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Judentum und Urbanität / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 66 (1/2017)

Die Beiträge des Schwerpunkts präsentieren „einige große europäische Städte als Orte des Aushandelns von Lebensmöglichkeiten und als Räume, deren Lektüre Erkenntnis verspricht“, schreibt Schwerpunktredakteur Joachim Schlör in seinem Vorwort. Diese Staedte sind Warschau, Berlin, London und Antwerpen. Die Themenpalette reicht dabei von Erinnerungskultur über (Post-)kolonialismus, Topophilie, Antisemitismus, Orthodoxie bis zu Großstadtfeindschaft oder Jewish Renaissance. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-66 bestellt werden.

Die Beiträge des Schwerpunkts präsentieren „einige große europäische Städte als Orte des Aushandelns von Lebensmöglichkeiten und als Räume, deren Lektüre Erkenntnis verspricht“, schreibt Schwerpunktredakteur Joachim Schlör in seinem Vorwort. Diese Staedte sind Warschau, Berlin, London und Antwerpen. Die Themenpalette reicht dabei von Erinnerungskultur über (Post-)kolonialismus, Topophilie, Antisemitismus, Orthodoxie bis zu Großstadtfeindschaft oder Jewish Renaissance. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-66 bestellt werden.

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Besprechungen<br />

Wunschmaschine<br />

Gemeindebau<br />

Robert Temel<br />

Im Wohnbau sieht es mit theoretisch<br />

f<strong>und</strong>ierten <strong>und</strong> gleichzeitig praxisorientierten<br />

Reformvorschlägen schlecht aus:<br />

ExpertInnen liefern häufig minimale Detaillösungsansätze<br />

<strong>für</strong> Auswüchse, die dann<br />

im parteipolitischen Gleichgewicht des<br />

Schreckens versanden. Andererseits gibt es<br />

Entwicklungsideen, denen man leider das<br />

mangelnde Wissen über Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> Praxis des heutigen Wohnbaus<br />

sofort ansieht. Andreas Rumpfhuber<br />

versucht mit seinem Band Wunschmaschine<br />

Wohnanlage, basierend auf seiner Arbeit<br />

im Rahmen des Roland-Rainer-Forschungsstipendiums,<br />

einen Vorschlag zu machen,<br />

der diesem Dilemma entkommt. Sein Beitrag<br />

ist theoretisch f<strong>und</strong>iert, er baut unter<br />

anderem auf seine Forschung zum Thema<br />

Raum <strong>und</strong> Arbeitswelt auf, <strong>und</strong> zieht aus<br />

diesem F<strong>und</strong>ament praktische Konsequenzen.<br />

Er nützt sein Thema, die Wiener<br />

Großwohnanlagen der 1950er bis 1980er<br />

Jahre, <strong>für</strong> eine generelle Diskussion zur<br />

Weiterentwicklung des Wiener sozialen<br />

Wohnbaus. Es gab in diesem Sektor, der<br />

bis heute vom Mythos des Roten Wien<br />

zehrt, auch in der jüngeren Vergangenheit<br />

zweifellos wichtige Neuerungen: Vor etwa<br />

zwanzig Jahren wurde das Fördersystem<br />

mit Bauträgerwettbewerb <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>stücksbeirat<br />

