23.10.2016 Aufrufe

fazmagazin_201603

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

64 REISE<br />

REISE<br />

65<br />

Arbeit ohne Ende: Die großformatigen Wandgemälde in Lyon sind zur Attraktion für Einheimische und Besucher geworden.<br />

ECHTE WANDARBEIT<br />

„La Fresque des Lyonnais“: Das 1800 Quadratmeter große Fassadenbild bringt berühmte Bewohner Lyons zusammen – wie Starkoch Paul Bocuse (unten Mitte) oder die Brüder Lumière (darüber rechts).<br />

Die Künstlergruppe<br />

„Cité Création“ geht in<br />

Lyon die Wände hoch –<br />

und macht mit ihren<br />

Gemälden die Illusion<br />

zur Wirklichkeit.<br />

Von Axel Pinck<br />

Fotos Peter Frischmuth<br />

Lyon – war da nicht immer Stau auf der Autobahn<br />

Richtung Mittelmeer? Kam daher nicht<br />

dieser berühmte Koch? Viel ist es nicht, was<br />

den meisten zur drittgrößten Stadt Frankreichs<br />

einfällt. Dabei ist die Metropole am Zusammenfluss<br />

von Rhône und Saône in einer Hinsicht<br />

sogar führend im Land: Nirgends gibt es so tolle Wandgemälde.<br />

Mehr als fünf Dutzend gewaltige murs peints sind über<br />

die Stadt verteilt. Die meisten zeigen das urbane Leben und<br />

wichtige Bewohner. „Wir wollen nicht nur große, bunte<br />

Bilder malen, sondern die Betrachter zum Stehenbleiben<br />

und zum Nachdenken anregen“, sagt Halim Bensaïd, Mitbegründer<br />

der Künstlergruppe „Cité Création“, die für die<br />

ungewöhnliche öffentliche Kunst verantwortlich ist.<br />

Vor mehr als 30 Jahren hatten Absolventen der örtlichen<br />

Kunsthochschule gegen zähen Widerstand der Stadtverwaltung<br />

angefangen, das Stadtbild mit großflächigen<br />

Bildern zu verschönern. Heute zählt die Künstlerkooperative<br />

neben den Kochkünsten des „Grand Chef“ Paul Bocuse<br />

und seiner Kollegen zu den kulturellen Höhepunkten<br />

Lyons. Die „Cité Création“ ist inzwischen auf der ganzen<br />

Welt gefragt, mehr als 600 oft spektakuläre Wandgemälde<br />

von Berlin-Marzahn und Wien bis Schanghai und Tel Aviv<br />

gehen auf sie zurück. Eine Kunstschule mit riesigen Ateliers<br />

in einem Gewerbegebiet und ein bunt dekoriertes Internat<br />

für auswärtige Studenten sollen ihre Arbeit weiterentwickeln,<br />

also Techniken und Formen der Wandmalerei.<br />

Ein von der Stadt herausgegebener Plan, der Circuit<br />

Lyon murs peints, hilft Stadtbesuchern, zwei Dutzend der<br />

interessantesten Wandgemälde zu finden. Drei Hausfassaden<br />

mit Interpretationen des Turmbaus zu Babel am Boulevard<br />

des Etats-Unis sind darunter, das Fresko „Shanghaï“ an<br />

einem Neubau um die Ecke zum 20. Jubiläum der Städtepartnerschaft<br />

von Lyon und Schanghai oder das achtstöckige<br />

Gemälde zur Stadtbibliothek mit Verweisen auf etwa 500<br />

Bücher von Autoren aus der Region.<br />

In der Soierie Saint-Georges, nicht weit von der Kathedrale,<br />

demonstriert der Kunsthandwerker Ludovic de la<br />

Calle fast vergessene traditionelle Handwerkstechniken in<br />

der einstigen Metropole der Weber und der Seidenmanufakturen.<br />

Auf seinem Webstuhl kombiniert er bis zu 4000<br />

Fäden zu einem hochwertigen Gewebe, das für den laufenden<br />

Meter einen Preis von 2000 Euro erreichen kann, wenn<br />

darin auch Gold verarbeitet wird. Jahrhundertelang war<br />

Lyon eine Hochburg der Seidenweber, der canuts. Mit<br />

ihren Jacquard-Webstühlen verarbeiteten sie vor allem im<br />

Viertel Croix-Rousse die Seide zu edlen Stoffen.<br />

Aus Platzmangel baute man schon früh mehrstöckige<br />

Häuser mit Hinterhöfen. Sie waren von versteckten Gängen<br />

durchzogen, den traboules, die mehrere Innenhöfe miteinander<br />

verbanden. Die meisten existieren noch heute. Sie<br />

führen durch Treppenhäuser und dämmerige Passagen, bis<br />

man plötzlich an einer anderen Straße der Altstadt wieder<br />

aus einem Hauseingang tritt. Während der deutschen Besatzung<br />

im Zweiten Weltkrieg waren die traboules beliebte<br />

Fluchtwege der Résistance-Kämpfer. Inzwischen ist das<br />

Quartier, das Besucher auch in geführten Stadttouren erkunden<br />

können, mit Theatern, Cafés und Bars ein beliebtes<br />

Ausgehviertel – nicht nur bei den Studenten in der Stadt,<br />

die fast ein Viertel der Bevölkerung ausmachen.<br />

„Die Mauer der Canuts“ zeigt diesen Wandel von<br />

Croix-Rousse. Passanten bleiben fasziniert stehen, wenn sie<br />

auf den kleinen Platz einbiegen und das riesige Gemälde<br />

erblicken. Es wurde perspektivisch verblüffend auf eine<br />

1200 Quadratmeter große, plane Hausfassade gemalt und<br />

zeigt die lebhafte Szenerie der Nachbarschaft wie in einem<br />

gigantischen Spiegel. Halim Bensaïd erzählt, die Künstler<br />

von „Cité Création“ hätten das Wandgemälde schon dreimal<br />

erneuert, um die Veränderungen im Stadtviertel aufzugreifen<br />

und das Altern der porträtierten Bewohner zu berücksichtigen.<br />

Der zuletzt aufgemalte Geldautomat einer<br />

Bankfiliale entpuppte sich für Kunden schon öfter erst<br />

beim Nähertreten als Illusion.<br />

„Unsere Kunst lebt zunächst vom ersten Eindruck, aber<br />

nur kurzfristige Effekte oder eine Postkartenidylle streben<br />

wir nicht an“, sagt Halim Bensaïd. „Uns ist klar, dass<br />

Wandgemälde im öffentlichen Raum gleichzeitig eine

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!