswerterweise<br />

sind deutsche EU-Kritiker für Habermas<br />

„unverbesserliche Nationalisten“<br />

(Bosselmann, JF 17/11) − ein glatter<br />

Widerspruch; denn aus seiner Perspektive<br />

wandelt sich die EU zu einem Instrument<br />

deutscher Führungsgelüste.<br />

Der „Ideengeber zum Aufbau eines<br />

friedlichen <strong>und</strong> freien <strong>Europa</strong>s“,<br />

wie Habermas bei der Staatspreis-Verleihung<br />

des damals (2006) CDU-regierten<br />

Nordrhein-Westfalen gepriesen<br />

wurde, hat aber noch ein weiteres Orientierungsproblem.<br />

Protagonist der je<br />

nach Blickwinkel alt- oder neomarxistischen<br />

Frankfurter Schule, beteiligt<br />

er sich am klassischen linken Zweifrontenkrieg.<br />

Zum einen streitet Habermas<br />

wider den Kapitalismus <strong>und</strong> dessen nach<br />

linken Axiomen inhumanes Weltbild.<br />

Zum anderen bekämpft er ebenso selbstverständlich<br />

den Nationalismus (beziehunsgweise<br />

dasjenige, was Linke dafür<br />

halten), was im kollektivschuldgebeugten<br />

Deutschland auf eine dezidiert nationalstaatsskeptische<br />

Position hinausläuft.<br />

Folgerichtig gerät Habermas’ EU-<br />

Analyse in ein Dilemma, das Heino Bosselmann<br />

treffend beschreibt: „Erreichte<br />

die Wirtschaft das, was sie pragmatisch<br />

wollte, nämlich eine McDonaldisierung<br />

von Markt <strong>und</strong> Geld, kann die Linke<br />

im derzeitigen EU-<strong>Europa</strong> aber gerade<br />

nicht die Fleischwerdung ihrer demokratischen<br />

Heilsvorstellungen erkennen.“<br />

Antideutsche Reflexe<br />

Die Linke verabschiedet sich von der Demokratie:<br />

Eine Ergänzung zu Heino Bosselmanns Habermas-Replik<br />

Unerwünschte Person<br />

helm Gustloff“. Das Passagierschiff mit<br />

deutschen Flüchtlingen war im Januar<br />

1945 von einem sowjetischen U-Boot<br />

in der Ostee versenkt worden. Das Blatt<br />

zitiert einen Vertreter des Redemptoristen-Ordens<br />

mit den Worten, die Kirche<br />

diene dem Gebet <strong>und</strong> nicht politischen<br />

Angelegenheiten.<br />

Erika Steinbach will am Sonntag zu<br />

Die Fluchtwege aus dem Dilemma<br />

sind überschaubar: Habermas <strong>und</strong> die<br />

deutsche Linke müssen zwischen zwei<br />

vermeintlichen Übeln wählen. Entweder<br />

sie beharren auf ihrem antinationalen<br />

Kurs, dann kommen sie um einen Burgfrieden<br />

mit dem globalisierten Kapitalismus<br />

nicht herum. Oder sie bekämpfen<br />

weiter die Großbanken <strong>und</strong> -konzerne<br />

als Reich des Bösen, dann werden sie den<br />

Nationalstaat als unverzichtbaren Verbündeten<br />

entdecken <strong>und</strong> einer Art „linkem<br />

Nationalismus“ huldigen müssen.<br />

Linksliberale<br />

Verstellungskunst<br />

Eng verzahnt mit dieser Zwangslage<br />

schimmert bei Habermas ein weiterer,<br />

ebenso f<strong>und</strong>amentaler Widerspruch<br />

durch. Er betrifft sein Demokratieverständnis.<br />

Kaum einen zweiten Begriff<br />

verwendet Habermas mit so viel Pathos.<br />

In seinem SZ-Artikel wirft er der EU<br />

eine Dekonstruktion „jeder demokratischen<br />

Glaubwürdigkeit“ vor.<br />

Kaum ein zweiter Begriff wirkt bei<br />

ihm aber auch so deplaziert. Was meint<br />

Habermas überhaupt, wenn er Politiker<br />

beschwört, sich endlich „auf den Marktplätzen“<br />

den Bürgern zu stellen? Indem<br />

der linke Vordenker sich herkömmlichen<br />

staatsphilosophischen Konzepten<br />

von Volk <strong>und</strong> Nation verweigert, verfällt<br />

er notwendig einem inhaltsleeren<br />

Demokratiebegriff. Dieser mag, „wie<br />

der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel<br />

schön sein; schade nur (!), daß er kein<br />

Gehirn hat“ (Immanuel Kant über eine<br />

Naturrecht <strong>und</strong> Moral verdrängende,<br />

„bloß empirische Rechtslehre“). Ohne<br />

Demos gibt es keine Demokratie! Die<br />

Bewohner der EU-Staaten mögen sich<br />

in Wahlen oder Abstimmungen wie ein<br />

Volk verhalten <strong>und</strong> ein teures, kompe-<br />

ihrer Reise aufbrechen. Auf dem Programm<br />

stehen ein Besuch ihres Geburtsortes<br />

Rahmel (heute Rumia) in Westpreußen<br />

<strong>und</strong> ein Gespräch in Danzig<br />

mit Vertretern der deutschen Minderheit.<br />

„Für mich ist es die erste Reise in<br />

meinen Geburtsort, an den ich keine Erinnerung<br />

mehr habe“, sagte sie der Bild<br />

am Sonntag. Steinbach kam dort 1943<br />

JUNGE FREIHEIT<br />

Nr. 21/11 | 20. Mai 2011<br />

tenzarmes, höchst überflüssiges Placebo-<br />

Parlament in Straßburg leisten. Demos<br />

im Sinne einer Sprach-, Kultur-, Werte-<br />