eingeführt, welches einerseits<br />

als Liberalisierung bezeichnet werden<br />

kann, andererseits aber hinsichtlich Qualitätssteigerung,<br />

Preisbeschränkung <strong>und</strong><br />

Bodenpolitik durchaus erfolgreich war. Vor<br />

acht Jahren wurde die soziale Nachhaltigkeit<br />

als neues Kriterium <strong>für</strong> den geförderten<br />

Wohnbau eingeführt. Und seit Kurzem<br />

gibt es ein umfangreiches Programm <strong>für</strong><br />

besonders preiswerte Wohnungen, die<br />

Smart-Wohnungen, um die Zielgruppe in<br />

Richtung niedrige Einkommen zu erweitern.<br />

Im Gemeinderats-Wahlkampf 2015 wurde<br />

sogar ein Neubeginn des Gemeindebaus,<br />

also des kommunalen Wohnungsneubaus<br />

angekündigt, den es in Wien seit fast 15<br />

Jahren nicht mehr gibt. Doch das Potenzial<br />

<strong>für</strong> Innovation ist nach wie vor enorm:<br />

Wichtige Themen des Wohnbaus, die in<br />

Wien in einzelnen Pilotprojekten behandelt,<br />

aber nicht zum Standard wurden,<br />

sind etwa Nutzungsmischung, Wohnen<br />

<strong>und</strong> Arbeiten, hochwertiger öffentlicher<br />

Raum, neue Mobilitätsmodelle, eine Vielfalt<br />

von Wohnbautypen <strong>und</strong> Akteuren<br />

<strong>und</strong> Akteurinnen sowie Selbstorganisation<br />

<strong>und</strong> Aneignung, man könnte generell<br />

sagen: sozialer Städtebau statt allein sozialer<br />

Wohnbau.<br />

Rumpfhubers Studie beschäftigt sich mit<br />

dem Wiener Wohnbau dazwischen – zwischen<br />

dem Roten Wien der 1920er Jahre<br />

<strong>und</strong> der Phase der Liberalisierung seit den<br />

1990er Jahren, begleitet von einer gewissen<br />

Refokussierung auf die soziale Frage in<br />

der jüngsten Zeit. Sein Ansatz ist es, nicht<br />

die überkommene <strong>und</strong> nach wie vor gültige<br />

Perspektive einzunehmen, nach der<br />

Wohnsiedlungen allein Orte des Wohnens,<br />

der Hausarbeit <strong>und</strong> der Freizeit sind, sondern<br />

sie zu Orten des Wohnens <strong>und</strong><br />

Arbeitens zu transformieren, um so <strong>Urbanität</strong><br />

statt bloß ein »Bild von <strong>Urbanität</strong>«<br />

herzustellen. Das ist <strong>für</strong> einen neuen sozialen<br />

Städtebau Wiener Prägung sicher die<br />

richtige Strategie – aktuelle städtebauliche<br />

Ansätze argumentieren heute oft, dass die<br />

Konzentration auf das Wohnen problematisch<br />

sei, imaginieren aber als Alternative<br />

Orte der Freizeit, die von den Leitbildern<br />

der Moderne nicht weit entfernt sind<br />

(Rumpfhuber: »Club Med ohne Animation«).<br />

Sein Ansatz geht von einer Integration<br />

von Wohnen <strong>und</strong> Arbeiten in der<br />

»Stadt nach der Arbeit« aus, setzt dabei<br />

allerdings vorrangig auf leicht verträgliche<br />

Kreativ- <strong>und</strong> Wissensarbeit, die ins »wohnliche«<br />

Umfeld passt – dieser Sektor wächst<br />

zweifellos, ein solcher Fokus greift aber<br />

gerade angesichts der aktuellen Debatte<br />

über die Rückkehr der Produktion in die<br />

Stadt etwas zu kurz. Als wichtige Qualität,<br />

als »Luxus« der Wohnanlagen identifiziert<br />

Rumpfhuber die umfangreichen Grünräume,<br />

die allerdings durch ihren Charakter<br />

als Abstandsgrün ihr Potenzial vergeuden.<br />

Wichtige Verfügungsmasse <strong>für</strong> eine<br />

Weiterentwicklung sind weiters die großflächigen,<br />

ebenerdigen Parkplätze. In seinem<br />

Ansatz werden, um Fläche freizumachen,<br />

Pkws in Parktürmen gesammelt, die<br />

bei Veränderung des Mobilitätsverhaltens<br />

rückgebaut werden können.<br />

Rumpfhuber bezieht sich in seiner Studie<br />

vielfach auf die aktuellen kleinen, innovativen<br />

Ansätze im Wohnbau, die meist nicht<br />

von den großen <strong>und</strong> politiknahen Akteuren<br />

kommen, etwa Baugemeinschaften,<br />

Coworking Spaces, Planungspartizipation<br />

<strong>und</strong> die Belebung der Erdgeschoßzone.<br />

Diese sind zweifellos alle nicht so einflussreich,<br />

dass sie zu einer gr<strong>und</strong>legenden Veränderung<br />

des Wiener Wohnbausystems<br />

werden können – aber dass er auf sie einen<br />

leicht despektierlichen Blick wirft, in dem<br />

man durchaus eine Widerspiegelung der<br />

Ablehnung des selbstorganisierten, genossenschaftlichen<br />

Siedlungsbaus im Wien der<br />

1920er Jahre durch die städtische Sozialdemokratie<br />

sehen kann, haben sie nicht verdient.<br />

So wird in der Studie mehrfach<br />

behauptet, die Wiener Baugemeinschaften<br />

würden vorrangig einer Mehrwertproduktion<br />

<strong>für</strong> die jeweilige Gruppe dienen –<br />

dabei wird übersehen, dass gerade die<br />

Wiener Baugemeinschaften, im Unterschied<br />

etwa zu Deutschland, meist auf Gemeinschaftseigentum<br />

basieren <strong>und</strong> damit eine<br />

Rendite aus der Immobilie generell ausschließen<br />

– im Unterschied zur üblichen<br />

Form des Wiener geförderten Mietwohnungsbaus,<br />

wo heute durch die Vorgabe<br />

des Mietkaufs die Privatisierung der geförderten<br />

Wohnungen durchaus üblich ist.<br />

Auch wenn man Rumpfhuber recht geben<br />

muss, dass diese reformistischen Ansätze<br />

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