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2008_Bürgerbeteiligung_BRD

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Literaturbericht im Bereich Innenpolitik<br />

Hauptseminar: Politische Beteiligung und Bürgerengagement<br />

Fakultät:<br />

Helmut-Schmidt-Universität<br />

Universität der Bundeswehr Hamburg<br />

Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften<br />

Holstenhofweg 85<br />

22043 Hamburg<br />

Plebiszitäre Elemente in der repräsentativen Demokratie<br />

Direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern<br />

Verfasser:<br />

Ferid Giebler<br />

Stoltenstraße 13<br />

22119 Hamburg


1. Einleitung<br />

Für eine stabile und gut funktionierende Demokratie ist die Beteiligung von Bürgerinnen<br />

und Bürgern eine Grundvoraussetzung. Die Art und Weise, wie sich diese<br />

Beteiligung gestaltet, variiert zwischen den politischen Systemen der westlichen<br />

Demokratien. In der Bundesrepublik Deutschland dominiert die politische Organisationsform<br />

der repräsentativen Demokratie, die eine direkte Beteiligung des eigentlichen<br />

Souveräns, namentlich das Volk, stark einschränkt. Diese Arbeit soll aufzeigen,<br />

was dies für die politische Praxis bedeutet, welche zentralen Unterschiede zwischen<br />

direkter und repräsentativer Demokratie bestehen und welche dieser Beteiligungsformen<br />

im deutschen System zu finden sind, ob und wie sie angewendet werden.<br />

Außerdem soll kurz auf die fundamentalen Vor- und Nachteile einer direkten Volksbeteiligung<br />

am politischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozess hingewiesen<br />

werden. Vor dem Hintergrund der vielen Herausforderungen, welche die Modernisierung<br />

für die westlichen Demokratien bereit hält, ist diese Fragestellung aktueller<br />

denn je und wissenschaftlich äußerst relevant. Angesichts der großen Bandbreite<br />

neuer gesellschaftlicher Probleme, wie z.B. organisierte Kriminalität, Dauerarbeitslosigkeit<br />

oder Umweltverschmutzung, kristallisiert sich häufig ein Gestaltungsmangel<br />

auf makropolitischer Ebene heraus, der in der Überforderung des politischen Systems<br />

münden könnte. Auf einer derart pessimistischen Zukunftsprognose stützend, werden<br />

in letzter Zeit hinsichtlich des fortschreitenden Wertewandels (vom Materialismus<br />

zum Postmaterialismus), des zunehmenden politischen Selbstbewusstseins der Bürgerinnen<br />

und Bürger, der gestiegenen Komplexität gesellschaftlicher Probleme und<br />

insbesondere der allgemeinen Unzufriedenheit mit den Leistungen und Ergebnissen<br />

des politischen Systems, in erster Instanz Politiker, Parteien und Parlament, Forderungen<br />

nach neuen Verfahren zur Lösung dieser politischen Probleme laut. Eine Reaktion<br />

auf diese Unzufriedenheit könnte die Gewährung direkter Teilhaberechte an<br />

grundsätzlichen politischen Entscheidungen sein.<br />

2. Die repräsentative Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland<br />

Kerngedanke der repräsentativen Demokratie ist die Delegation politischer Verantwortung.<br />

In einem System verregelter Institutionen wählt das Volk, als politische<br />

Gemeinschaft und letztinstanzlicher Souverän, verantwortliche repräsentative Akteure<br />

(Parlamentarier) und beauftragt diese mit der Ausübung der politischen Herrschaft.<br />

Im Namen des Volkes treffen diese Repräsentanten für alle Bürgerinnen und Bürger<br />

1


allgemein verbindliche und gesamtgesellschaftliche Entscheidungen, die im politischen<br />

Willens- und Entscheidungsbildungsprozess durch maßgebliche Beteiligung<br />

von Regierung, Parteien, Interessengruppen, dem Parlament und einzelnen Politikern<br />

(z.B. die Bundeskanzlerin mit ihrer Richtlinienkompetenz) zu Stande kommen. Im<br />

Gegensatz zum Repräsentationsprinzip steht im Modell der direkten Demokratie das<br />

Ziel der unmittelbaren und größtmöglichen Partizipation des einzelnen Bürgers im<br />

