De:Bug 164
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jetzt schon überlege, dass 'MST' auch gleichzeitig das letzte<br />
Album von Acid Pauli ist. Dieses komplett Unbefangene<br />
gefällt mir. Genauso würde ich gerne mal ein Buch schreiben<br />
– einfach nur um es zum ersten und einzigen Mal zu<br />
machen." Ausprobieren. Abhaken. Weitermachen. Und zwar<br />
nicht, weil die Aufmerksamkeitspanne soweit verkürzt ist,<br />
dass man sich auf nichts mehr konzentrieren kann, sondern<br />
einfach um sich selbst immer und immer wieder mit Anlauf<br />
ins Ungewisse zu schmeißen und herauszufordern.<br />
Mein Hut hat viele Ecken<br />
Eklektizismus wollten sich schon viele auf die Fahnen<br />
schreiben und die Angst des Künstlers vor der Schublade<br />
ist nun mal hundertfach größer als die des Torwarts vor dem<br />
Elfmeter, aber für Gretschmann folgt die Unbeständigkeit seines<br />
musikalischen Outputs aus einer ganz anderen Tatsache.<br />
Achselzuckend verrät er mit leichtem Dialekt: "Irgendwann<br />
hat mir mal jemand gesagt: 'Is(ch)t doch klar! Du kommst aus<br />
den Bergen. Da geht es immer rauf und runter. <strong>De</strong>shalb ist<br />
dein Sound auch wechselhaft und nicht stringent, wie von<br />
jemandem, der aus <strong>De</strong>troit kommt, wo es immer geradeaus<br />
dahingeht." Die Musik als Produkt ihrer Umgebung – alter<br />
Hut! Aber irgendwie steht der "MST" ganz besonders gut.<br />
Die neun Stücke humpeln mal im HipHop-Tempo, schunkeln<br />
dann wieder im Walzer-Rhythmus, sind im einen Moment<br />
nur noch Sound-Collage mit Ambient-Einsprengseln und<br />
dann doch wieder klassischer House. Hoch und runter wie<br />
mit der Bimmelbahn durch die oberbayerische Heimat um<br />
Weilheim.<br />
A C I D<br />
P A U L I<br />
VOLKSMUSIKANT<br />
Martin Gretschmann ist ein Mann mit<br />
1.000 Gesichtern. Als Console, bei Notwist,<br />
in den Hörspielstudios dieser Welt und<br />
eben auch als Acid Pauli. <strong>De</strong>r Dancefloor, er<br />
steht Herrn Gretschmann vorbildlich. Jetzt<br />
definiert er uns auf Albumlänge die<br />
Volksmusik neu.<br />
TEXT PHILIPP LAIER<br />
Das Eröffnungsstück von "MST" versinnbildlicht in gewisser<br />
Weise sowohl Entstehungsgeschichte als auch<br />
Funktionsweise des <strong>De</strong>bütalbums von Acid Pauli. "Open" rollt<br />
die Tonleiter auf und ab und an dem abstrakten Gewirr aus<br />
Saitenzupfern (oder sind es am Ende doch Tastenschläge?)<br />
bleibt alles mögliche kleben: ein undefinierbares Schnalzen<br />
und Klicken, das Rascheln von Papierbögen, Schritte im<br />
Treppenhaus und hier und da eine scheinbar achtlos in den<br />
Song gestreute Bassdrum. An diesem schier unüberschaubaren<br />
Geäst aus Tönen und Geräuschen zeigt sich die kindliche<br />
Lust am Experiment – jenes ziellose Herumschrauben,<br />
Machen und Tun, das sich selbst genug ist. Im Kosmos des<br />
Ex-Weilheimers und Neu-Berliners Martin Gretschmann<br />
nimmt die Neugier eine zentrale Position ein: "Ich liebe<br />
es einfach Sachen zum ersten Mal zu machen. Das erste<br />
Album von irgendwas ist einfach grandios – es ist meistens<br />
auch das beste. Das geht sogar soweit, dass ich mir<br />
Hotzenplotz & hippiemäßig<br />
Das Leben im Postkartenidyll aus Bergen und Tälern hat<br />
deutliche Spuren hinterlassen. Und die helfen nun dabei,<br />
die Club-Landschaft neu zu vermessen. <strong>De</strong>r strenge 1:128-<br />
BPM-Maßstab wird immer wieder gestreckt und gestaucht.<br />
Am Ende sieht alles aus wie auf einer Schatzkarte bei Räuber<br />
Hotzenplotz. Und der ist wiederum ziemlich nah dran an der<br />
Bar-25-Kater-Holzig-Parallelwelt, deren (Mit-) Macher gegenüber<br />
Gretschmann irgendwann treffend formulierte:<br />
"Wenn du spielst, dann schauen sich die Leute wieder gegenseitig<br />
an und nicht auf den Boden." Ein gemeinsames<br />
Erlebnis zählt eben mehr als jede konzeptionelle Strenge -<br />
klingt vielleicht hippiemäßig und genau deshalb bringt es<br />
Acid Paulis Werk ziemlich exakt auf den Punkt. <strong>De</strong>nn irgendwann<br />
sagt Gretschmann selbst einen dieser wunderbar offenherzigen<br />
Sätze, dem der unglaubliche Spagat zwischen<br />
kauziger Verstiegenheit und Naivität gelingt: "Ich finde die<br />
Art und Weise wie sich Oskar Maria Graf gesehen hat, als<br />
Volksdichter, total schön. So sehe ich mich auch ein bisschen,<br />
nur eben im musikalischen Sinn: als Volksmusikant.<br />
Ich mache Musik fürs Volk und nicht für eine akademische<br />
Minderheit, die alles analysieren und interpretieren muss.<br />
Elitäre Musik – das ist genau das, wo ich mich eben nicht<br />
sehe und wo ich auch gar nicht hinwill, weil ich Volksmusik<br />
mache. Ich mache Musik für jeden."<br />
Mit beiden Beinen fest auf dem Bildungsboden und dem<br />
Kopf hoch droben in den Wolken stiefelt Acid Pauli über einen<br />
Sound-Acker in dem Kraut und Rüben kreuz und quer<br />
durcheinander fliegen. Am Ende verschwindet "MST" genau<br />
dorthin, woher es auch gekommen ist: in einem diffusen<br />
asynchronen Sound-Wirrwarr. Was bleibt, ist die Erinnerung<br />
an rund vierzig Minuten, die mal rasend schnell vergehen,<br />
dann wieder ganz langsam vor sich hin tröpfeln und beim<br />
nächsten Hören doch komplett anders klingen – wie beim<br />
allerersten Mal.<br />
16 –<strong>164</strong><br />
Acid Pauli, MST,<br />
ist auf Clown & Sunset erschienen.<br />
www.csa.fm