Bestandsaufnahmen zu Inklusion
SCHRIFTEN ZU DISABILITY & DIVERSITY VOL. 1 | 04/2017 Im Rahmen der Lehrveranstaltung Bildung: Teilhabe und Inklusion
SCHRIFTEN ZU DISABILITY & DIVERSITY
VOL. 1 | 04/2017
Im Rahmen der Lehrveranstaltung Bildung: Teilhabe und Inklusion
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SCHRIFTEN ZU DISABILITY & DIVERSITY<br />
VOL. 1 | 04/2017<br />
<strong>Bestandsaufnahmen</strong><br />
<strong>zu</strong> <strong>Inklusion</strong><br />
IM RAHMEN DER LEHRVERANSTALTUNG<br />
BILDUNG: TEILHABE UND INKLUSION<br />
1<br />
3. Semester / Jahrgang 2015<br />
LV-Leitung: Dr. Christine Pichler<br />
Studiengang: Disability and Diversity Studies<br />
Klagenfurt, im April 2017
VORWORT<br />
Vorwort<br />
Im Rahmen der Lehrveranstaltung mit dem Titel Bildung: Teilhabe und <strong>Inklusion</strong>, die im dritten<br />
Semester des berufsbegleitenden Bacherlorstudiengangs Disability and Diversity Studies<br />
(DDS) an der FH Kärnten (Studienbereich Gesundheit und Soziales) angesiedelt ist, ist die Idee<br />
entstanden, <strong>Bestandsaufnahmen</strong> <strong>zu</strong> verschiedenen Bereichen passend <strong>zu</strong>m Inhalt der Lehrveranstaltung<br />
<strong>zu</strong> erstellen.<br />
Inhalt der oben genannten Lehrveranstaltung ist es, den Bildungbegriff im Kontext des Erwachsenenlebens<br />
unter Berücksichtigung einer inklusiven Theorie und professionellen Praxis der<br />
DDS <strong>zu</strong> betrachten. Bildung – in einem umfassenden Verständnis – bedeutet die Entwicklung<br />
der Persönlichkeit, die sich von der Geburt oder vor der Geburt bis hin <strong>zu</strong>m Tode vollzieht.<br />
Alles, was man im Laufe eines Lebens erfährt, lernt, sich an Können aneignet und fühlt beeinflusst<br />
die Persönlichkeit. In diesem Zusammenhang spricht man auch in Be<strong>zu</strong>g auf das Erwachsenenalter<br />
von formaler, non-formaler und informeller Bildung für alle Mitglieder einer Gesellschaft<br />
(siehe da<strong>zu</strong> auch das Curriculum der DDS).<br />
Im Zuge der Lehrveranstaltung wurden daher auch unterschiedliche Zugänge <strong>zu</strong> Bildung besprochen<br />
und in Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> den Disability and Diversity Studies gesetzt. Was braucht es für eine<br />
gelungene <strong>Inklusion</strong> und Teilhabe aller Menschen in der Gesellschaft, unabhängig von Geschlecht,<br />
Religion oder weiteren Diversitätskategorien? Was gibt es bereits an <strong>Inklusion</strong> oder<br />
Ähnlichem in den Bereichen Hochschule, Wohnen, Musik, Sport etc.?<br />
Dieser Frage gingen die Studierenden in ihrer Semester-Abschlussarbeit in Form einer Gruppenarbeit<br />
nach. Die Aufgabenstellung war, eine Bestandsaufnahme von Teilhabe und <strong>Inklusion</strong><br />
<strong>zu</strong> einem bestimmten Themenbereich, der selbst <strong>zu</strong> wählen war, <strong>zu</strong> erstellen und nach ersten<br />
Überlegungen und Recherchen in Form eines Artikels <strong>zu</strong> Papier <strong>zu</strong> bringen. Viele unterschiedliche<br />
Zugänge wurden von den Studierenden gefunden, die Freiheit diese auch selbst für das<br />
jeweilige Thema <strong>zu</strong> wählen wurde geboten. Rahmenbedingungen wurden in Form von Vorgaben<br />
<strong>zu</strong> Format und Umfang vorgegeben, inhaltliche Gestaltung und Aufbereitung der jeweiligen<br />
Thematik wurden freigestellt. Nach einigen Feedbackschleifen sind schlussendlich fünf<br />
Artikel entstanden:<br />
Mehrgenerationen-Wohnhäuser<br />
Bauer Ninja, Mandl Karin, Mauchler Sabine, Pabst Julia sowie Zechner Elisabeth gingen der<br />
Frage nach, ob Mehrgenerationen-Wohnhäuser eine Trendwende oder eine Modeerscheinung<br />
sind. In diesem Artikel wird der Bogen über die historische Perspektive des „Ganzen Hauses“<br />
bis hin <strong>zu</strong> gegenwärtigen Beispielen des Generationenwohnens gespannt. Dabei werden auch<br />
Entwicklungen in Be<strong>zu</strong>g auf das Wohnen kritisch hinterfragt und alternative Zugänge <strong>zu</strong>m Generationenaustausch<br />
durch Wohnen dargestellt.<br />
Soziale Architektur<br />
Hartlieb Gertraud, Lüftenegger Barbara, Mauchler Karolin und Wartbichler Christina beschäftigten<br />
sich mit der Frage, ob soziale Architektur ein Baustein auf dem Weg <strong>zu</strong> einer inklusiven<br />
Gesellschaft ist. Zunächst wird geklärt, was überhaupt unter sozialer Architektur und<br />
32<br />
2
VORWORT<br />
partizipativem Bauen verstanden wird. Des Weiteren werden Kriterien und Planungsschritte in<br />
sozialem Wohnbau identifiziert, die anhand von praktischen Beispielen veranschaulicht werden.<br />
Warum soziale Architektur Menschen verbindet und <strong>zu</strong>r Herstellung von Achtung und<br />
Menschenwürde beiträgt, wird im Fazit besprochen.<br />
<strong>Inklusion</strong> an der Hochschule<br />
Mössler Jasmin, Stern Roswitha, Stathopoulos-Dohr Stefanie und Kienberger Stefan wählten<br />
das Thema <strong>Inklusion</strong> an der Hochschule. Als Einstimmung werden zwei fiktive Situationen Studierender<br />
als Szene dargestellt, die veranschaulichen sollen, dass dieses Thema allgegenwärtig<br />
sein kann. Neben der Darstellung gesetzlicher Regelungen und Reformen wird in einem praktischen<br />
Beispiel beschrieben, wie an der Fachhochschule Kärnten die Praxis in dieser Hinsicht<br />
gelebt wird.<br />
Musik verbindet<br />
Jennifer Hammer, Michaela Hren, Alisa Mischitz und Pascale Leder-Schellander bearbeiteten<br />
das Themenfeld Musik. Musik als ein Weg <strong>zu</strong>r <strong>Inklusion</strong> wird nicht nur auf wissenschaftlicher<br />
Ebene seit einigen Jahren begleitet, sondern auch in der Praxis an nationalen und internationalen<br />
Beispielen, wie dem Eurovision Song Contest oder dem No Problem Orchester, sichtbar.<br />
Therapie durch Musik und Musizieren ist ein Weg <strong>zu</strong> gelebter <strong>Inklusion</strong>. Die im Artikel beschriebenen<br />
Beispiele zeigen, dass Musik keine Ausgren<strong>zu</strong>ng kennt.<br />
Projekt „Kick forward“<br />
Anna Diethart, Bernhard Wieser, Christian Wakonig, Petra Gardener und Anna Gruber untersuchten<br />
in ihrem Artikel den Zusammenhang von Straßenfußball und <strong>Inklusion</strong>. Ausgehend vom<br />
oben genannten, von einem deutschen Soziologen in Kolumbien entwickelten Projekt, wird szenisch<br />
dargestellt, wie Straßenfußball für Toleranz funktionieren kann. Durch Sport und Bewegung<br />
ist es möglich Grenzen ab<strong>zu</strong>bauen und <strong>Inklusion</strong> <strong>zu</strong> leben. Herausgehoben werden hierbei<br />
individuelle als auch gesellschaftliche Vorteile.<br />
Die Gruppenarbeiten der Studierenden nehmen unterschiedliche Facetten in den Blickwinkel.<br />
Anspruch auf Vollständigkeit und Repräsentativität ist dabei nicht gegeben, aber diese <strong>Bestandsaufnahmen</strong><br />
sollen da<strong>zu</strong> dienen, Teilhabe und <strong>Inklusion</strong> in unserer Gesellschaft <strong>zu</strong> thematisieren.<br />
Es soll damit der Grundstein dafür gelegt sein, darüber nach<strong>zu</strong>denken, was man als<br />
Einzelner, als Gruppe oder als Gesellschaft da<strong>zu</strong> beitragen kann, Teilhabe und <strong>Inklusion</strong> <strong>zu</strong><br />
leben. Insbesondere für die Disability and Diversity Studies gilt es diese Prozesse professionell<br />
und wissenschaftlich an<strong>zu</strong>regen und <strong>zu</strong> begleiten.<br />
Klagenfurt, im April 2017<br />
Christine Pichler<br />
(Lektorat: Christine Pichler)<br />
4 3
4
Mehrgenerationen-Wohnhäuser –Trendwende oder Modeerscheinung?<br />
Bauer Ninja, Mandl Karin, Mauchler Sabine, Pabst Julia, Zechner Elisabeth<br />
Zusammenfassung<br />
„Mehrgenerationen-Wohnhäuser“ – ein Begriff bei dem folgende Assoziationen kommen:<br />
Alt und Jung wohnen unter einem Dach, häufig verbunden mit Konflikten zwischen den<br />
Generationen, oder wie beständig gesagt wird: „Alt und Jung unter einem Dach, das passt<br />
nicht <strong>zu</strong>sammen!“. In diesem Artikel wird versucht die Vorzüge des Systems „Generationenwohnen“<br />
heraus<strong>zu</strong>arbeiten, und es wird aufgezeigt, wie dies in der heutigen Zeit wertschätzend<br />
gelingen kann. Ein populäres Modell ist das Mehrgenerationenhaus, welches<br />
Großfamilien ermöglicht gemeinsam unter einem Dach <strong>zu</strong> wohnen, bei gleichzeitigem Genießen<br />
der „eigenen vier Wände“. Mit einem offenen Treffpunkt versehen, wird es gleichzeitig<br />
<strong>zu</strong> einem Ort der Begegnung.<br />
Der Artikel beschreibt die Entwicklung der Familie in den vergangenen Jahrhunderten. Wie<br />
es von Großfamilien <strong>zu</strong> Kleinfamilien kam und welche Rolle die Autonomie der Familie<br />
spielt. Außerdem wird genau beleuchtet, was Generationenwohnen in der heutigen modernen<br />
Zeit bedeutet und welche Faktoren für ein gelungenes Miteinander verantwortlich sind.<br />
Darüber hinaus wird ein Praxisbeispiel <strong>zu</strong>r besseren Veranschaulichung der Generationenbegegnungen<br />
in Form des „Mehrgenerationenhauses“ vorgestellt.<br />
1. Einleitung<br />
Wohnen gehört <strong>zu</strong> den elementarsten Bedürfnissen<br />
der Menschen und weckt Assoziationen<br />
wie Sicherheit, Schutz, Geborgenheit,<br />
Kontakt, Kommunikation und Selbstdarstellung.<br />
Für die meisten Haushalte stellt<br />
die Wohnung den Lebensmittelpunkt dar,<br />
gleichzeitig ist das Wohnen an sich einem<br />
ständigen Wandel unterworfen. In der heutigen<br />
Zeit wohnen in den meisten Fällen<br />
Menschen <strong>zu</strong>sammen zwischen denen eine<br />
Blutsverwandtschaft besteht, also Familienangehörige.<br />
Wohnformen mit Großfamilien<br />
in denen Seitenverwandte, Groß- und Urgroßeltern<br />
oder Hausangestellte leben sind<br />
in unserer Gesellschaft kaum noch <strong>zu</strong> finden.<br />
Die Familie heute bestehend aus zwei<br />
Generationen, bestimmt das vorherrschende<br />
Wohnleitbild. Im 20. Jahrhundert waren der<br />
soziale Wohnungsbau und die technischen<br />