Mittelpunkt, und zwar in allen politischen Fragen. Funktionell kann Demokratie als<br />

ein „Kommunikationsprozess unter politischem Entscheidungszwang beschrieben<br />

werden“ 1 , wobei die gleichwertige Beteiligung eines jeden einzelnen Bürgers der<br />

Gesellschaft als Partizipation an diesem Kommunikationsprozess zu verstehen ist.<br />

Weil die effektive Ausweitung direkter Partizipation auf das gesamte Volk, in Form<br />

einer nach Rousseu`schen Verständnis heutzutage nahezu undurchführbaren Versammlungsdemokratie,<br />

vor allem in großen heterogenen Gesellschaften äußerst mühsam<br />

erscheint, ist aus dieser Notsituation das Prinzip der Repräsentation entsprungen.<br />

Die Verfassungsväter der Bundesrepublik entschieden sich kategorisch für das demokratisch-repräsentative<br />

System, was gemeinhin als plebiszitäre Quarantäne betitelt<br />

wird. In diesem Zusammenhang spielten Sorgen vor einer Volksgesetzgebung<br />

eine Rolle, da extreme Parteien, die diese Rechte instrumentalisieren, das Volk verhetzen,<br />

zumindest auf ihre extremen Ansichten aufmerksam machen können. Aus<br />

Zeiten der Weimarer Republik war dies noch in wacher Erinnerung. Damals führten<br />

plebiszitäre Elemente zum Bedeutungsgewinn dieser extremen Parteien, weil durch<br />

geschickte Manipulation der Bevölkerung Masseneintritte in die extremistischen<br />

Parteien erreicht wurden. Obwohl keines der drei Volksbegehren erfolgreich war,<br />

hatten sie dem politischen System der Republik erheblichen Schaden zugefügt.<br />

Das Prinzip der Repräsentation wurde zu Frühzeiten der Bundesrepublik Deutschland<br />

gesamtgesellschaftlich getragen. Neue Kritik kam erst mit den Bürgerinitiativbewegungen<br />

der 70er Jahre auf, die wachsenden Unmut gegen die „abgehobene<br />

Struktur“ des vorherrschend repräsentativen politischen Systems äußerten und mittels<br />

Initiativen der Selbsthilfe und Selbstbeteiligung danach suchten, starre Strukturen<br />

und „altes Denken“ zu entkrampfen. Dementsprechend traten neue alternative<br />

Kräfte auf die politische Bühne, deren Ideen der 68er sich in Form einer Partei (die<br />

1 Hager, Lutz 2005: Wie demokratisch ist direkte Demokratie?, 39<br />

2


„Grünen“) manifestierten 2 . Durch den Einzug dieser neuen und jungen Partei in den<br />

Bundestag (1983) wurde jedoch jegliches revolutionäre Gedankengut vom politischen<br />

System einverleibt und ausbalanciert. In Hinblick auf die Wiederwählbarkeit<br />

passte sich die Partei, die sich von dieser Bezeichnung anfangs weit distanzierte,<br />

mehr und mehr dem politischen System an. In diesem Sinne kam es erst nach Zerfall<br />

des Ost-West-Konfliktes und der damit möglich gewordenen Wiedervereinigung im<br />

Jahre 1990 zu einer stärkeren Hinterfragung der politischen Strukturen, denn infolge<br />

der neuen aufzunehmenden Bundesländer wurden neue, dem Grundgesetz konforme,<br />

Landesverfassungen notwendig 3 . Mit dieser Entwicklung konnten zunächst in allen<br />

ostdeutschen Ländern und bis heute in allen deutschen Landesverfassungen direktdemokratische<br />

Elemente aufgenommen werden, die bereits rege genutzt werden 4 .<br />

3. Plebiszitäre Elemente in der repräsentativen Demokratie Deutschlands<br />

Begrifflich umfassen plebiszitäre Elemente alle Arten von Volksbeteiligungsrechten.<br />

Dabei sind unter unmittelbaren Beteiligungsrechten nur solche zu verstehen, die vom<br />

Volk selbst angestoßen werden. Nach weiter Auslegung des Begriffes Plebiszit umfasst<br />

er nach partizipatorischen Demokratieverständnis alle verfassten und nichtverfassten<br />

Beteiligungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger.<br />

Bürgergutachten und Planungszellen sind Beispiele für nicht-verfasste Arten, an<br />

dieser Stelle sollen jedoch lediglich die verfassten Rechte – Volksbegehren und<br />

