De:Bug 164
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Wir sind die Ureinwohner des Internets und die tribalistische<br />
Stammestracht ist ein geeigneter Umhang, denn statt<br />
sich dem Zyklus aus In und Out zu unterwerfen, erzählt diese<br />
Kleidung traditionell die Geschichte und Identität ihrer<br />
Träger, die dort organisch eingeschrieben ist.<br />
Strömungen<br />
Das 21. Jahrhundert eignet sich nicht mehr dazu, feststehende<br />
Stilwahrheiten und sich bündelnde Trends herauszufiltern<br />
aus dem ständigen Wechsel aus Pre-, Cruise- und<br />
diversen Extrakollektionen, die die Saisons multiplikatorisch<br />
und sich selbst befruchtend durcheinanderfegen.<br />
Viele jüngere Label reagieren darauf bereits, indem sie ihre<br />
Kleider keinem halbjährigen Zyklus mehr unterwerfen,<br />
sondern ihren Evolutionsplan organisch selbst bestimmen.<br />
<strong>De</strong>r Zustand totaler Synchronität ebnete vor einigen Jahren<br />
einem vermeintlich gesamtgesellschaftlichen Rückzug ins<br />
Biedermeier den Weg: Man erkannte klassische Preppy-<br />
Kleidung in der Mode, feierte die konservative Popmusik<br />
einer Adele und die grassierende Stil-Entropie ermöglichte<br />
es, seine Welt unter dem engen Begriff einer Neuen<br />
Bürgerlichkeit neu zu sondieren.<br />
Was sich in verschiedenen<br />
ästhetischen Feldern Form<br />
sucht, findet in der Mode<br />
seinen zusammenhängenden<br />
Ausdruck in der Figur<br />
des Modernen Nomaden.<br />
Doch solche Bündelungen sind von gestern. <strong>De</strong>r in<br />
diesem Text skizzierte Versuch ästhetischer Alchemisten,<br />
Natur und Kultur unter dem Schmierstoff Technik zusammenzudenken,<br />
bedeutet kaum weniger als aus dem nun<br />
jahrelang bestimmenden Modus der "Retromania" zu<br />
springen. Statt gut gesetzter Revivals und stilsicherem<br />
Zitieren steht plötzlich der Wunsch, ein ganzheitliches<br />
und neues Abbild unserer aktuellen Gegenwart zu finden.<br />
Dass die "Umwelt" dabei den ästhetischen Referenzpunkt<br />
bildet, scheint auf zweierlei Arten nachvollziehbar: Zum<br />
einen funktioniert die Natur in der direkten Übertragung<br />
als das Ursprüngliche. Zum anderen erscheint in diesem<br />
Bild auch eine neue Umwelt, nämlich das Internet, als wuchernder<br />
Lebensraum, der ebenso geschützt und bewahrt<br />
werden will. Die zusammengetragenen künstlerischen<br />
Erscheinungen und gesellschaftlichen Strömungen sind<br />
Reaktionen auf eine veränderte Welt, deren Wahrnehmung<br />
heute geprägt ist durch die Verbindung mit technischen<br />
Geräten, die unsere Sinne mit der Realität abgleichen.<br />
Wir suchen nach Verhaltensweisen und Erwiderungen<br />
auf den distanzlosen Zugriff auf Konsumprodukte,<br />
die Auflösung verschiedenster Trägerformate, neue<br />
Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung, Gentechnik,<br />
Umweltkatastrophen, Energie, extrem verfeinerte Formen<br />
virtueller Kommunikation und real-time-augmented Karten<br />
in 3D wie Google Earth, in der es stets um die flüssigste<br />
Übertragung geht.<br />
Was zum Teufel ist Wasser?<br />
"Erinnerst du dich an Michel Houellebecqs letzten Roman<br />
'Karte und Gebiet'? Erinnerst du dich an die Landflucht,<br />
an die neuen Menschen, an die städtische 3D-Landschaft<br />
auf dem Cover, überwuchert von Natur?" "Ich erinnere<br />
mich gut, aber darum geht es nicht." "Erinnerst du dich<br />
an Christian Krachts 'Ich werde hier sein im Sonnenschein<br />
und im Schatten', an die Dronen, die den Soldaten auf dem<br />
Weg zurück in den Dschungel, zurück zu Mutter Natur begleiten,<br />
während sich unsere Welt langsam auflöst?" "Ja,<br />
ich erinnere mich. Ja, um die geht es." "<strong>De</strong>nkst du auch<br />
manchmal an Obamas neue Hi-Tech-Schlachtschiffe?" "Ja,<br />
sie haben Pyramiden auf dem Rumpf und sehen außergewöhnlich<br />
schön aus."<br />
Die beiden Trendforscherinnen schauen mit glasigen<br />
Augen in den sie umgebenden Urwald, sie halten ihre<br />
Beine ins Wasser, klitzekleine Fische knabbern die veralteten,<br />
losen Hornhautschuppen von ihren Füßen, die<br />
Frauen lächeln. Die Assistentin fischt ein Buch aus ihrem<br />
Leinenbeutel, die legendäre Rede "Das hier ist Wasser" von<br />
David Forster Wallace, die im Mai erstmals in deutscher<br />
Übersetzung erschien. Mit sonorer Stimme liest sie den<br />
Beginn: "Schwimmen zwei junge Fische des Weges und<br />
treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung<br />
unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: 'Morgen, Jungs.<br />
Wie ist das Wasser?' Die zwei jungen Fische schwimmen<br />
eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen<br />
einen Blick zu und sagt: 'Was zum Teufel ist Wasser?'"<br />
Kaum eine Parabel macht deutlicher, was seit einiger<br />
Zeit unter dem Begriff "Post-Internet" durch die Gegend<br />
geistert. Die zweite Natur, in die alle zugleich eintauchen,<br />
die immer da ist, in der online und offline in eins fallen. Die<br />
Forscherinnen überblicken den Hauptstrom des Amazonas<br />
und denken jeder für sich an die new united global culture,<br />
an eine Welt, in der die Technologie alle Lebensbereiche<br />
umfasst, und explizite Technikreferenzen dadurch unnötig<br />
geworden sind. Die Assistentin streichelt einen rosafarbenen<br />
Boto-<strong>De</strong>lfin, der geduldig neben dem Boot umherspringt.<br />
"Danke Nina." "Danke Minka." Das Wasser ist gut,<br />
das Wasser ist warm.