Normierungen kennzeichnend, während<br />
sich das Wohnen heute durch die postmoderne<br />
Transformation aller Lebensverhältnisse,<br />
insbesondere durch Individualisierung<br />
im Wandel befindet. Unter „Individualisierung“<br />
ist ein Übergangsprozess des Individuums<br />
von der Fremd- <strong>zu</strong>r Selbstbestimmung<br />
<strong>zu</strong> verstehen. Klassische Familienmuster,<br />
wie die Kernfamilie, zerfallen.<br />
Was für die gegenwärtige wohnliche Entwicklung<br />
relevant ist, ist vor allem die Singularisierung<br />
als freiwillige oder unfreiwillige<br />
Form des Alleinwohnens und damit<br />
verbunden, die Schrumpfung der Haushaltsgrößen.<br />
Viele, vor allem hochbetagte<br />
Menschen, wohnen alleine, die meisten von<br />
5 5
MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />
ihnen sind Frauen, resultierend aus ihrer<br />
längeren Lebenserwartung im Vergleich <strong>zu</strong><br />
den Männern. Auch bleiben die „Alten“ länger<br />
jung, aktiv und vital und sind bestrebt<br />
ihre Selbstständigkeit so lange als möglich<br />
<strong>zu</strong> erhalten. Ein Wohnen im Alten- oder<br />
Pflegeheim kommt womöglich erst im Fall<br />
der Pflegebedürftigkeit in Frage. In Be<strong>zu</strong>g<br />
auf das Thema Wohnen ist in den Lebensentwürfen<br />
der älteren Personen daher ein<br />
neuerlicher Variantenreichtum an die Stelle<br />
von Pflege innerhalb der Familie oder Altenheim<br />
getreten. (Hannemann, 2014)<br />
Ein sehr populäres Modell ist das Mehrgenerationen-Wohnhäuser.<br />
Diese sollen das<br />
Miteinander der Generationen aktiv fördern<br />
und Raum für gemeinsame Aktivitäten<br />
schaffen. Durch das Zusammenspiel der<br />
Generationen sollen das Erfahrungswissen<br />
bewahrt und die Alltagskompetenz gestärkt<br />
werden. Mittelpunkt in jedem dieser Häuser<br />
ist ein „offener Treff“. Hier begegnen sich<br />
Menschen, kommen miteinander ins Gespräch<br />
und knüpfen erste Kontakte. In der<br />
Regel sind Mehrgenerationen-Wohnhäuser<br />
auch mit örtlichen Kultur- und Bildungseinrichtungen<br />
sowie Freiwilligenverbänden<br />
verknüpft. Ein Konzept, welches im süddeutschen<br />
Raum entstand, ist das Konzept<br />
der „Lebensräume für Jung und Alt“. Es<br />
wurde von der deutschen Stiftung Liebenau<br />
entwickelt, und reagiert auch auf demografische<br />
Veränderungen. Im Mittelpunkt des<br />
Konzeptes der Lebensräume steht die Nachbarschaftshilfe,<br />
die auf Dienstleistungsverhinderung<br />
abzielt. Fähigkeiten der Hausbewohner<br />
sollen miteinander verknüpft werden<br />
und somit <strong>zu</strong>r Entstehung eines Selbsthilfesystems<br />
beitragen. Alleinerziehende<br />
können sich dadurch beispielsweise durch<br />
regelmäßige Tätigkeiten etwas da<strong>zu</strong>verdienen.<br />
(St. Anna, 2015)<br />
In Zusammenhang mit dem Konzept des<br />
Generationenwohnens ist interessant einen<br />
Blick auf die historische Entwicklung der<br />
Familienstruktur <strong>zu</strong> werfen.<br />
2. Historischer Rückblick<br />
Wer vom Idealbild einer harmonischen<br />
Großfamilie spricht, in der mehrere Generationen,<br />
Eltern, Kinder und Großeltern unter<br />
einem Dach wohnen, verweist gerne auf die<br />
Vergangenheit. In der Familienforschung<br />
ist man sich bereits lange einig, dass diese<br />
Form des Generationenwohnens eher die<br />
Ausnahme als die Regel war. Vor 1900 lag<br />
die mittlere Lebenserwartung bei unter 50<br />
Jahren, was bedeutet, dass die Großeltern<br />
schon meist vor der Geburt ihrer Enkel verstarben,<br />
somit selten Drei-Generationenhaushalte<br />
<strong>zu</strong>stande kamen. (Planert, 2007)<br />
Eine Form des Generationenwohnens hingegen<br />
stellte das sogenannte „Ganze Haus“<br />
dar, das sich in vorindustrieller Zeit häufig<br />
als ideale Wohnform präsentierte. Hier bezog<br />
sich das gemeinsame Wohnen jedoch<br />
nicht auf die verwandtschaftliche Familie,<br />
sondern das Haus, als Wohn- und <strong>zu</strong>gleich<br />
Arbeitsstätte <strong>zu</strong>r Erwirtschaftung des Eigenbedarfs,<br />
beherbergte sowohl Familie als<br />
auch Dienstpersonal. Jeder war auf die Leistung<br />
des anderen angewiesen, und man erhielt<br />
auch gegenseitige Unterstüt<strong>zu</strong>ng.<br />
Selbst in ländlich strukturierten Gegenden<br />
lebte zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert<br />
nur jede neunte Familie mit den Großeltern<br />
unter einem Dach. Aufgrund von Analysen<br />
von Geburts- und Sterberegistern wurde<br />
nachgewiesen, dass vom 16. bis ins 19.<br />
Jahrhundert Familiengrößen von 4-5 Personen<br />
die statistische „Regelfamilie“ bildeten.<br />
Erst im 20. Jahrhundert, als die durchschnittliche<br />
Lebenserwartung gestiegen<br />
war, entstanden Drei- oder sogar Viergenerationenhaushalte<br />
in bäuerlichen Familien.<br />
Im bürgerlichen Bereich war jedoch der<br />
Trend <strong>zu</strong>r Kernfamilie spürbar, als Mutter,<br />
Vater und Kinder. Diese Intimisierung der<br />
66
MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />
Familie ermöglichte gegenüber dem „Ganzen<br />
Haus“, welches die Familienbeziehung<br />
<strong>zu</strong> einem quasi-öffentlichen Raum machte,<br />
der Familie ihre Autonomie in der Gestaltung<br />
ihres privaten alltäglichen Raumes.<br />
Darüber hinaus war der Trend der Großeltern<br />
auf selbstbestimmtes Wohnen spürbar.<br />
(Gerlach, 2004, S.41-50)<br />
Mehrgenerationen-Wohnhäuser sind eine<br />
Möglichkeit des Generationenwohnens und<br />
des Kontakts zwischen den Generationen.<br />
Eine weitere Möglichkeit stellt das Mehrgenerationenhaus<br />
dar, das flexibel und offen<br />
gestaltet ist und sich den individuellen Bedürfnissen<br />
der Zielgruppen anpasst. In folgender<br />
Szene soll ein Einblick in das Mehrgenerationenhaus<br />
in Graz geboten werden.<br />
3. Szene: Das Mehrgenerationenhaus in<br />
Waltendorf, Graz<br />
Das Mehrgenerationenhaus Waltendorf ist<br />
eine Initiative des Schutzvereins Ruckerlberg,<br />
einer Wohngegend im Grazer Bezirk<br />
Waltendorf.<br />
Die Einrichtung schafft, ohne selbst über<br />
Wohnräumlichkeiten <strong>zu</strong> verfügen, durch<br />
sein breites Angebot einen Ort der Begegnung<br />
für Menschen, die nicht unter einem<br />
gemeinsamen Dach mit anderen Generationen<br />
wohnen. In einem Interview mit Frau<br />
Steffen, die das Mehrgenerationenhaus in<br />
Waltendorf gründete, konnten da<strong>zu</strong> nähere<br />
Details gewonnen werden:<br />
Frau Steffen, wann wurde das Mehrgenerationenhaus<br />
Waltendorf gegründet und<br />
wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, ein<br />
Mehrgenerationenhaus <strong>zu</strong> gründen?<br />
Das Mehrgenerationenhaus Waltendorf<br />
wurde im Mai 2012 eröffnet. Die Räumlichkeiten<br />
dienten ursprünglich dem Bezirksamt<br />
Waltendorf und standen damals unter<br />
Denkmalschutz. Wir als Verein wollten unbedingt,<br />
dass dieses Haus erhalten bleibt<br />
und begaben uns daher auf die Suche nach<br />
einem Projekt. Dabei entstand schnell die<br />
Idee, etwas <strong>zu</strong> realisieren, das allen Bewohner_innen<br />
unseres Bezirkes <strong>zu</strong> Gute kommen<br />
soll. Wir wollten einen Ort der Begegnung<br />
schaffen. Zum damaligen Zeitpunkt<br />
gab es bislang nur in Deutschland Mehrgenerationenhäuser.<br />
Wir klemmten uns hinter<br />
diese Idee, ein solches auch bei uns um<strong>zu</strong>setzen<br />
und entwarfen ein Ideenpapier, mit<br />
welchem wir an die Stadt Graz herantraten<br />
um das Nachfolgeprojekt initiieren <strong>zu</strong> können.<br />
Wie wurde das Mehrgenerationenhaus<br />
von Seiten der Bevölkerung angenommen?<br />
Wie entwickelte sich der Übergang<br />
vom Bezirksamt <strong>zu</strong>m Mehrgenerationenhaus?<br />
Aufgrund der angrenzenden Volksschule<br />
sprach sich sehr bald herum, dass wir ein<br />
offenes Haus sind, das unter anderem flexible<br />
Betreuung für Kinder anbietet, wenn<br />
einmal eine Lücke in der Familienzeitplanung<br />
entsteht. Diese Zielgruppe von Frauen<br />
mittleren Alters und deren Kinder fanden<br />
überraschend schnell den Weg in unser<br />
Haus. Was den älteren Teil der Bevölkerung<br />
hingegen anbelangt, so dauerte es fast<br />
zwei bis drei Jahre, diesen davon <strong>zu</strong> überzeugen,<br />
dass es was die Nut<strong>zu</strong>ng des Mehrgenerationenhauses<br />
angeht, keinerlei<br />
Zwang oder Verpflichtung gäbe, man kommen<br />
und gehen könne, wann auch immer<br />
man wolle und jeder seine Ideen einbringen<br />
könne.<br />
Wie würden Sie das Mehrgenerationenhaus<br />
beschreiben?<br />
Als einen Ort für alle, die <strong>zu</strong>m Beispiel etwas<br />
können und das mit mehr Leuten teilen<br />
möchten als es sich <strong>zu</strong>hause vielleicht anbietet.<br />
Zielpublikum sind unter anderem –<br />
7 7
MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />
aber natürlich nicht nur – sozial Alleinstehende,<br />
die sich zwar allein behaupten können<br />
was das Wohnen anbelangt aber die soziale<br />
Anbindung brauchen. Da<strong>zu</strong> dienen<br />
<strong>zu</strong>m Beispiel unsere offenen Nachmittage,<br />
die von Montag bis Freitag jeden Tag stattfinden.<br />
Wie läuft ein typischer Nachmittag im<br />
Mehrgenerationenhaus Waltendorf ab?<br />
Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder man<br />
nutzt unsere Angebote, die auch auf dem<br />
Stundenplan im Schaukasten vor dem Haus<br />
veranschlagt sind, oder man kommt einfach<br />
herein <strong>zu</strong>m Tratschen. Manche Personen<br />
brauchen wirklich extrem lang, bis sie sich<br />
trauen, herein<strong>zu</strong>kommen. Das sind vorwiegend<br />
ältere Männer.<br />
Wer kommt typischerweise ins Mehrgenerationenhaus?<br />
Gibt es eine (Haupt-)Zielgruppe?<br />
Es gibt keine Hauptzielgruppe. Zielgruppe<br />
sind alle, die hier wohnen in naher oder<br />
weiterer Umgebung. Es ist wirklich jeder<br />
bei uns herzlich willkommen.<br />
Sie bieten mehrere Kurse und Aktivitäten<br />
