Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
66 REISE<br />
ECHTE<br />
WANDARBEIT<br />
REISE<br />
67<br />
Treppen-Nepp: Wie in einem Spiegel illustriert das Gemälde „Le Mur des Canuts“ den Wandel des Lyoner Stadtviertels Croix-Rousse.<br />
große Verantwortung bedeuten, und das für vielleicht 20<br />
Jahre oder mehr.“ So wird jedes große Mural von einer<br />
Publikation begleitet, die Entstehung und Hintergründe<br />
dokumentiert. Auch die Kontroversen und das Zusammenwirken<br />
von Politik, Hausbesitzern, Bewohnern, Galerien,<br />
Medien und Künstlern sind darin nachzulesen.<br />
Viele, die auf der Rue de la Martinière durch das Viertel<br />
Croix-Rousse zum Ufer der Saône schlendern, bleiben<br />
unvermittelt stehen. Denn an der Ecke zum Quai Saint-<br />
Vincent lässt sich ein Passant mit Paul Bocuse ablichten,<br />
der aus der Tür des Restaurants „Le Pot Beaujolais“ schaut;<br />
auf einem Balkon hantieren die Brüder Lumière mit dem<br />
von ihnen entwickelten Filmprojektor herum; auf einem<br />
anderen zeigt sich der Autor und Flieger Antoine de Saint-<br />
Exupéry mit dem „Kleinen Prinzen“; und Louise Labé, die<br />
Lyrikerin aus dem 16. Jahrhundert, blickt aus einem Fenster.<br />
Die Künstler der „Cité Création“ haben Mitte der neunziger<br />
Jahre 30 berühmten Lyoner Bewohnern vergangener<br />
Jahrhunderte mit dem 1800 Quadratmeter großen Fassadenbild<br />
„La Fresque des Lyonnais“ ein ungewöhnliches<br />
Denkmal gesetzt.<br />
Wandmalereien begleiten die Menschheit seit mehr als<br />
40.000 Jahren. Berühmt sind die kraftstrotzenden Stiere,<br />
die vorgeschichtliche Bewohner in der heutigen französischen<br />
Dordogne an die Wände der Höhlen von Lascaux<br />
malten. In Assuan fertigten Künstler vor 3500 Jahren<br />
Wandgemälde des Götterkönigs Amun-Re und des ibisköpfigen<br />
Mondgottes Thot. In Pompeji wurden die Wände<br />
in unterschiedlichen Stilen und mit profanen Motiven<br />
dekoriert. Die Trompe-l’oeil-Malereien der Barockzeit gaukelten<br />
dem Betrachter mit geschicktem Pinselstrich Illusionen<br />
vor: eine hohe Kuppeldecke, wo nur ein niedriges Gewölbe<br />
existierte, oder täuschend realistische Perspektiven<br />
durch ein gemaltes Fenster.<br />
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts machten die mexikanischen<br />
Muralista um Diego Rivera, die oft sozialkritische<br />
Themen aufgriffen, große Wandgemälde wieder populär. In<br />
den Vereinigten Staaten sind viele ähnlich ausdrucksstarke<br />
Murals aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise der dreißiger<br />
Jahre erhalten. In den Sechzigern schufen Graffitikünstler,<br />
zunächst in den Städten Westeuropas und Nordamerikas,<br />
mit ihren Tags und Writings ein neues Kapitel der Mural<br />
Art. Großflächige Wandgemälde als politisches Statement<br />
wurden vor allem während der gewalttätigen Auseinandersetzungen<br />
in Nordirland bekannt. Heute sind künstlerisch<br />
gestaltete Hausfassaden in vielen Städten ein Blickfang.<br />
Mit ihrem 500. Mural gingen die Künstler der „Cité<br />
Création“ neue Wege. Bei dem 650 Quadratmeter großen<br />
„Fresque Végétale Lumière“ entlang der Begrenzungsmauer<br />
zum Garten der Saint-Charles-Klinik in der Rue de<br />
l’Annonciade wechseln sich drei Wandgemälde über die gefährdete<br />
Flora unseres Planeten ab, die von den Arbeiten<br />
des Fotokünstlers Yann Arthus-Bertrand inspiriert sind:<br />
Gemüsefelder am Rand von Timbuktu in Mali, der Urwald<br />
im brasilianischen Mato Grosso und landwirtschaftliche<br />
Kulturen in Argentinien mit „vertikalen Gärten“. Abends<br />
verleihen ihnen Lichtinstallationen besonderen Zauber.<br />
Die Pflanzenarrangements an der mehr als sechs Meter<br />
hohen Mauer verwandeln sich im Laufe des Tages und der<br />
Jahreszeiten, ebenso die tierischen Bewohner, Bienen,<br />
Schmetterlinge, Käfer oder Vögel. Technik und Formen der<br />
Wandgemälde verändern sich also schneller, als die Farbe<br />
trocken wird. „Unsere Reise ist nicht zu Ende“, sagt Halim<br />
Bensaïd, „noch lange nicht.“<br />
Sie haben Post: Manchmal fügt sich das wahre Leben harmonisch in das Wandgemälde ein.<br />
Gute Nachbarschaft: Die Wände in Lyon zeigen Geschichte und Gegenwart der Stadt – mal täuschend, mal echt.<br />
Reizvolle, aber brotlose Kunst: Lieber ein Baguette in der Hand als ein Spitzenrestaurant an der Wand.<br />
Wandwerker: Halim Bensaïd, Mitbegründer der „Cité Création“<br />
Bücherwand: Die Bilder stiften auch lokale Identität – indem sie Autoren aus der Region vor Augen führen.