Volksentscheid bzw. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sowie Volksinitiative und<br />

Bürgerantrag – betrachtet werden 5 . Grundlegend kann diesbezüglich zwischen dezisiven<br />

und konsultativen Plebisziten unterschieden werden. Hierbei zielen dezisive<br />

Elemente auf verbindliche Beschlüsse der Politik. Das können einesteils Personalplebiszite<br />

(z.B. Wahl des Bürgermeisters) und anderseits Sachplebiszite (z.B. Plebiszit<br />

über Bauhöchstgrenzen in Städten) sein. Elemente, die einen konsultativen Charakter<br />

haben, dienen in erster Linie dem Abrufen des Stimmungsbildes der Wähler.<br />

Derartige Gesetzesinitiativen aus dem Volk bedürfen der Bestätigung durch das Parlament,<br />

um Gesetzeskraft zu entfalten.<br />

2 Vgl. Everding, Dagmar; Kruse, Michael; Kugel, Harald (Hrsg.) 1999: Demokratie in Deutschland -<br />

Bewährungsprobe Globalisierung, S. 13<br />

3 Vgl. Ebd., S. 14<br />

4 Vgl. Weixner, Bärbel Martina 2006: Direkte Demokratie in den Bundesländern, in: Aus Politik und<br />

Zeitgeschichte, 10/2006, S. 18<br />

5 Vgl. Weixner, Bärbel Martina 2006: Direktdemokratische Beteiligung in Ländern und Kommungen,<br />

in: Hoecker, Beate (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest – Eine studienorientierte<br />

Einführung, S. 101<br />

3


3.1 Bundesebene<br />

Auf Bundesebene sind lediglich drei direkte Partizipationsmöglichkeiten nach dem<br />

Grundgesetz möglich. Dies betrifft die Neugliederung des Bundesgebietes nach Art.<br />

29 GG, die Neugliederung des Landes Baden-Württemberg nach Art. 118 GG und<br />

die Entscheidung über eine neue Verfassung durch Volksabstimmung nach Art. 146<br />

GG 6 . Andere Anwendungsformen sind auf makropolitsicher Ebene ausgeschlossen.<br />

Letztmalig angewendet wurde der Artikel 29 GG im Rahmen der Verfassungsreform<br />

von 1994. Damals sollten die Länder Brandenburg und Berlin durch eine vertragliche<br />

Vereinbarung, unter Beteiligung der Wahlberechtigten, zusammengelegt werden.<br />

3.2 Landes- und Kommunalebene<br />

Anders gestaltet es sich inzwischen auf Ebene der Länder und Kommunen. In allen<br />

Bundesländern und auf kommunaler Ebene sind mittlerweile direktdemokratische<br />

Einflusschancen verankert. Allerdings zeigt sich die präzise Ausgestaltung nach<br />

Form und Verfahren in den unterschiedlichen Landesverfassungen äußerst vielfältig.<br />

Die jeweiligen Regelungen werden durch Ausführungsgesetze und -verordnungen<br />

ergänzt. Überdies normieren die Landesverfassungen Ausschlüsse bestimmter Themen<br />

und Bereiche, ausnahmslos unzulässig sind Plebiszite, die haushalts- und finanzrelevante<br />

Fragen berühren. Ferner werden die Ministerpräsidenten der Länder,<br />

Regierende und die Ersten Bürgermeister der drei Stadtstaaten nicht direkt vom Volk<br />

gewählt. Ein Großteil der von Volkes Hand beabsichtigten Gesetzesinitiativen berühren<br />

jedoch die Finanzen der Länder und sind somit unzulässig. Über die Zulässigkeit<br />

entscheidet das jeweilige Landesverfassungsgericht. Die Länder unterscheiden<br />

grundsätzlich zwischen zweistufiger (Volksbegehren und Volksentscheid) und dreistufiger<br />

Volksgesetzgebung (Volksbegehren, Volksentscheid, einleitend Volksinitiative).<br />

Das zweistufige Gesetzgebungsmodell herrscht nur in Baden-Württemberg,<br />

Bayern, Hessen und im Saarland vor, in den restlichen das dreistufige.<br />

Im Folgenden werden die wichtigsten Arten der direkten Beteiligung auf Landesund<br />

Kommunalebene verdeutlicht. Im dreistufigen Modell beginnt die Beteiligung<br />

durch die nicht-verfasste Volksinitiative (Bürgerantrag auf Kommunalebene), deren<br />