für jeweils unterschiedliche Zielgruppen,<br />
<strong>zu</strong>m Beispiel Vorlesestunde für Kinder o-<br />
der Internetcafé 50+, an. Gibt es auch welche,<br />
mit denen Sie aktiv das Zusammentreffen<br />
/ das Miteinander der Generationen<br />
fördern?<br />
Wir versuchen jeden Monat mindestens eine<br />
Veranstaltung an<strong>zu</strong>bieten, <strong>zu</strong> der alle Generationen<br />
kommen können. Zur Weihnachtszeit<br />
haben wir ein Keksebacken veranstaltet.<br />
Zu diesem kamen zwei Männer, die noch<br />
nie <strong>zu</strong>vor in ihrem Leben Kekse gebacken<br />
haben. Als wir dann gegen 17 Uhr mit dem<br />
Backen fast fertig waren, waren das diejenigen,<br />
die plötzlich begonnen haben mit uns<br />
Weihnachtslieder <strong>zu</strong> singen. Jeden dritten<br />
Donnerstag im Monat findet bei uns der Generationenstammtisch<br />
statt. Das ist eine fixe<br />
Veranstaltung, an der wirklich ganz unterschiedliche<br />
Personen teilnehmen. Vorwiegend<br />
aber kommen die gleichen älteren<br />
Personen, die sich gerne einmal länger unterhalten<br />
möchten. Zusätzlich veranstalten<br />
wir Leseabende, <strong>zu</strong> denen auch alle Generationen<br />
kommen. Auch einen Hausmusikabend<br />
haben wir bereits veranstaltet und er<br />
war ein voller Erfolg. Die älteste Besucherin<br />
des Hausmusikabends war 82 Jahre alt,<br />
die jüngste gerade einmal 6 Jahre. Im Anschluss<br />
an solche Veranstaltungen gibt es<br />
immer noch genügend Zeit sich aus<strong>zu</strong>tauschen<br />
und so unterhielten sich die erwachsenen<br />
Besucher_innen noch weiter, während<br />
die Kinder es sich dann in den Spielräumlichkeiten<br />
gemütlich machten.<br />
Welche Erkenntnisse konnten Sie aus Ihrer<br />
viereinhalb jährigen Tätigkeit gewinnen?<br />
Als anbietende Institution haben wir gelernt,<br />
dass man nichts forcieren kann. Man<br />
kann den Menschen nur etwas anbieten.<br />
Man muss als Anbieter natürlich verlässlich<br />
sein und gewisse fixe Zeiten <strong>zu</strong>r Verfügung<br />
stellen und bietet somit Gelegenheit für<br />
Treffen, aber man kann nichts erzwingen.<br />
Deshalb ist die Freude umso größer, wenn<br />
unser Engagement Früchte trägt, also,<br />
wenn Leute <strong>zu</strong>einander finden. So haben<br />
wir <strong>zu</strong>m Beispiel einer Familie hier bei uns<br />
so<strong>zu</strong>sagen eine Oma „verschafft“.<br />
Welche Aktivitäten werden gut angenommen,<br />
bei welchen gibt es noch „Aufholbedarf“?<br />
Die Angebote, die wir für Jung und Alt ausschreiben,<br />
würde ich schon gerne mehr besucht<br />
sehen. Es erscheint mir, dass es da oft<br />
88
MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />
noch Hemmungen gibt, bei uns herein<strong>zu</strong>kommen<br />
und zwar vorwiegend bei der älteren<br />
Generation Diese Hemmschwelle ist oft<br />
schwer <strong>zu</strong> überwinden. Beim Adventsingen<br />
im Jahr 2015, dem Pendant <strong>zu</strong>m diesjährigen<br />
Kekse backen, traute sich nur eine ältere<br />
Dame daran teil<strong>zu</strong>nehmen, während<br />
sonst überwiegend Kinder mitmachten.<br />
Mehrgenerationen-Wohnhäuser zeichnen<br />
sich durch die gegenseitige Unterstüt<strong>zu</strong>ng<br />
in unmittelbarer Reichweite aus. Wie unterstützen<br />
sich die Besucher_innen des<br />
Mehrgenerationenhauses Waltendorf?<br />
Der Grundstein ist das Sich-Kennenlernen<br />
und wird oft hier bei uns gelegt. So gab es<br />
schon etliche Leute, die fast nebeneinander<br />
wohnten und sich hier bei einem Kindernachmittag<br />
trafen. Bei uns nahmen sie sich<br />
erstmals gegenseitig wahr, kamen ins Gespräch<br />
und helfen nun einander etwa beim<br />
Abholen der Kinder von der Schule. Als Beispiel<br />
genannt werden kann aber auch die<br />
Oma, die wir, wie ich schon erwähnt habe,<br />
„vermittelt“ haben. Dieses Vernetzen und<br />
die gegenseitige Hilfe, die früher am Land<br />
selbstverständlich war, nehmen jetzt oft bei<br />
uns ihren Anfang. Die Kontakte, die außerhalb<br />
des Hauses bestehen, sind unsere<br />
schönsten Erfolge.<br />
(Interview mit Karin Steffen, Jänner 2017)<br />
4. Was braucht ein gelungenes Generationenwohnen?<br />
In allen Bereichen des Lebens geht es um<br />
Selbstbestimmung. Möchten Sie nicht auch<br />
selbst entscheiden, wo und wie Sie Wohnen<br />
und Leben? Im Laufe des Lebens stehen wir<br />
vor vielen Herausforderungen: Aus<strong>zu</strong>g der<br />
Kinder, Familienplanung, pflegebedürftige<br />
Personen, etc. Zur jeweiligen Lebensform<br />
wird eine andere Wohnform gebraucht.<br />
Stellen Sie sich vor, sie müssten nicht bei<br />
jedem neuen Lebensabschnitt umziehen,<br />
sondern könnten immer in Ihrem gewohnten<br />
Umfeld bleiben. Das wäre ein Wunsch,<br />
der mit „Generationenwohnen“ umgesetzt<br />
werden könnte. Denn hierbei handelt es sich<br />
um ein altersgemischtes Wohnen bei dem<br />
Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senior_innen<br />
<strong>zu</strong>sammenleben. In diesem Abschnitt<br />
des Artikels geht es darum, aus den<br />
verschiedenen Perspektiven <strong>zu</strong> hinterfragen,<br />
was jede/r einzelne Betroffene für ein<br />
gelungenes Generationenwohnen braucht<br />
und wie Generationenwohnen gelingen<br />
kann.<br />
Aus einem Artikel ist entnehmbar, was „sozial<br />
engagierte Architektur“ ausmacht. Der<br />
Architekt Christoph Schmidt erläutert: „Es<br />
geht darum, durch die Gestaltung privater<br />
und öffentlicher Räume vielfältige Formen<br />
urbanen Zusammenlebens <strong>zu</strong> ermöglichen.“<br />
(Schmidt, 2015) Es sollen Räume<br />
des Austausches und der Kommunikation<br />
geschaffen werden. Dies kann in Form von<br />
Bibliotheken, Gärten oder gemeinsamen<br />
Waschräumen geschehen. (Schmidt, 2015)<br />
Im Land Salzburg gibt es <strong>zu</strong>m Beispiel das<br />
Pilotprojekt „Rosa Zukunft“. Hier finden<br />
eine hauseigene Infrastruktur und ein eigenes<br />
Netzwerk statt. Diverse Veranstaltungen,<br />
wie das „Erzählcafé“ werden von Bewohner_innen<br />
selbst veranstaltet und gerne<br />
genutzt. Spielplätze, Einkaufsgeschäfte und<br />
Treffpunkte, wie Parks oder Gemeinschaftsräume<br />
finden hier ihren Platz. Kurse<br />
und Veranstaltungen werden angeboten.<br />
Vor allem Sicherheit ist ein wichtiger Faktor.<br />
Sicherheit, dass jemand da ist, wenn<br />
man ihn/sie braucht. Eine Hausverwaltung,<br />
die alle Facetten und Faktoren überblickt<br />
und begleitet rundet das Projekt ab. (Salzburger<br />
Wohnbaugruppe, 2016, S. 10-12)<br />
Holzinger (2009, S. 9) erläutert: „Nachbarschaftliche<br />
Gemeinschaft mit gegenseitiger<br />
Hilfe und gemeinsamer Freizeitgestaltung“<br />
9 9
MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />
sind nur ein paar Ziele des Generationenwohnens.<br />
Weitere Ziele sind, dass durchmischte<br />
Altersstrukturen entstehen und die<br />
Kompetenzen eines jeden Einzelnen genutzt<br />
werden. Zum Beispiel haben viele ältere<br />
Menschen von der Technik kaum eine<br />
Ahnung. Die Jungen, die damit aufgewachsen<br />
sind, können mit ihrer Hilfe den Älteren<br />
<strong>zu</strong>r Seite stehen. Ein wesentlicher Teil ist<br />
auch, dass jede/r einen eigenen Wohnbereich<br />
hat, aber dennoch nicht alleine ist. Darum<br />
wäre es von Vorteil, dass jede Person<br />
eine eigene leistbare Wohnung innerhalb eines<br />
großen Areals besitzt. Die Wohnung<br />
und Umgebung sollen barrierefrei sein, damit<br />
Personen jeden Alters darin leben können.<br />
Durch das Zusammenleben von Jung<br />
und Alt soll der Zusammenhalt der Generationen<br />
wieder gestärkt werden und ein Miteinander<br />
entstehen, das vor vielen Jahren<br />
selbstverständlich war. Allerdings könnten<br />
auch Konflikte aus den unterschiedlichen<br />
Zeitrhythmen entstehen. „Kinder wollen<br />
nachmittags „raus“, Ältere wollen Nachmittagsschläfchen,<br />
Jugendliche sind<br />
„nachtaktiv“ und Erwachsene bzw. Familien<br />
brauchen Nachtruhe.“ (Holzinger,<br />
2009, S. 12) Dennoch sollten die Chancen<br />
nicht vergessen werden, die hierbei entstehen.<br />
Die Älteren passen auf die Kinder auf.<br />
Aufgaben in der Wohnanlage könnten übernommen<br />
werden. Gegenseitiger Austausch<br />
und Anerkennung können vollzogen werden<br />
und Erledigungen für Andere können<br />
gemacht werden. Jede/r kann jedem helfen.<br />
(Holzinger, 2009, S. 9-16)<br />
5. Fazit<br />
Es bedarf ein gegenseitiges Geben und Nehmen,<br />
welches auf Vertrauen und Wertschät<strong>zu</strong>ng<br />
aufgebaut ist. Freiwilliges Engagement<br />
und die Hilfe <strong>zu</strong>r Selbsthilfe können<br />
dem Projekt Generationenwohnen <strong>zu</strong> Erfolg<br />
verhelfen. Durch den Austausch mit anderen<br />
und den einhergehenden Erfahrungen<br />
können Generationsprojekte da<strong>zu</strong> beitragen,<br />
dass junge Menschen ihre Sicht auf die<br />
alten Menschen verändern und umgekehrt.<br />
Was vor vielen Jahren in den Familien als<br />
selbstverständlich galt, wird heute neu gehandhabt.<br />
Auch wenn keine Blutsverwandtschaft<br />
besteht, können Freundschaften und<br />
gegenseitige Unterstüt<strong>zu</strong>ngsangebote entstehen.<br />
Zudem geht aus der Szene hervor,<br />
dass Betreuung ein wichtiger Faktor ist und<br />
von den Betroffenen sehr gut angenommen<br />
wird. Auch die Partizipation darf und soll<br />
nicht vergessen werden um das Generationenwohnen<br />
für alle Bewohner_innen so angenehm<br />
wie möglich <strong>zu</strong> gestalten. Zudem<br />
wird jedem, der möchte, die Möglichkeit<br />
geboten neue Leute kennen<strong>zu</strong>lernen und<br />
Kontakte <strong>zu</strong> knüpfen. Die Zeiten und die<br />
Wohnsituationen haben sich geändert und<br />
das Generationenwohnen ist ein gelungenes<br />
Projekt um jedem Menschen die Chance <strong>zu</strong><br />
geben sich selbst <strong>zu</strong> verwirklichen. In diesem<br />
Sinne sind die Mehrgenerationen-<br />
Wohnhäuser und das Mehrgenerationenhaus<br />
womöglich Trendwenden und keine<br />
