Kaiserlich erleben, Ausgabe 4/2016
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8 ERLEBEN<br />
Zu Besuch bei einer Strohschuhmacherin<br />
Laufend warme Füße<br />
Wenn die Trauben im<br />
Keller gären, der Nebel<br />
ums Haus wabert und<br />
der Frost sich über<br />
die Felder legt, setzt<br />
sich Marlies Fischer<br />
an ihren großen<br />
Küchentisch und<br />
beginnt ihre Arbeit:<br />
An langen Herbstund<br />
Winterabenden<br />
stellt die Winzerin aus<br />
Amoltern Strohschuhe<br />
her. Und das so gut<br />
und erfolgreich, dass<br />
sogar Kunden aus<br />
dem Ausland bei ihr<br />
bestellen.<br />
Vorsicht vor der Frau des<br />
Hauses. Der Hund ist<br />
harmlos.“ Ein kleines<br />
Schild neben der Haustür bereitet<br />
uns mit einem Augenzwinkern<br />
auf Strohschuhmacherin<br />
Marlies Fischer vor. Kaum<br />
haben wir es gelesen, öffnet<br />
sich auch schon die Tür – eine<br />
dunkelhaarige Frau mit Jeans,<br />
blauer Bluse und Perlenohrringen<br />
blickt uns fröhlich über den<br />
Rand ihrer knallroten Lesebrille<br />
entgegen. „Ich bin, wer ich<br />
bin, und ich verstell mich nit.<br />
Und wer das nit verstoht, solls<br />
grad bliebe lo“, erklärt sie uns<br />
lachend im heimischen Dialekt,<br />
als wir fragend auf das Schild<br />
deuten. Marlies Fischer nimmt<br />
kein Blatt vor den Mund, das<br />
merken wir gleich zu Beginn.<br />
Durch ihre Offenheit und ihr<br />
außergewöhnliches Hobby –<br />
das Herstellen von Strohschuhen<br />
– hat sie es schon zu einiger<br />
Bekanntheit gebracht. Ein<br />
SWR-Team hat über sie eine<br />
Reportage gedreht, sie war im<br />
Saarländischen Rundfunk zu<br />
hören und hatte einen Auftritt<br />
bei Thomas Ohrner im „Fröhlichen<br />
Alltag“. Auch Zeitschriften<br />
wie „Landleben“, „Mein Ländle“<br />
und „Tina“ haben bereits über<br />
die 60-Jährige berichtet.<br />
Jetzt führt uns Marlies Fischer<br />
an den Esstisch der großen<br />
Wohnküche. Auf dem Boden<br />
hat es sich Jessy, ihr weißer<br />
West Highland Terrier, auf einer<br />
kuscheligen Decke bequem gemacht:<br />
der Hund, vor dem wir<br />
uns nicht zu fürchten brauchen.<br />
Auf dem Tisch türmen sich unterschiedlichste<br />
Arbeitsmaterialien,<br />
angefangene Strohschuhe,<br />
Stoffe, eine große gebogene Nadel<br />
und eine braune Garnrolle.<br />
Daneben steht ein Wagen mit<br />
noch mehr Stoffen, Nadeln, Fäden.<br />
Auch eine kleine Holzleiste<br />
für Kinderfüße lugt hervor.<br />
Laut Fischer stellen nur noch<br />
wenige Menschen in Deutschland<br />
„Schtreuschöah“, wie sie<br />
im Alemannischen genannt<br />
werden, in dieser Qualität selbst<br />
her. „Vielleicht zwei oder drei“,<br />
schätzt sie. In Amoltern – wie in<br />
vielen anderen ländlichen Gegenden<br />
– war es früher üblich,<br />
die Strohschuhe in Heimarbeit<br />
herzustellen – für die ganze<br />
Familie als Hausschuhe. Wenn<br />
es draußen kalt wurde und die<br />
Arbeit auf den Feldern weitgehend<br />
ruhte, begaben sich die<br />
Männer in die Keller, um Wein<br />
herzustellen oder Schnaps zu<br />
brennen oder um Gerätschaften<br />
zu reparieren. Die Frauen des<br />
Hauses setzten sich an den warmen<br />
Ofen und nähten, webten<br />
oder strickten. Jetzt war auch<br />
die Zeit, um Kleidung, Körbe<br />
und anderes, was im Sommer<br />
liegengeblieben war, zu flicken<br />
und zu reparieren. Oder eben<br />
um Strohschuhe herzustellen.<br />
Marlies Fischer lebt in dieser<br />
Tradition. Das Hauptmaterial,<br />
Maislaub, das zum Trocknen<br />
aufgehängt wird, kommt bei ihr<br />
<strong>Kaiserlich</strong> <strong>erleben</strong> · 04/<strong>2016</strong>