oder Schicksalsgemeinschaft sind sie<br />

deshalb noch lange nicht.<br />

Habermas’ „selbstverschuldetes EU-<br />

Dilemma“ (Bosselmann) ist eine mittelbare<br />

Folge dieses Zwiespalts, weil antideutsche<br />

<strong>und</strong> antidemokratische Reflexe<br />

seinen Supranationalismus steuern.<br />

Solche Reflexe haben sich längst zum<br />

heimlichen Markenkern des neudeutschen<br />

Juste milieu entwickelt.<br />

Linke <strong>und</strong> Linksliberale brillieren<br />

mit atemberaubender Verstellungskunst<br />

− Mimikry nach dem Vorbild eines<br />

Chamäleons! Je lautstärker sie die<br />

„unverfrorene Entmündigung der Bürger“<br />

anprangern (Habermas), sich als<br />

Lordsiegelbewahrer der Demokratie <strong>und</strong><br />

der ihr F<strong>und</strong>ament bildenden Freiheitsrechte<br />

aufspielen − im Zweifel „gegen<br />

Rechts“ −, desto wütender bekämpfen<br />

sie das eigene Volk.<br />

Wohlwollende Kritiker mögen bei<br />

den Linken ein Engagement für Menschenrechte<br />

<strong>und</strong> das Rechtsstaatsprinzip<br />

entdecken <strong>und</strong> eine prägnante Vorrangregel<br />

des Rechtsphilosophen <strong>und</strong> ehemaligen<br />

SPD-Reichsjustizministers Gustav<br />

Radbruch zitieren: „Demokratie ist gewiß<br />

ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat<br />

ist aber wie das tägliche Brot, wie Wasser<br />

zum Trinken <strong>und</strong> wie Luft zum Atmen,<br />

<strong>und</strong> das Beste an der Demokratie gerade<br />

dieses, daß nur sie geeignet ist, den<br />

Rechtsstaat zu sichern.“<br />

Radbruchs Bekenntnis von 1946 galt<br />

indes dem Rechtsstaat als Hort elementarer<br />

Menschenrechte gegen staatlichen<br />

Totalitarismus. Mit der Klientelpolitik<br />

des deutschen Linksliberalismus hat das<br />

nur am Rande zu tun. Dessen von relativistischem<br />

Gleichheitskult geformte<br />

„Menschenrechte“ wollen Maximalinteressen<br />

ausgesuchter ethnischer, religiöser<br />

oder an ihren sexuellen Neigungen<br />

erkennbarer Minderheiten durchsetzen.<br />

„Menschenrechte“ fungieren hier nicht<br />

nur als Abwehrrechte gegen einen repressiven<br />

Staat, sie fordern vor allem massive<br />

Alimentierungen der betreffenden<br />

Minderheit. Resultat: Die staatstragende<br />

Mehrheitsgemeinschaft bürgerlicher<br />

Steuerzahler muß immer <strong>neue</strong> Pervertierungen<br />

ihrer Kulturwerte nicht nur<br />

erdulden, sondern obendrein auch noch<br />

unterstützen.<br />

Wie lange kann die deutsche Linke,<br />

kann der von ihr drangsalierte breite<br />

Mittelstand dieses Dilemma noch aushalten?<br />

Wirbel um Reise Erika Steinbachs an die Danziger Bucht: Polnische Kirchenleitung will eine geplante Kranzniederlegung für die Gustloff-Opfer verhindern<br />

Die deutsche Chance<br />

Thorsten Hinz hat seinem Erfolgsbuch „Die Psychologie der Niederlage“ ein <strong>neue</strong>s Schlußkapitel angefügt:<br />

Die Nation <strong>und</strong> <strong>Europa</strong>.<br />

Seine Kernbotschaft lautet: Deutschland kann sich international nur behaupten, wenn es auch die<br />

Selbstbehauptung <strong>Europa</strong>s zu seiner Sache macht. Das erfordert das Kunststück, Führungsverantwortung<br />

für den gesamten Kontinent zu übernehmen, ohne Hegemonialansprüche zu erheben.<br />

Die Deutschen dürfen nicht länger aus einem Schuldkomplex heraus Macht als amoralisch <strong>und</strong><br />

beängstigend empfi nden, sondern müssen sie als Möglichkeit für einen europäisch orientierten<br />

Pragmatismus begreifen; die anderen müssen einsehen, daß die kurzfristigen Vorteile, die ein schwaches<br />

Deutschland für sie verspricht, längerfristig zu ihrem Nachteil ausschlagen. Es liegt also im eigenen<br />

Interesse der europäischen Länder, Deutschland zu seinem moralischen Wiederaufbau zu ermuntern.<br />

Thorsten Hinz<br />

Die Psychologie der Niederlage<br />

Über die deutsche Mentalität<br />

jetzt mit 224 Seiten,<br />

geb<strong>und</strong>en mit SU <strong>und</strong> Lesebändchen<br />

EUR 19,80 / Best.-Nr. 90592<br />

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Zu bestellen unter: www.jf-buchdienst.de<br />

in der Familie eines deutschen Offiziers<br />

zur Welt. 1945 mußte die Mutter mit<br />

den zwei Kindern vor der Roten Armee<br />

fliehen. In Polen ist Erika Steinbach wegen<br />

des maßgeblich von ihr initiierten<br />

Zentrums gegen Vertreibungen seit Jahren<br />

sehr umstritten. Immer wieder sieht<br />

sie sich Angriffen <strong>und</strong> Verleumdungen<br />

ausgesetzt.<br />

Dritte, überarbeitete,<br />

erweiterte Neuaufl age

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