kurzlebigen Modeerscheinungen.<br />
Quellen:<br />
Gerlach, Irene (2004). Familienpolitik. Springer Fachmedien, Wiesbaden, 41-50. Zugriff am 09.12.2016<br />
unter http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138003/historischer-rueckblick?p=all<br />
Hannemann, Christine (5.5.2014). Bundeszentrale für politische Bildung: Zum Wandel des Wohnens.<br />
Zugriff am 15.01.2017 unter http://www.bpb.de/apuz/183450/<strong>zu</strong>m-wandel-des-wohnens<br />
10
MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />
Hofer, Kathrin & Moser-Siegmeth, Verena (2010). Soziale Isolation älterer Menschen. Ursachen, Folgen<br />
und technische Lösungsansätze. Wien. 9-15. Zugriff am 9.12.2016 unter http://www.roteskreuz.at/fileadmin/user_upload/LV/Wien/Metanavigation/Forschungsinstitut/MitarbeiterInnen%20+%20Projektberichte/Soziale%20Isolation%2015%2012%202010_komprimiert.pdf<br />
Holzinger, Hans (2009). Mehrgenerationen-Wohnen als Herausforderung und Chance – Internationale<br />
Beispiele. 9-19. Zugriff am 25.11.2016 unter https://jungkbibliothek.files.wordpress.com/2015/01/mehrgenerationenwohnen_vortragholzinger_jbz.pdf<br />
Interview (12.01.2017). Steffen, Karin. Obfrau des Schutzvereins Ruckerlberg. Mehrgenerationenhaus<br />
Waltendorf. Graz 2017.<br />
Planert, Ute (2007). V. Familie im Wandel. Mythos Familie. Spiegel Special, 4. Zugriff am 9.12.2016<br />
unter http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-52497373.html<br />
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Magazin der Salzburger Wohnbaugruppe. 1/16, 3-13. Zugriff am 25.11.2016 unter http://www.salzburgwohnbau.at/wp-content/uploads/2016/04/fr%C3%BChjahrs-aufleben.pdf<br />
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Journalistin in Berlin. https://www.goethe.de/de/kul/arc/20587271.html. 16.01.2017.<br />
St. Anna – Hilfe für ältere Menschen Liebenau – Leben im Alter Heilig Geist – Leben im Alter (Hrsg.)<br />
(1,2015). Anna live. Liebenauer Altenhilfe-Magazin Deutschland. Zugriff am 15.01.2017 unter<br />
https://www.st.anna-hilfe.de/fileadmin/st-anna/pdf/hausprospekte/periodika/annalive1_15.pdf<br />
11 11
12
Soziale Architektur Soziale Architektur – ein Baustein - ein auf Baustein dem Weg auf <strong>zu</strong> dem einer Weg inklusiven <strong>zu</strong> einer Gesellschaft<br />
inklusiven Gesellschaft<br />
Hartlieb Gertraud, Lüftenegger Barbara, Mauchler Karolin, Wartbichler Christina<br />
Zusammenfassung<br />
Im Zentrum des Beitrages steht die Frage, was soziale Architektur ist, was sie im Zusammenspiel<br />
von Partizipation leisten kann und welche Kriterien erfüllt werden müssen um von inklusiven,<br />
sozialen Bauprojekten sprechen <strong>zu</strong> können. Anhand bereits umgesetzter Projekte wird<br />
dokumentiert, welchen Nutzen soziale Architektur und partizipatives Bauen für soziale Gemeinschaften<br />
mit sich bringen kann. Der Beitrag richtet seinen Focus sowohl auf soziale Wohnbauprojekte<br />
als auch auf die Umset<strong>zu</strong>ng öffentlicher, sozialer Bauprojekte.<br />
1. Soziale Architektur und partizipatives<br />
Bauen: Was ist das?<br />
Soziale Architektur ist Bauen unter partizipativer<br />
Berücksichtigung aller Nutzergruppen<br />
für Gemeinschaften und spiegelt im Begriff<br />
die „innere Haltung“ wider, mit der an<br />
den umfassenden Planungsprozess herangegangen<br />
wird. Soziale Architektur versteht<br />
sich daher als Prozess und Werdegang einer<br />
Bauaufgabe und nicht als Architektur-Kategorie.<br />
Das Ergebnis ist ganzheitlich: Konzept,<br />
Gruppenidentität und Architektur gehören<br />
<strong>zu</strong>sammen. Solche Projekte entstehen<br />
immer dann, wenn sich Gruppen und Gemeinschaften<br />
auf eine partizipative Planung<br />
einlassen. Die Steuerung solcher Prozesse<br />
ist eine Herausforderung an die Kommunikation:<br />
Experten und Laien sind gefordert,<br />
eine gemeinsame Sprache <strong>zu</strong> finden. Teilhabe<br />
erfordert daher Wissen und ganz nebenbei<br />
wird der Architekt <strong>zu</strong>m Moderator.<br />
Er begleitet den Kommunikationsprozess<br />
so, dass die Gruppe einen gemeinsamen<br />
Nenner für die unterschiedlichen Wünsche<br />
und Bedürfnisse der Einzelnen <strong>zu</strong> finden<br />
vermag. Gemeinsam wird festgestellt, was<br />
wirklich gebraucht wird und so finden neben<br />
Aspekten aus dem Leben auch solche<br />
aus der Arbeit Eingang in die Planung (Soziale<br />
Architektur 2016).<br />
In der Regel muss man wissen, wie die<br />
Menschen leben, so das Credo von Elke<br />
Maria Alberts, einer Überzeugungstäterin<br />
der Sozialen Architektur, die sich mit ihrem<br />
multidisziplinären Team auf Kindergärten,<br />
Schulen, Sozialstationen, Jugendeinrichtungen<br />
und barrierefreies Wohnen für Jung<br />
und Alt spezialisiert hat. Schüler und Studierende<br />
<strong>zu</strong> fragen, wie sie sich ihre ideale<br />
Lernumgebung vorstellen und was sie <strong>zu</strong>m<br />
Lernen brauchen, ist zwar naheliegend, jedoch<br />
nicht üblich, meint Alberts. Sie vergleicht<br />
den Flur einer Schule mit der Hauptstraße<br />
eines Dorfes und meint, dass der Flur<br />
unterschiedliche Nischen bieten muss und<br />
es vielen Bauherren noch immer <strong>zu</strong> teuer<br />
ist, soviel Geld für diesen Raum aus<strong>zu</strong>geben<br />
(Soziale Architektur 2016).<br />
Erst im Miteinander erfährt man, was beim<br />
Um- und Neubau alles bedacht werden<br />
muss: beispielsweise sehen offene Treppenhäuser<br />
schön aus, sind aber für autistische<br />
13 13
SOZIALE ARCHITEKTUR<br />
Kinder möglicherweise problematisch. Das<br />
plötzlich auftauchende Licht in offenen<br />
Treppenhäusern können autistische Kinder<br />
nicht einordnen, was unter Umständen <strong>zu</strong><br />
Angstattacken führen kann. Da lernen auch<br />
die Architekten da<strong>zu</strong>, denn oft wird <strong>zu</strong> Beginn<br />
von Projekten in unterschiedlichen<br />
(Fach-)Sprachen gesprochen, so Albers,<br />
und fügt hin<strong>zu</strong>, dass es ihr ein Anliegen ist<br />
einen diskutierbaren Vorschlag <strong>zu</strong> machen<br />
(Soziale Architektur 2016).<br />
2. Haben wir die Wände nur im Kopf?<br />
„Wir meinen das Gebäude und sagen<br />
Schule“, so der Architekt Marc Wübbenhorst<br />
und meint damit, dass in der deutschen<br />
Sprache mit dem Wort Schule die Institution<br />
Schule, der Unterricht in der Schule<br />
und das Schulgebäude selbst benannt werden<br />
können. „Man geht in die Schule oder<br />
man war in der Schule“, erklärt Wübbenhorst.<br />
Eine Schule für Alle, eine inklusive<br />
Schule wäre seiner Meinung nach unter<br />
Miteinbe<strong>zu</strong>g größtmöglicher Flexibilität ein<br />
Gebäude, das sich auf jeden Schüler einstellen<br />
kann und vom Mobiliar bis <strong>zu</strong>m Raum<br />
eine vielfache Nut<strong>zu</strong>ngsmöglichkeit <strong>zu</strong>lässt.<br />
Es gibt keine Patentlösungen, und so<br />
muss man sich wohl am ehesten von der<br />
Idee verabschieden, dass es Standard-Lösungen<br />
für heterogene Lerngruppen gibt<br />
(Soziale Architektur 2016).<br />
Ein erfolgversprechendes und innovatives<br />
Wiener Schulbauprojekt – es befindet sich<br />
noch in der Umset<strong>zu</strong>ngsphase – ist der<br />
Campus Plus. In diesem Projekt wird es<br />
durch bauliche Maßnahmen ermöglicht<br />
werden, den pädagogischen Betrieb von<br />
Kindergarten und Schule gemeinsam <strong>zu</strong> gestalten.<br />
Im Campus Plus sollen Kinder im<br />
Alter von null bis zehn Jahren ihren Tag<br />
miteinander unter einem Dach verbringen.<br />
Geplant ist, dass jeweils vier Schulklassen<br />
und zwei Kindergarten-gruppen, sowie eine<br />
Sonderklasse (<strong>zu</strong>m Beispiel: Vorschulgruppe,<br />
eine heil-pädagogische Gruppe o-<br />
der eine basale Klasse) <strong>zu</strong> Bildungsbereichen<br />
– auch „Cluster“ genannt – mit multifunktionalen<br />
Räumen <strong>zu</strong>sammengefasst<br />
werden. Das heißt, Kinder befinden sich in<br />
der Unterrichtszeit und in den Pausen nicht<br />
ausschließlich im eigenen Klassenraum,<br />
sondern bekommen die Möglichkeit sich<br />
freier <strong>zu</strong> bewegen, so können sie (selbstständig)<br />
andere Gruppen besuchen. Ein<br />
Campus Plus wird in der Regel bis <strong>zu</strong> vier<br />
solcher Cluster haben, das heißt bis <strong>zu</strong> 21<br />
Schulklassen und 12 Kinder-gartengruppen<br />
für rund 700 Kinder beherbergen (Wiener<br />
Schulen, Magistrat der Stadt Wien, 2016).<br />
Jeder Campus plus vereint gemeinsame<br />
zentrale pädagogische Sport-, Kreativ-,<br />
Therapie- und Verwaltungsbereiche, sowie<br />
die vier altersübergreifenden Bildungsbereiche,<br />
welche möglichst transparent gestaltet<br />
werden. Durch Verbindungen der<br />
Räume sowie durch Sichtverbindungen soll<br />
die Zusammenarbeit der verschiedenen<br />
Gruppen untereinander gefördert werden.<br />
Das Raumangebot muss verschiedenste Arten<br />
des Lernens in kleinen und größeren<br />
Gruppen, Rück<strong>zu</strong>gsmöglichkeiten, sowie<br />
Freizeitgestaltung ermöglichen. Darüber<br />
hinaus sollen auch die Mahlzeiten gemeinsam<br />
eingenommen werden können und<br />
auch ein eigener Teamraum für Pädagog*innen<br />
und Elterngespräche ist in Planung.<br />
Eine <strong>zu</strong>sätzliche Neuerung beim<br />
Campus plus-Modell ist die sogenannte<br />
Stadtteilfunktion. Zukünftig sollen externe<br />
Bildungspartner*innen verstärkt in die Freizeitgestaltung<br />
oder Nachmittagsbetreuung<br />
eingebunden werden. Beispielsweise die<br />
Musikschulen der Stadt Wien, Breitensportanbieter*innen<br />
sowie Jugendzentren sollen<br />
in die neuen Campus Standorte integriert<br />
14
SOZIALE ARCHITEKTUR<br />
werden. Diese Angebote werden auch Anrainer*innen<br />
<strong>zu</strong>r Verfügung stehen. Durch<br />
diese Mehrfachnut<strong>zu</strong>ng erhält der Campus<br />
auch eine verbindende Funktion innerhalb<br />
eines Stadtteils (Wiener Schulen, Magistrat<br />
der Stadt Wien, 2016).<br />