Verfahren die plebiszitäre Willensbildung einleitet. Einer solchen Volksinitiative<br />

6 Vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Kirchhof, Paul; Kreuter-Kirchhof, Charlotte<br />

2007: Staats- und Verwaltungsrecht Bundesrepublik Deutschland, 43. Auflage, S. 1 - 69<br />

4


kann ein Gesetzesentwurf zu Grunde liegen, muss aber nicht, was die Antragsstellung<br />

erleichtert. Somit ist sie der erste Schritt zur Einführung, Aufhebung oder Änderung<br />

eines Gesetzes und dient dem Einbringen politischer Sachverhalte in Landesparlamenten<br />

und Gemeinden, die von Bürgerinnen und Bürgern als wichtig erachtet<br />

werden. Diesbezüglich müssen, je nach Bundesland verschieden, gewisse Quoren<br />

erreicht werden, d.h. eine gewisse Anzahl an Unterschriften von wahlberechtigten<br />

Unterstützern, die dazu führen, dass der Landtag das jeweilige Anliegen auf die Tagesordnung<br />

setzen muss und darüber zu debattieren hat. Sofern eine Volksinitiative<br />

durch das Parlament abgewiesen wird, können die Initiatoren den nächsten Schritt in<br />

der Einleitungsphase beschreiten (Einleitungsphase: Volksinitiative + Volksbegehren)<br />

und ein Volksbegehren erwirken.<br />

Auch ein Volksbegehren (Bürgerbegehren auf Kommunalebene) ist ein Sachplebiszit,<br />

aber verfasst und formal anspruchsvoller, weil ein Gesetzentwurf zwingende Grundlage<br />

ist. Ein solches Volksbegehren, das ebenfalls auf Änderung bestehender Landesgesetze,<br />

eine Änderung der Landesverfassung oder die Neuschaffung von Gesetzen<br />

zielt, muss einer strengen Zulässigkeitsprüfung auf juristisch einwandfreie Formulierungen<br />

standhalten sowie dem exakten Wortlaut der Verfassung in allen einzelnen<br />

Punkten entsprechen. In Ländern, die nur über ein zweistufiges Modell der<br />

Volksgesetzgebung verfügen ist das Verfahren zweigeteilt. Es besteht aus einem einleitenden<br />

Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens (siehe Volksinitiative im dreistufigen<br />

Modell) und dem eigentlichen Volksbegehren. Auch hierbei differieren die Regularien,<br />

die eine Zulassung gewährleisten, erheblich. In Sachsen sind beispielsweise<br />

40000 Stimmberechtigte bei einer Eintragungsfrist von acht Monaten für die Zulassung<br />

vonnöten, im Stadtstaat Hamburg hingegen reichen bereits 10000 Stimmberechtigte,<br />

die jedoch innerhalb von 14 Tagen ihre Unterschrift zu leisten haben 7 .<br />

In der Beschlussphase erfolgt die unmittelbare Beteiligung des Volkes an der staatlichen<br />

Gesetzgebung oder anderweitigen staatlichen Entscheidungen durch Abstimmung.<br />

Dabei handelt es sich um den beschließenden Volksentscheid (Bürgerentscheid<br />

auf Kommunalebene), ebenfalls ein verfasstes Sachplebiszit. Auch in diesem<br />

Fall gibt es angesichts der Zustimmungsquoren keine bundeseinheitliche Konstanz.<br />

7 Vgl. Weixner, Bärbel Martina 2006: Direktdemokratische Beteiligung in Ländern und Kommungen,<br />

in: Hoecker, Beate (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest – Eine studienorientierte<br />

Einführung, S. 117<br />

5


Während in Bayern oder Hessen nach Mehrheitsprinzip das notwendige Zustimmungsquorum<br />

erreicht wird, sind es in Nordrhein-Westfalen fünfzehn Prozent der<br />

Stimmberechtigten, im Saarland sogar fünfzig 8 .<br />

Zu den selten verfassten Personalplebisziten zählen Entscheidungen über Personalentscheidungen.<br />

Dies kann die Urwahl von Bürgermeistern oder Landräten durch<br />

direkte Wahl sein, die Abberufung gewählter Amts- oder Mandatsträger, die plebiszitäre<br />