Der erste Campus Plus wird im 22. Wiener<br />
Gemeindebezirk in der Attemsgasse umgesetzt<br />
und nach der Fertigstellung – voraussichtlich<br />
Schuljahr 2017/18 – sollen rund<br />
800 Kinder in 33 Klassen betreut werden.<br />
Unter Vorsitz von Architekt Univ.-Prof.<br />
Dietmar Eberle wurde im Februar 2014 aus<br />
58 eingereichten Entwürfen, das Projekt<br />
von „querkraft architekten ZT GmbH“ <strong>zu</strong>r<br />
Realisierung empfohlen. Geplant ist ein<br />
rechteckiger, dreigeschossiger Baukörper,<br />
mit großem, freizügigem Freiraum und<br />
Sportbereich. Zusätzlich <strong>zu</strong> den vier Bildungsbereichen<br />
<strong>zu</strong> je 175 Kindern, sind drei<br />
Kleinkindgruppenräume, ein Therapiebereich<br />
und zwei Förderklassen vorgesehen.<br />
Die Anpassungsfähigkeit der Raumnut<strong>zu</strong>ng<br />
an <strong>zu</strong>künftige Entwicklungen ist ein wesentlicher<br />
Bestandteil des Projekts, so gibt<br />
es in jedem einzelnen Bildungsbereich die<br />
Möglichkeit mit geringem Aufwand die<br />
Räume individuell <strong>zu</strong> gestalten. Fix vorgegeben<br />
sind dabei die zentrale Erschließungshalle<br />
mit Oberlicht, die Anordnung<br />
der Lichthöfe und ein umlaufendes Gerüst.<br />
In dieses können Balkonplatten und Pflanzenbehälter<br />
eingehängt werden (Architektur<br />
und Stadtgestaltung, Magistrat der Stadt<br />
Wien, 2016).<br />
Die nächsten bis 2023 geplanten Campus-<br />
Standorte werden alle nach dem Campus<br />
plus-Konzept umgesetzt. Insgesamt sind für<br />
die weiteren neun Campus-Standorte Investitionen<br />
von über 700 Millionen Euro vorgesehen.<br />
(Wiener Schulen, Magistrat der<br />
Stadt Wien, 2016).<br />
3. Kriterien und Planungsschritte in sozialer<br />
Architektur und sozialem Wohnbau<br />
Entscheidend für den Erfolg eines solchen<br />
Projekts ist die strategische Vorgehensweise<br />
mit den Fragen, welche Einflussfaktoren<br />
einwirken, welche davon fördernd,<br />
hemmend oder gar gefährdend sind. So verschiedenartig<br />
die planerischen Aufgaben<br />
auch sind, das Ziel ist immer einheitlich:<br />
minimierte Kosten bei maximiertem nachhaltigem<br />
Nutzwert von Gebäude und Einrichtungen.<br />
Festgehalten muss werden,<br />
wann und wie welche Personen eingebunden<br />
werden müssen, welchen Anforderungen<br />
und Wünschen Rechnung <strong>zu</strong> tragen ist<br />
und das exakte Ziel des Bauvorhabens sollte<br />
auch allen Beteiligten klar sein. Das ist für<br />
viele Architekten eine Herausforderung, daher<br />
macht es Sinn, den Planungsprozess<br />
durch Mediation <strong>zu</strong> begleiten. Das kostet<br />
zwar <strong>zu</strong>sätzlich, verbessert aber in jedem<br />
Fall die Qualität des Ergebnisses und ist<br />
aufgrund der von Beginn an funktionierenden<br />
Kommunikation die Grundlage für<br />
Kostensicherheit (Soziale Architektur<br />
2016).<br />
4. Was ist sozialer Wohnbau?<br />
Unsere Gesellschaft entwickelt Wünsche <strong>zu</strong><br />
neuen Wohnformen. Die Ansprüche sind<br />
hoch, das Einkommen oftmals klein.<br />
Sozialbau beinhaltet nicht nur Wohnraumförderung,<br />
die sozialen Bedürfnisse der Bewohner*innen<br />
müssen auch berücksichtigt<br />
werden. Eine attraktive Preisgestaltung<br />
würde es einer gewissen Einkommensgruppe<br />
ermöglichen auch an exponierten<br />
Standorten einen bezahlbaren und hochwertigen<br />
Wohnraum <strong>zu</strong> erlangen. Bezahlbarer<br />
Wohnraum ist nicht gleich<strong>zu</strong>setzen mit kostengünstigem<br />
Bauen. Klischees wie monotone<br />
Genossenschaftswohnbauten sind<br />
dadurch initiiert. Innovative Planungsprozesse,<br />
neue Ideen des miteinander Wohnens<br />
15 15
SOZIALE ARCHITEKTUR<br />
sind die Zukunft der Wohnraumproduktion<br />
(Boch, 2016).<br />
Ein Forschungsprojekt „Best Practice“ der<br />
TU in Darmstadt untersucht wie die Durchmischung<br />
vieler sozialer Gruppen funktionieren<br />
könnte. „Durchmischung funktioniert<br />
eigentlich nur, wenn ein gewisser<br />
Rück<strong>zu</strong>g vorhanden ist“ (Sigmund 2015).<br />
Auf diese Konfliktpotenziale<br />
muss bereits bei der Planung<br />
durch eine räumliche Trennung – und besonders<br />
auch Schallentkopplung – geachtet<br />
werden (Sigmund, 2015).<br />
In diesem Kontext ist EUROGATE ein gelungenes<br />
Projekt in Österreich. „Qualifizierte<br />
Wohnmaschine“, nennen die Architekten<br />
Dietmar Feichtinger das Wohnbauprojekt.<br />
Dieses Konzept beinhaltet einen<br />
modernen Massenwohnungsbau. Es entstehen<br />
über 1600 Wohnungen. Vierzig Prozent<br />
werden durch die öffentliche Hand gefördert,<br />
so sind diese Wohnungen auch für<br />
Niedrigverdiener leistbar. Eine sehr gute<br />
Gebäudeorganisation ermöglicht eine soziale<br />
Durchmischung der Bewohner, die Privatsphäre<br />
jeder Wohneinheit ist jedoch gegeben.<br />
Diese Anlage erfüllt den technischen<br />
Standard eines Passivhauses und fügt sich<br />
sehr gut in die städtische Struktur ein (Dömer<br />
& Schultz-Granberg, 2016).<br />
Die Forschungsarbeit von C. Angelmaier<br />
(2009) beschäftigt sich mit der „Sozialen<br />
Nachhaltigkeit im Wohnbau“. In dieser Arbeit<br />
kristallisiert sich klar heraus, welche<br />
Kriterien bei der Planung mitberücksichtigt<br />
werden müssen. Im Planungsprozess müssen<br />
nachhaltige Ziele vor der architektonischen<br />
Planung festgelegt werden. Fehler,<br />
die in dieser Phase entstehen, sind nur mit<br />
großem, meist finanziellem Aufwand, revidierbar.<br />
Um die Alltagstauglichkeit in die<br />
Planung mit einfließen <strong>zu</strong> lassen, ist es sinnvoll,<br />
die Abläufe des täglichen Lebens der<br />
Bewohner*innen genau <strong>zu</strong> kennen. Die<br />
Mitsprachemöglichkeit der bestehenden<br />
bzw. <strong>zu</strong>künftigen Bewohner*innen ist somit<br />
ein absolutes Muss. Um von vorne herein<br />
Konflikte <strong>zu</strong> vermeiden, bedarf es genauer<br />
Kompetenzstrukturen. Die Erwartungshaltung<br />
an die <strong>zu</strong>künftigen Bewohner*innen<br />
darf nicht <strong>zu</strong> hoch sein. Diplomatie<br />
und Geduld sind gute Werkzeuge, die<br />
man als Planer mitbringen sollte (Angelmaier,<br />
2009).<br />
Ein weiteres Beispiel soll die Möglichkeiten<br />
von sozialer Architektur erweiternd darstellen:<br />
SCHWARZER LAUBFROSCH ist ein Revitalisierungsprojekt<br />
eines alten Rüsthauses<br />
in Bad Waltersdorf. Die Architektengruppe<br />
Splitterwerk versucht traditionelle Wohngewohnheiten<br />
auf<strong>zu</strong>lösen indem sie mittels<br />
beweglicher Trennwände die Wohnfunktionen<br />
beeinflussen. Raumcharakter und<br />
Lichtsituation verändern sich je nach Nut<strong>zu</strong>ng.<br />
Die ursprüngliche Struktur des Gebäudes<br />
wurde nicht verändert, sodass die<br />
Architekten mehr in den Innenausbau investieren<br />
konnten. Das Konzept bietet einen<br />
nut<strong>zu</strong>ngsneutralen Raum. Durch Falt- oder<br />
Schiebetüren öffnet man eine Nische und<br />
der bevor<strong>zu</strong>gte Wohnraum, z.B. die Küche,<br />
kann durch heraus rollen von Möbelstücken<br />
in den neutralen Raum, für die gewünschte<br />
Nut<strong>zu</strong>ng hergerichtet werden. Die Architekten<br />
zeigen in diesem Projekt wie durch<br />
gekonnte Raumkonzeptplanung kleinste<br />
Flächen durch einfache Trennwände <strong>zu</strong><br />
„gefühlt“ großen Flächen anwachsen können<br />
(Dömer & Schultz-Granberg, 2016).<br />
16
SOZIALE ARCHITEKTUR<br />
5. Soziale Architektur verbindet Menschen<br />
und trägt <strong>zu</strong>r Herstellung von Achtung<br />
und Menschenwürde bei<br />
In Österreich bringt das Architektenduo<br />
Alexander Hagner und Ulrike Schartner im<br />
Hinblick auf die Umset<strong>zu</strong>ng sozialer Architektur<br />
sehr viel Erfahrung mit und darf mit<br />
der Wiener VinziRast – mittendrin stolz auf<br />
das Ergebnis sein. Das ist ein innovatives,<br />
weltweit einmaliges soziales Wohnprojekt<br />
und eine offene und unabhängige Gemeinschaft.<br />
Der Leitsatz „Gemeinsam leben, arbeiten<br />
und lernen“ wird im Konzept der<br />
VinziRast, in welchem Obdachlose und<br />
Studierende gemeinsam leben, großgeschrieben.<br />
Menschen, die sozial, wirtschaftlich<br />
oder psychisch schwach sind, erleben<br />
immer häufiger die Isolation von der<br />
gesamten Gesellschaft, so Cecily Corti,<br />
1940 geboren in Krain im heutigen Slowenien<br />
als Cecily Herberstein. Sie ist die<br />
Gründerin des VinziRast – Projektes und<br />
für Ihren Einsatz für Obdachlose in Wien<br />
bekannt. Cecily Corti erhielt dafür 2013<br />
den Bruno-Kreisky- Menschenrechtspreis<br />
(VinziRast 2016).<br />
„Die VinziRast – mittendrin ist getragen<br />
von der Überzeugung, dass ein Leben in<br />
Gemeinschaft und Respekt Menschen aufrichten<br />
und psychische Verlet<strong>zu</strong>ngen heilen<br />
kann. Die Qualität der Beziehung und das<br />
Zusammenspiel von Hirn und Herz sind die<br />
Basis für eine besondere Begegnungskultur:<br />
respektvoll und vorurteilsfrei aufeinander<br />
<strong>zu</strong>gehen, gemeinsam Erfahrungen sammeln,<br />
miteinander Neues entwickeln“ (VinziRast<br />
2016).<br />
Die Individualität und die Achtung vor dem<br />
Schicksal jedes einzelnen Menschen stehen<br />
im Vordergrund, was <strong>zu</strong> Wärme, Geborgenheit,<br />
Gemeinschaft – <strong>zu</strong> einem Zuhause –<br />
führt (VinziRast 2016).<br />
Entstanden ist dieses Projekt 2009, während<br />
der Studentenproteste „Uni brennt“ im Audimax<br />
der Uni Wien, in welchem sich auch<br />
obdachlose Menschen befanden, dort nächtigten<br />
und die Beset<strong>zu</strong>ng aktiv mitgestalteten.<br />
Die Vinzenzgemeinschaft St. Stephan<br />
konnte diese Idee weiterentwickeln. Die<br />
Idee, dass Studierende und Obdachlose gemeinsam<br />
leben und arbeiten können, wurde<br />
von Student*innen bedacht und entwickelt.<br />
Durch positive Rückmeldung entstand der<br />
Wunsch ein „Miteinander“ <strong>zu</strong> fördern.<br />
Durch zahlreiche Spender*innen sowie freiwillige<br />
Helfer*innen fand ein Um- und<br />
Ausbau der VinziRast statt, welcher von der<br />
Stadt Wien mitfinanziert wurde (VinziRast<br />
2016).<br />
Zusätzlich steht allen Bewohner*innen ein<br />
Dachgarten und das Lokal „mittendrin“,<br />
welches <strong>zu</strong>gleich Café, Bar und Restaurant<br />
ist, <strong>zu</strong>r Verfügung. Das Lokal „mittendrin“<br />
wird von Bewohner*innen, ehrenamtlichen<br />
Helfer*innen und angestelltem Fachpersonal<br />
geführt (VinziRast 2016).<br />
Die VinziRast Notschlafstelle bietet Menschen<br />
ein Zuhause für eine Nacht. Im VinziRast<br />
CortiHaus steht die Unterstüt<strong>zu</strong>ng<br />
<strong>zu</strong>r Findung der Eigen-verantwortung im<br />
Vordergrund: Menschen, die Schulden haben,<br />
auf Job- oder Wohnungssuche sind, die<br />
Hilfestellungen in Form von Therapien benötigen.<br />
Das VinziRast – Home Projekt bietet<br />
ein Zuhause für Asylberechtigte. Corti<br />
erklärt, dass ihr die Gruppe der übersehenen<br />
und verachteten Menschen im Sinne bedingungsloser<br />
Akzeptanz wichtig sind und<br />
Trennungen zwischen den Menschen aufgehoben<br />
werden müssen. Sie meint, wenn allen<br />
Menschen klar wird, dass die täglich unbewusst<br />
begangenen Ausgren<strong>zu</strong>ngen und<br />
Kränkungen uns allen nicht guttun, dann ist<br />
wirklich etwas gelungen und wünscht sich,<br />
dass jeder Mensch seine eigene tiefe Sehnsucht<br />
nach Frieden in die Tat umsetzt (Der<br />
Standard 2013).<br />
17 17
SOZIALE ARCHITEKTUR<br />
6. Fazit<br />
Soziale Architektur hat viele Facetten. Einerseits<br />
soll sie auf der Ebene des Raumes<br />
ihren Beitrag <strong>zu</strong> einem inklusiven, gelungenen<br />
Zusammenleben leisten und die dafür<br />
erforderliche Raum- und Infrastruktur<br />
schaffen. Soziale Architektur soll bezahlbares<br />
und gutes Wohnen, Arbeiten und Leben<br />
mitgestalten helfen. Sie versucht <strong>zu</strong>r Selbstverständlichkeit<br />
<strong>zu</strong> werden und ihren festen<br />
Platz innerhalb der Gesellschaft ein<strong>zu</strong>nehmen.<br />
Soziale Architektur hat auch den Anspruch,<br />
ökologisch, nachhaltig und kosteneffizient<br />
<strong>zu</strong> errichten. Sie arbeitet partizipativ,<br />
unter Miteinbe<strong>zu</strong>g aller am jeweiligen<br />
Projekt Beteiligten. Das erfordert von Architekt*innen<br />
daher ein hohes Maß an kommunikativer<br />
Kompetenz. Soziale Architektur<br />
ist ein wesentlicher Baustein für eine<br />
sich auf dem Weg <strong>zu</strong> einem inklusiven,<br />
wertschätzenden Miteinander befindliche<br />
Gesellschaft. Wie aufgezeigt werden<br />
konnte, lassen sich in Österreich bereits umgesetzte<br />
Projekte und solche, die in der Umset<strong>zu</strong>ngsphase<br />
sind, finden.<br />
Quellen:<br />
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http://www.soziale-architektur.de/artikel-details/gemeinsam-planen-und-bauen.html<br />
Angelmaier, C. (2009). Soziale Nachhaltigkeit im Wohnbau. Wiener Wohnbauforschung. Zugriff am<br />
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Schultz-Granberg, Joachim (Hrsg.), Bezahlbar. Gut. Wohnen. Berlin: jovis Verlag GmbH, S. 6-7.<br />
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Dömer, Klaus & Schultz-Granberg, Joachim (2016). Schwarzer Laubfrosch. In: Dömer, Klaus, Drexler,<br />
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08.01.2017unter http://www.detail.de/artikel/moderner-sozialbau-was-ist-das-eigentlich-25783/<br />
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SOZIALE ARCHITEKTUR<br />
Soziale Architektur (14.12.2016). Partizipatives Bauen. Zugriff am 14.12.2016 unter http://www.soziale-architektur.de/artikel-details/partizipatives-bauen-und-planen.html<br />
Stuiber Petra (08.06.2013). Ewiges Schlechtmachen der anderen. derStandard.at. Zugriff am 10.01.2017<br />
unter http://derstandard.at/1369363062569/Vinzi-Rast-Gruenderin-Corti-Das-ewige-Schlechtmachender-anderen<br />
Wübbenhorst, Marc 14.12.2016. Wände sind nur im Kopf. Soziale Architektur, Zugriff am 14.12.2016<br />
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VinziRast (10.01.2017). Zugriff am 10.01.2017 unter http://vinzirast.at/<br />
19 19
20
<strong>Inklusion</strong> an der Hochschule<br />
Mössler Jasmin, Stern Roswitha, Stathopoulos-Dohr Stefanie, Kienberger Stefan<br />
Zusammenfassung<br />
Um allen Personen den Zugang <strong>zu</strong> einem Hochschulstudium und auch den Abschluss desselbigen<br />
<strong>zu</strong> ermöglichen, bedarf es zahlreicher an den Diversitätskategorien orientierter, inhaltlicher<br />
und strukturverändernder Maßnahmen. Positive Aspekte von Vielfalt an Hochschulen, der damit<br />
verbundene Mehrwert, notwendige Schritte in einem Implementierungsprozess und gesetzliche<br />
Grundlagen sollen in dem folgenden Artikel dargestellt werden. Einen Blick in die Gegenwart<br />
erlaubt ein Interview mit der Beauftragten für Gleichbehandlung und Vielfalt der Fachhochschule<br />
Kärnten, Frau Magª. Ratheiser-Pirker. Auch Probleme für Studierende, die berufstätig<br />
sind und ein Studium beginnen, werden thematisiert.<br />
1. Ausgangslage<br />
Herr A. (40) aus Dubai lebt seit etwa 10<br />
Jahren in Österreich und möchte sich beruflich<br />
verändern. Da er aufgrund seiner arabischen<br />
Muttersprache bei der Integrationsarbeit<br />
von Menschen mit Fluchthintergrund<br />
einsteigen möchte, überlegt er, das<br />
Studium der Disability & Diversity Studies<br />
(DDS) an der Fachhochschule Kärnten <strong>zu</strong><br />
wählen. Die erste Vorausset<strong>zu</strong>ng, die für<br />
ihn persönlich wichtig ist, ist, dass das Studium<br />
berufsbegleitend angelegt ist. Er ist<br />
voll berufstätig, würde aber bei einem Studienbeginn<br />
seine Arbeitszeiten verkürzen.<br />
Die formalen Vorausset<strong>zu</strong>ngen (Zulassungskriterien<br />
für ein Studium) kann er vorweisen.<br />
Seine Deutschkenntnisse sind sehr<br />
gut. Wenn es jedoch um das Lesen eines<br />
Fachberichtes geht oder darum, eine<br />
schriftliche Arbeit ab<strong>zu</strong>geben, fehlen teilweise<br />
die Schnelligkeit in der Verfügbarkeit<br />
der Bedeutung von Wörtern oder die Sicherheit<br />
bei der Verwendung von deutschen<br />
Fachbegriffen. Zusätzlich benötigt er bei<br />
der Ausformulierung von komplexen Satzbildungen<br />
Hilfestellung, da ihm der Satzbau<br />
von längeren Sätzen Schwierigkeiten bereitet.<br />
Aus diesem Grund sollte er vor Studienbeginn<br />
mit der Beauftragten für Gleichbehandlung<br />
& Vielfalt der FH Kärnten Kontakt<br />
aufnehmen, um im Vorfeld ab<strong>zu</strong>klären,<br />
wo genau er Hilfe braucht, ob ihm englische<br />
Literatur entgegenkäme, ob er für Prüfungssituationen<br />
mehr Zeit beanspruchen<br />
kann, wie seine schriftlichen Arbeiten aus<strong>zu</strong>sehen<br />
haben und ob es möglich wäre, im<br />
Ramadan keine Prüfungen ab<strong>zu</strong>legen. Er<br />
selbst als Person wäre eine Bereicherung<br />
für den Studiengang der DDS, da er seine<br />
Sicht, als beruflich integrierte Person, auf<br />
Menschen mit Migrationshintergrund aus<br />
den arabischen Ländern und die typischen<br />
Fehler der österreichischen Sozialarbeiterinnen<br />
und Sozialarbeiter im Umgang mit<br />
Personen mit Migrationshintergrund aufmerksam<br />
machen könnte, sowie den Kulturkreis<br />
verständlich machen könnte und dergleichen.<br />
Frau C. (25) bekommt zeitgleich mit der Zusage,<br />
DDS studieren <strong>zu</strong> dürfen, die Diag-<br />
21 21
INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />
nose Multiple Sklerose. Sie ist felsenfest davon<br />
überzeugt, dass sie es trotz der gesundheitlich<br />
schwierigen Vorausset<strong>zu</strong>ngen<br />
schaffen wird. Das familiäre Umfeld steht<br />
hinter ihr und bietet ihr Unterstüt<strong>zu</strong>ng an.<br />
Nach zwei Wochenendblöcken beendet sie<br />
aufgrund ihrer unberechenbaren Erkrankung<br />
das Studium – wegen der anspruchsvollen<br />
Lehrveranstaltungen macht sich ihre<br />
Erkrankung deutlich bemerkbar. Bei einem<br />
Gespräch mit der Beauftragten für Gleichbehandlung<br />
& Vielfalt, sofort nachdem sie<br />
die Diagnose erhalten hat, konnten ihre<br />
persönlichen Ziele, Hindernisse beim Erreichen<br />
dieser und die Möglichkeiten, seitens<br />
der FH, diese soweit es geht aus dem Weg<br />
<strong>zu</strong> räumen, abgeklärt werden. Jedoch erscheinen<br />
die persönlichen Hürden, sich<br />
seine individuelle Krankheit ein<strong>zu</strong>gestehen<br />
unüberwindbar – insbesondere wenn man<br />
den Umgang mit seiner Krankheit erst selber<br />
erlernen muss. Wie kann man in dieser<br />
Ausnahmesituation einschätzen, ob und wie<br />
man sein Studium angehen könnte?<br />
In beiden Beispielen geht es um das Finden<br />
von Lösungen anhand von konkreten Situationen<br />
auf persönlicher Ebene. Hier geht es<br />
darum, einen passenden Lösungsweg <strong>zu</strong><br />
finden, welcher in einem individuellen Lernarrangement<br />
oder in einem speziell ausgearbeitetem<br />
Prüfungsverfahren gefunden<br />
werden kann (Knauf, 2013, S. 167).<br />
„Inklusive Strukturen sollen die Studierbarkeit<br />
für alle Studierenden verbessern“, was<br />
„vor allem die Flexibilisierung des Studiums“<br />
bedeutet, wenn man Studierende der<br />
Sozialen Arbeit oder der DDS berücksichtigen<br />
möchte, die das berufsbegleitende Studium<br />
auf sich nehmen. Hierbei könnte eine<br />
Verlängerung der Studienzeit angedacht<br />
werden, damit es neben dem Studium nicht<br />
<strong>zu</strong> Belastungen und persönlicher Überforderung<br />
kommt (Werner et al., 2014).<br />
Für ein berufsbegleitendes Studium der<br />
DDS entscheiden sich <strong>zu</strong>meist Personen,<br />
welche bereits erwerbstätig sind und auf<br />
diese Weise ihr Wissen vertiefen, ihr Arbeitsumfeld<br />
erweitern oder wechseln wollen.<br />
Es kommt dabei häufig <strong>zu</strong> zeitlichen<br />
Problemen. Bei beruflicher Tätigkeit, familiären<br />