Parlamentsauflösung durch das Volk (1971 in Baden-Württemberg und 1981<br />

in Berlin), die Abberufung einer Landesregierung durch das Volk (noch nie angewendet)<br />

oder sogar die Abschaffung eines Verfassungsorgans durch das Volk (z.B.<br />

Abschaffung des Bayerischen Senates zum 01.Januar 2000).<br />

4. Vor- und Nachteile der „Volksgesetzgebung“<br />

Die Vor- und Nachteile direktdemokratischer Elemente sind sehr mannigfaltig. An<br />

dieser Stelle ist, angesichts der Fülle, eine Beschränkung auf die wichtigsten Für und<br />

Wider geboten. Offensichtlich ist, dass direkte Beteiligungschancen die Volkssouveränität<br />

als wichtigste Legitimationsquelle für politische Entscheidungen stärken und<br />

somit das grundsätzliche Demokratiepostulat untermauern 9 . Direkte Demokratie<br />

bringt die Politik und deren Akteure den Bürgerinnen und Bürgern wieder näher und<br />

schmälert das Risiko von Entscheidungen im Überbau, die an der Basis gar nicht<br />

mitgetragen werden. Ein Beispiel dieser Distanz zwischen Wähler und Gewählten ist<br />

das Verhältnis der Bundesrepublik zum Staat Israel. In Ihrer Rede vor der Knesset<br />

bekräftigte die Bundeskanzlerin die uneingeschränkte Solidarität der Bundesrepublik<br />

für den jüdischen Staat, angesichts der historischen Verantwortung. Der Großteil der<br />

deutschen Öffentlichkeit plädiert hingegen in jüngster Zeit dafür, den Staat Israel wie<br />

„jeden anderen normalen Staat“ zu behandeln. Vorteilhaft sind überdies Möglichkeiten<br />

der Bürgerinnen und Bürger, bei Entscheidungen über grundsätzliche Sachfragen<br />

Verantwortung zu übernehmen, woraus eine höhere gesamtgesellschaftliche Akzeptanz<br />

der politischen Entschlüsse resultiert, da alle daran beteiligt waren 10 . Eine Mobilisierung<br />

zu mehr und aktivem politischen Engagement kann eine Antwort auf die<br />

8 Vgl. Weixner, Bärbel Martina 2006: Direktdemokratische Beteiligung in Ländern und Kommungen,<br />

in: Hoecker, Beate (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest – Eine studienorientierte<br />

Einführung, S. 117-118<br />

9 Vgl. Ansgar, Klein; Schmalz-Bruns; Rainer (Hrsg.) 1997: Beteiligung und Bürgerengagement in<br />

Deutschland, S. 61<br />

10 Vgl. Ebd., S. 61<br />

6


zunehmende Politikverdrossenheit, sinkende Mitgliederzahlen in Parteien und eine<br />

sinkende Wahlbeteiligung sein. Bürgernähe sorgt diesbezüglich für mehr<br />

Responsivität 11 , d.h. das Empfinden der politischen Eliten für die Bedürfnisse, Interessen,<br />

Hoffnungen, Erwartungen und Nöte der Menschen kann hierdurch sensibilisiert<br />

werden. Insgesamt sorgt direkte Demokratie für mehr Partizipation und nutzt<br />

das soziale Kapital der Gesellschaft individuell und kollektiv besser aus, denn nur ein<br />

sehr geringer Teil der bundesdeutschen Bürgerinnen und Bürger engagiert sich in<br />

den Politik machenden Parteien, weshalb die Akzeptanz politischer Entscheidungen<br />

unter direkter Volksbeteiligung deutlich höher ausfallen kann.<br />

Die meisten Gegenargumente sind pragmatischer Natur. Insbesondere die hohe<br />

Komplexität aktueller gesellschaftlicher Probleme kann den „einfachen<br />

ger“ leicht überfordern, der nicht in allen Entscheidungen über die notwendige Sachkompetenz<br />

verfügt. Außerdem scheint eine direkte Demokratie, im Verständnis<br />

Rousseaus sowieso, nur in kleinen und überschaubaren politischen Systemen mit<br />

geringer Bevölkerungszahl möglich 12 , also durchaus auf Kommunalebene. Ein allzu<br />

häufiger Gebrauch kann zu einer Desensibilisierung der Bürger führen, wie es am<br />

Beispiel der Schweiz beobachtet wurde. Eine Reduzierung auf bloßes Ja/Nein-<br />