Verpflichtungen oder chronischen<br />
gesundheitlichen Belastungen ist es nicht<br />
immer möglich, alle gestellten Aufgaben<br />
zeitgerecht <strong>zu</strong> erledigen. Kontakte mit Bekannten<br />
oder Hobbies werden für eine<br />
scheinbare „überschaubare“ Zeit hinten angestellt,<br />
Übermüdungserscheinungen werden<br />
ignoriert. Letztendlich befindet man<br />
sich in einem Hamsterrad, aus welchem<br />
man nicht hinaus findet.<br />
Hier sollte von Seiten der Beauftragten für<br />
Gleichbehandlung & Vielfalt gemeinsam<br />
mit Studierenden, den Dozenten und der<br />
Studiengangsleitung eine Lösung gesucht<br />
werden - im Sinne der Studierbarkeit, um,<br />
wie es Werner et al. (2014) formulieren,<br />
„nicht nur die Studierbarkeit“ <strong>zu</strong> „gewährleisten,<br />
sondern im Sinne einer Willkommenskultur<br />
die Kluft zwischen familiärer<br />
und hochschulischer Lebenswelt <strong>zu</strong> überbrücken.“<br />
(Werner et al., 2014)<br />
Beim Studium der DDS im Zeitraum von 6<br />
Semestern wird genau so viel verlangt, wie<br />
bei "Vollzeitstudierenden" ohne beruflicher<br />
Verpflichtung. Aufgrund dessen wäre <strong>zu</strong><br />
überlegen, die Gesamtstudiendauer bei "berufsbegleitend"<br />
<strong>zu</strong> erhöhen, die <strong>zu</strong> absolvierenden<br />
Stunden auf beispielsweise 8 Semester<br />
aus<strong>zu</strong>weiten, damit man als Studierender<br />
eines berufsbegleitenden Studiums<br />
nicht im schlimmsten Fall aufgrund <strong>zu</strong>sätzlicher<br />
Belastungen in einem Burn-Out endet.<br />
22
INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />
2. Gesetzliche Grundlagen und Reformen<br />
Artikel 26 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung<br />
der Menschenrechte beschreibt das<br />
Recht jedes Menschen auf Bildung und auf<br />
frei <strong>zu</strong>gänglichem Schulbesuch, auch im<br />
tertiären Bereich. Ein Hochschulstudium<br />
muss demnach diskriminierungsfrei <strong>zu</strong>gänglich<br />
sein. Eine Auswahl ist allein aufgrund<br />
von Fähigkeit und Leistung <strong>zu</strong>lässig.<br />
Dies schließt <strong>zu</strong>m Beispiel aus, dass Studiengebühren<br />
in einer Höhe erhoben werden,<br />
die den Zugang für Kinder aus finanziell<br />
schwächerem Elternhaus unmöglich<br />
macht. Der Staat ist verpflichtet, Studienplätze<br />
in gehöriger Anzahl <strong>zu</strong>r Verfügung<br />
<strong>zu</strong> stellen und eine aufgrund begrenzter Kapazitäten<br />
notwendige Auswahl unter den<br />
Personen, die sich für das Studium bewerben,<br />
ausschließlich anhand der Kriterien<br />
„Fähigkeiten und Leistung“ durch<strong>zu</strong>führen<br />
(vgl. Menschenrechtserklärung).<br />
Die spezielle Rechtslage für Studierende<br />
mit Behinderung ist in zwei weiteren Gesetzen<br />
geregelt – Universitätsgesetz (UG) und<br />
im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz.<br />
Flankierend da<strong>zu</strong> gibt es die UN – Behindertenrechtskonvention,<br />
die allerdings<br />
noch nicht den Status eines Gesetzes erlangt<br />
hat. Die Beachtung der Erfordernisse von<br />
behinderten und chronisch kranken Studierenden<br />
stellt laut § 2 Zif. 11 UG einen wichtigen<br />
Bestandteil der leitenden Grundsätze<br />
der Universitäten dar. Die leitenden<br />
Grundsätze sind jene Richtlinien, die für die<br />
Art der Umset<strong>zu</strong>ng der Aufgaben, die die<br />
Universitäten <strong>zu</strong> erfüllen haben, ausschlaggebend<br />
sind (vgl. Universitätsgesetz).<br />
§ 59 (1) Zif. 12 UG regelt die Prüfungsmodalitäten<br />
für behinderte und chronisch<br />
kranke Studierende: „Den Studierenden<br />
steht nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen<br />
Lernfreiheit <strong>zu</strong>. Sie umfasst insbesondere<br />
das Recht auf eine abweichende<br />
Prüfungsmethode, wenn die oder der Studierende<br />
eine länger andauernde Behinderung<br />
oder chronische Erkrankung nachweist,<br />
die ihr oder ihm die Ablegung der<br />
Prüfung in der vorgeschriebenen Methode<br />
unmöglich macht, und der Inhalt und die<br />
Anforderungen der Prüfung durch eine abweichende<br />
Methode nicht beeinträchtigt<br />
werden.“ (Universitätsgesetz § 59 (1) Zif.<br />
12).<br />
Behinderte und chronisch kranke Studierende<br />
können demnach laut UG in Absprache<br />
mit den Lehrenden Prüfungen in einem<br />
abgeänderten Prüfungsmodus ablegen, der<br />
ihren Bedürfnissen entspricht (vgl. Universitätsgesetz).<br />
Die UN – Behindertenrechtskonvention regelt<br />
in Artikel 24 das Recht von Menschen<br />
mit Behinderung auf Bildung. Ausgehend<br />
vom Prinzip der Gleichberechtigung gewährleistet<br />
die UN - Behindertenrechtskonvention<br />
damit ein einbeziehendes (inklusives)<br />
Bildungssystem auf allen Ebenen und<br />
lebenslanges Lernens. Ebenso soll das Erlernen<br />
der Gebärdensprache und die Förderung<br />
der sprachlichen Identität von gehörlosen<br />
Menschen erleichtert werden. Dafür<br />
sind auf allen Ebenen des Bildungswesens<br />
geeignete Maßnahmen <strong>zu</strong> treffen. Beispielsweise<br />
braucht es Lehrkräfte, die in<br />
Gebärdensprache und Braille ausgebildet<br />
sind. Ebenso sollen auf allen Ebenen des<br />
Bildungssystems die Fachkräfte und Mitarbeiter<br />
geschult werden (vgl. Behindertenrechtskonvention).<br />
Die breit angelegte und <strong>zu</strong>gleich viel diskutierte<br />
europäische Studienreform, die sog.<br />
Bologna Reform oder der Bologna Prozess,<br />
hat für Studierende mit Behinderung und/oder<br />
chronischer Krankheit viele neue Risiken<br />
gebracht. So bleibt <strong>zu</strong>m Beispiel durch<br />
das modularisierte und verdichtete Studium<br />
23 23
INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />
kaum Raum für Flexibilität. Dies aber brauchen<br />
Studierende mit Behinderung oder<br />
chronischer Krankheit unbedingt, um Studium,<br />
Ruhe und Therapiebedarf gut unter<br />
einen Hut <strong>zu</strong> bekommen (vgl. Maas, 2010).<br />
3. Gelebte Praxis an der Fachhochschule<br />
Kärnten<br />
Im Interview mit Frau Magª. Kirsten<br />
Ratheiser-Pirker, Beauftragte für Gleichbehandlung<br />
und Vielfalt an der Fachhochschule<br />
Kärnten, wurden Fragen rund um das<br />
Thema <strong>Inklusion</strong> und Vielfalt an den Kärntner<br />
Standorten besprochen. Frau Magª.<br />
Ratheiser-Pirker hat seit 1. März 2016 ein<br />
Wochenkontingent von acht Stunden für<br />
Beratung, Information, Unterstüt<strong>zu</strong>ng und<br />
Bewusstseinsbildung von MitarbeiterInnen<br />
und Studierenden in Sachen Gleichbehandlung.<br />
(vgl. Interview 2016)<br />
Zuvor gab es bereits den Gleichbehandlungsausschuss,<br />
der als Beratungsgremium<br />
für die Leitung eingesetzt wurde. Neben ca.<br />
zehn Vertreterinnen und Vertretern der<br />
Lehre aus allen Studienbereichen, einem<br />
Studierendenvertreter und Mitarbeitenden<br />
der Personalabteilung und dem Rechnungswesen<br />
leitet aktuell der Geschäftsführer DI<br />
Siegfried Spanz den Ausschuss. „Gleichbehandlungsfragen<br />
sind somit auch Chefsache“,<br />
das spricht für ernst gemeinten Willen<br />
beim Umsetzen von Maßnahmen. Dieses<br />
Gremium besteht nach wie vor und arbeitet<br />
nach folgenden Leitsätzen:<br />
„Wir streben nach der Gleichbehandlung<br />
und Chancengleichheit von Mitarbeitenden<br />
aller Organisationsebenen sowie Studierenden<br />
an der FHTK, unabhängig von Alter,<br />
Geschlecht, körperlicher Beeinträchti-<br />
gung, ethnischer und/oder nationaler Zugehörigkeit,<br />
Religion und sexueller Orientierung.“<br />
„Wir setzen Akzeptanz, Wertschät<strong>zu</strong>ng und<br />
gegenseitigen Respekt zwischen allen Mitarbeitenden<br />
und Studierenden, unter Anerkennung<br />
von Vielfalt, voraus.“<br />
„Wir stehen ein für eine kritische Auseinanderset<strong>zu</strong>ng<br />
mit gesellschaftlichen Entwicklungen<br />
unter Berücksichtigung der Vielfalt<br />
der Kulturen und für eine gerechte und demokratische<br />
Gestaltung von Lebens- und<br />
Arbeitswelten.“<br />
(Fachhochschule Kärnten)<br />
Die Beauftragte für Gleichbehandlung und<br />
Vielfalt arbeitet weisungsfrei und ist gefordert<br />
ihren Auftrag selbst <strong>zu</strong> entwickeln. Sowohl<br />
das top-down als auch das bottom-up<br />
Prinzip leiten ihre Tätigkeiten in dieser<br />
Funktion, wobei erst wenige Studierende<br />
sich mit ihren Anliegen an sie gewandt haben.<br />
Der Schwerpunkt liegt momentan bei<br />
der Diversity Dimension Menschen mit Behinderung.<br />
Drei Studierende mit Behinderung<br />
haben sich bis dato bei der Beauftragten<br />
gemeldet (Stand 25.11.2016). Sie weiß,<br />
dass es wesentlich mehr an den Standorten<br />
in Kärnten gibt, diese jedoch keinerlei Meldepflicht<br />
ihrer Behinderung haben. Studierende,<br />
die sich melden haben die Möglichkeit<br />
eines Nachteilsausgleichs 1 . Neben der<br />
Beratung und Unterstüt<strong>zu</strong>ng von betroffenen<br />
Studierenden steht Frau Magª. Ratheiser-Pirker<br />
gegebenenfalls auch Lehrenden<br />
<strong>zu</strong>r Seite bzw. vermittelt zwischen den beiden<br />
Parteien. In Fragen von barrierefreier<br />
Didaktik können sich Lehrende auch an das<br />
Didaktikzentrum der FH Kärnten wenden.<br />
1 Unter Nachteilsausgleich versteht man, die aus einer Behinderung<br />
resultierenden Nachteile gezielt aus<strong>zu</strong>gleichen. Dadurch<br />
wird versucht Chancengleichheit zwischen Menschen mit und<br />
ohne Behinderung her<strong>zu</strong>stellen (vgl. Hindernisfreie Hochschule).<br />
24
INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />
Des Weiteren können Fortbildungen <strong>zu</strong> diesem<br />
Themenbereich besucht werden. (vgl.<br />
Interview, 2016)<br />
Die Fachhochschule Kärnten bekennt sich<br />
in ihrem Leitbild freiwillig <strong>zu</strong>r Charta der<br />
Vielfalt, einer europäischen Unternehmensinitiative<br />
<strong>zu</strong>r Förderung von Vielfalt in Unternehmen<br />
und Organisationen. (vgl. FH<br />