Antwortverhalten schließt in diesem Zusammenhang produktive Verhandlungserfolge<br />

und sinnvolle Kompromisse aus 13 , wobei Zufallskonstellationen und Stimmungsschwankungen<br />

ausschlaggebende Kriterien sein können und somit nicht immer eine<br />

wirkliche Entscheidungsrationalität gegeben sein muss. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung<br />

über plebiszitäre Elemente polarisiert und instrumentalisiert werden kann,<br />

wie es sich im Fall der Weimarer Republik ereignete. Ein weiteres Hindernis ist<br />

technischer Natur. Es ist äußerst schwierig, am Beispiel der Bundesrepublik<br />

Deutschland, zu jeder politischen Entscheidung knapp 80 Millionen Menschen zu<br />

befragen. Auf Bundesebene wären erhebliche Kosten die Folge, obwohl die Qualität<br />

der Gesetze nicht merklich verbessert werden könnte 14 , sofern man den Bürgerinnen<br />

und Bürgern bei geheimen Abstimmungen den Vorrang privater Interessen unterstellt.<br />

11 Vgl. Vgl. Ansgar, Klein; Schmalz-Bruns; Rainer (Hrsg.) 1997: Beteiligung und Bürgerengagement<br />

in Deutschland S. 61<br />

12 Vgl. Ebd., S. 61<br />

13 Vgl. Ebd., S. 62<br />

14 Vgl. Ebd., S. 62<br />

7


5. Schlussbetrachtung<br />

Die Vor- und Nachteile plebiszitärer Elemente, weiter gefasst die Vorzüge und Mängel<br />

direkter Demokratie, halten sich, nach aktuellem Forschungsstand, relativ die<br />

Waage. Im Fall der Bundesrepublik Deutschland kann seit den 70er Jahren, angesichts<br />

der Resistenz des demokratischen Rechtsstaates gegen den Terrorismus der<br />

RAF und der gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz des politischen Systems, von einer<br />

stabilen und demokratischen politischen Kultur gesprochen werden. Im bevölkerungsreichsten<br />

europäischen Flächenstaat können plebiszitäre Elemente die etablierte<br />

repräsentative Demokratie mit großer Gewissheit nicht ersetzen. Dennoch sollte über<br />

eine ergänzende direkte Einflussnahme und derartige Beteiligungschancen in der<br />

Bundesrepublik, auch auf Bundesebene, nachgedacht werden. Eine strenge Eingrenzung<br />

auf wichtige grundsätzliche Sachentscheidungen, also dort, wo es sinnvoll ist,<br />

sollte hierbei geboten sein. Auf Länder- und Kommunalebene haben sich Volksinitiative<br />

(bzw. Bürgerantrag), Volksbegehren (bzw. Bürgerbegehren) und Volksentscheid<br />

(Bürgerentscheid) mitunter als gängige Verfahren konstituiert und positive Erfahrungen<br />

produziert. Ganzheitlich betrachtet ist demnach eine rigorose Ablehnung plebiszitärer<br />

Elemente in der Bundesrepublik ebenso falsch, wie eine bedingungslose<br />

Akzeptanz.<br />

8


Literaturverzeichnis:<br />

Monografien:<br />

Everding, Dagmar; Kruse, Michael; Kugel, Harald (Hrsg.): Demokratie in<br />

Deutschland – Bewährungsprobe Globalisierung, PapyRossa Verlag, Köln,<br />

1999<br />

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Kirchhof, Paul; Kreuter-<br />

Kirchhof, Charlotte: Staats- und Verwaltungsrecht Bundesrepublik<br />

Deutschland, 43. Auflage, C.F.Müller-Verlag, München, 2007<br />

Hager, Lutz: Wie demokratisch ist direkte Demokratie?, Verlag für<br />

Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2005<br />

Hoecker, Beate (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest –<br />

Eine studienorientierte Einführung, Verlag Barbara Budrich, Opladen, 2006<br />

Klein, Ansgar; Schmalz-Bruns, Rainer (Hrsg.): Politische Beteiligung und<br />

Bürgerengagement in Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung,<br />

Bonn, 1997<br />

Zeitschriften:<br />

Weixner, Bärbel Martina: Direkte Demokratie in den Bundesländern, in: Aus<br />

Politik und Zeitgeschichte, 10/2006, S. 18-24, Bundeszentrale für politische<br />

Bildung, Bonn, 2006<br />

9

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