Kärnten und Charta der Vielfalt)<br />
4. Fazit: Implementierung von <strong>Inklusion</strong><br />
an Hochschulen<br />
Aufgrund des demographischen Wandels,<br />
steigender Mobilität und Globalisierung<br />
wird unsere Gesellschaft zwangsläufig immer<br />
vielfältiger. Damit verbunden sind auch<br />
notwendige Veränderungen in den Strukturen<br />
der einzelnen Bildungseinrichtungen.<br />
Schindler (2016) führt da<strong>zu</strong> vorweg aus:<br />
„Grundsätzlich sind die Vorausset<strong>zu</strong>ngen<br />
für eine inklusive Bildung im Hochschulbereich<br />
wesentlich günstiger als im Schulbereich.<br />
Hier gab und gibt es keine separierenden<br />
Einrichtungen.“ (Schindler, 2016)<br />
Auch Hochschulen werden <strong>zu</strong>nehmend divers<br />
und sollten um die Realisierung offener<br />
Bildungswege für alle und um eine Bewusstseinsänderung<br />
in Richtung, dass Vielfalt<br />
eine Chance darstellt, bemüht sein. Dabei<br />
hat Diversität in der Lehre zahlreiche<br />
Facetten. Sie reichen von den Lernstrategien<br />
oder Vorkenntnissen bis hin <strong>zu</strong> individuellen<br />
Bildungshintergründen (vgl. Hochschule<br />
Ludwigshafen, S.12).<br />
Ein wertschätzender und inklusiver Umgang<br />
mit dieser Vielfalt, die damit einhergehende<br />
Nut<strong>zu</strong>ng von Potentialen der unterschiedlichen<br />
Studierenden und Mitarbeitenden<br />
verlangen stets nach einem gezielten<br />
Management (Allmayer, S.2).<br />
Gemeinsamkeiten und Unterschiede müssen<br />
in diesem breit angelegten, die individuelle,<br />
institutionelle bzw. strukturelle und<br />
kulturelle bzw. gesellschaftliche Ebene berücksichtigenden<br />
Managementprozess – im<br />
Sinne eines Stakeholderansatzes – inklusiv<br />
begriffen und daraus entstehende Ressourcen<br />
der einzelnen Gruppen wahrgenommen<br />
und gefördert werden. Die Verknüpfung der<br />
verschiedenen Ebenen trägt dem Umstand<br />
Rechnung, dass sich der Mensch als Subjekt<br />
niemals vollständig von Sozialisierungsund<br />
Kulturierungsprozessen lösen kann<br />
(Czollek 2008, S. 45).<br />
<strong>Inklusion</strong> an der Hochschule als disziplinenübergreifendes<br />
Forschungsthema muss<br />
als Gestaltungsprinzip verstanden werden,<br />
welches losgelöst von Differenzierungsmerkmalen<br />
gleichwertige Lehr-, Forschungs-<br />
und Arbeitsbedingungen für alle<br />
Mitglieder schafft, damit Ressourcen anerkannt<br />
werden und klar Position gegen jede<br />
Art von Diskriminierung bezogen wird (vgl.<br />
Aktionsplan der Universität Bremen, S. 3).<br />
Im Zuge des Prozesses werden Rahmenbedingungen<br />
geschaffen, die auf Chancengleichheit<br />
und der Vermeidung von mittelbarer<br />
und unmittelbarer Diskriminierung<br />
auf allen Ebenen abzielen und somit die<br />
Leistungsfähigkeit aller Beteiligten steigert.<br />
Der Studienerfolg darf nicht negativ von<br />
Diversität beeinflusst werden. Zu Beginn<br />
dieses Prozesses ist eine Diversity – Ist –<br />
Analyse <strong>zu</strong> empfehlen, welche primär die<br />
dahinterstehende Motivation und externe,<br />
sowie interne Ziele klärt. Darauf aufbauend<br />
wird vorhandenes Diversity – Wissen und<br />
bestehende Vielfalt an der Hochschule aufgezeigt<br />
und der <strong>zu</strong>künftiger Bedarf bzw.<br />
notwendige Maßnahmen <strong>zu</strong>r Zielerreichung<br />
formuliert (vgl. Allmayer, S.3).<br />
Es braucht ein ganzheitliches, mehrdimensionales,<br />
ein für sich als eigenständiges Projekt<br />
definiertes Diversity – Konzept. In diesem<br />
Konzept werden Differenzlinien und<br />
gesellschaftliche Regulativa, über die der<br />
25 25
INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />
Status von Menschen bestimmt wird, reflektiert<br />
und mit einem intersektionalen Zugang<br />
berücksichtigt (Czollek 2008, S. 25).<br />
Als Kernstück des Qualitätsmanagements<br />
der Hochschule und Produkt eines Implementierungsprozesses<br />
führt der neue Umgang<br />
mit Diversität <strong>zu</strong> sozialer Gerechtigkeit<br />
im Sinne von Social Justice. Werte, wie<br />
Respekt, Wertschät<strong>zu</strong>ng, Gleichberechtigung,<br />
gelebte Vielfalt und Chancengleichheit<br />
müssen im Zuge des Prozesses zwangsläufig<br />
Teil der Hochschulkultur und des<br />
verschriftlichten Leitbildes werden. Die<br />
Hochschule muss sich weiters vom Ideal<br />
der Normstudierenden abwenden und Stereotypen<br />
sollen weitestgehend abgebaut werden<br />
(vgl. Werner et al. 2014, S. 1).<br />
Der Gesetzgeber ist hierbei gefordert, Rahmenbedingungen<br />
her<strong>zu</strong>stellen, damit die<br />
sozialrechtliche Ausfinanzierung des hochschulrechtlich<br />
Möglichen und gesellschaftspolitisch<br />
Erwünschtem sichergestellt<br />
wird. Die Schaffung einer Community, besetzt<br />
durch betroffene Personen, garantiert<br />
die fortlaufende Beteiligung der entsprechenden<br />
Interessengruppen und trägt dem<br />
Umstand Rechnung, dass <strong>Inklusion</strong> ohne<br />
aktive partizipative Mitgestaltung der Betroffenen<br />
nicht gelingen kann. Barrierefreie<br />
Didaktik, spezielle Arbeitsplätze für sehbehinderte<br />
Personen, Ruheräume und das Angebot<br />
von Service- und Beratungsstellen für<br />
Studierende und Lehrende mit Diversitätsmerkmalen<br />
ergänzen das Konzept. Bereits<br />
gesetzte inklusionsfördernde Maßnahmen<br />
bedürfen einer regelmäßigen und professionellen<br />
Evaluation, um <strong>zu</strong>künftige Schritte<br />
bestens anpassen <strong>zu</strong> können. Diversitäten<br />
bleiben prozessübergreifend bestehen, sie<br />
werden lediglich <strong>zu</strong>gunsten von gleichen<br />
Lern- und Beteiligungsmöglichkeiten enthierarchisiert<br />
(Czollek 2008, S. 27).<br />
Eine inklusive Hochschule eröffnet somit<br />
für eine größere Anzahl von Personen die<br />
reale Möglichkeit auf die erfolgreiche Absolvierung<br />
eines Hochschulstudiums und<br />
damit einhergehend größere berufliche<br />
Teilhabemöglichkeiten.<br />
Diese <strong>Inklusion</strong>, welche von oben nach unten<br />
getragen werden muss, gibt es nicht <strong>zu</strong>m<br />
„Nulltarif“ – das muss allen Entscheidungsträgern<br />
bewusst sein. Allen Überlegungen<br />
vorangestellt steht analog <strong>zu</strong>m Index für<br />
Schulen die Notwendigkeit der Entwicklung<br />
eines Index für <strong>Inklusion</strong> an Hochschulen<br />
und damit verbundenen, einheitlichen<br />
Standards (vgl. <strong>Inklusion</strong> gestalten.<br />
Nationale Konferenz <strong>zu</strong>r inklusiven Bildung<br />
S.3).<br />
Quellen:<br />
Aktionsplan der Universität Bremen <strong>zu</strong>r Umset<strong>zu</strong>ng der UN – Behindertenrechtskonvention. Zugriff am<br />
11.12.2016 unter http://www.uni-bremen.de/studieren-mit-beeintraechtigung/downloads.html?eID=hbu_download_push&docID=49360.<br />
Allmayer, Sandra. Managing Diversity an Hochschulen: Eine Diversity – Ist – Analyse. Zugriff am<br />
11.12.2016 unter http://ffhoarep.fh-ooe.at/bitstream/123456789/635/1/114_297_Allmayer_FullPaper_dt_Final.pdf<br />
26
INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />
Auf dem Weg <strong>zu</strong>r inklusiven Hochschule. Das Konzept der Universität Duisburg – Essen für Barrierefreiheit<br />
und Teilhabe bei Behinderung und längerfristigen Beeinträchtigungen. Zugriff am 11.12.2016<br />
unter https://www.uni-due.de/imperia/md/content/diversity/inklusionskonzept_final_cd.pdf<br />
Behindertenrechtskonvention: https://www.behindertenrechtskonvention.info/bildung-3907/ Zugriff<br />
am 11.12.2016<br />
Charta der Vielfalt, Über die Charta. Zugriff am 10.12.2016 unter http://www.charta-der-vielfalt.de/charta-der-vielfalt/ueber-die-charta.html<br />
Czollek, Leah Carola; Perko, Gudrun (2008). Eine Formel bleibt eine Formel…Gender- und diversitygerechte<br />
Didaktik an Hochschulen: ein intersektionaler Ansatz. In: Alker, Ulrike; Weilenmann Ursula<br />
(Hrsg.). Gender Mainstreaming und Diversity Management. Wien<br />
Fachhochschule Kärnten, Leitsätze für Gleichbehandlung. Zugriff am 10.12.2016 unter:<br />
https://www.fh-kaernten.at/ueber-die-fh/organisation/gleichbehandlung/<br />
Hochschule Ludwigshafen: Diversity Management Konzept der Hochschule Ludwigshafen am Rhein.<br />
Zugriff am 11.12.2016 unter https://www.hs-lu.de/fileadmin/user_upload/service/studium-undlehre/diversity/DiM_Konzept_HS_Ludwigshafen_am_Rhein_barrierearm.pdf<br />
Interview mit Ratheiser-Pirker, Kirsten (2016): Persönliches Interview mit Stathopoulos-Dohr Stefanie<br />
am 25.11.2016<br />
<strong>Inklusion</strong> gestalten. Nationale Konferenz <strong>zu</strong>r inklusiven Bildung. 17./18. Juni 2013. Berlin. Zugriff am<br />
11.12.2016 unter http://idis.uni-koeln.de/wp-content/uploads/konferenz_inklusion-gestalten_programm_barrierefrei.pdf<br />
Knauf, Helen (2013). <strong>Inklusion</strong> und Hochschule. Perspektiven des Konzepts der <strong>Inklusion</strong> als Strategie<br />
für den Umgang mit Heterogenität an Hochschulen in: Das Hochschulwesen, 61(5), 164-168. Zugriff<br />
am 03.12.2016 unter https://www.researchgate.net/profile/Helen_Knauf/publication/271214470_<strong>Inklusion</strong>_und_Hochschule_-_Perspektiven_des_Konzepts_<strong>Inklusion</strong>_als_Strategie_fur_den_Umgang_mit_Heterogenitat_an_Hochschulen/links/54c29d210cf256ed5a8ef97b.pdf<br />
Maas, Marie-Charlotte (14.12.2010). Mit Handicap an der Uni. Zeit Online. Zugriff am 19.02.2017 unter<br />
http://www.zeit.de/studium/hochschule/2010-12/studium-behinderung<br />
Menschenrechtserklärung: https://www.menschenrechtserklaerung.de/bildung-3681/ Zugriff am<br />
11.12.2016<br />
Schindler, Christiane. Auf dem Weg <strong>zu</strong> einer inklusiven Hochschule. Zugriff am 11.12.2016 unter<br />
http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/219/220<br />
Universitätsgesetz (2002): Gesamte Rechtsvorschrift für Universitätsgesetz 2002, Fassung vom<br />
06.03.2017. Zugriff am 06.03.2017 unter https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20002128<br />
Werner, Melanie; Vogt, Stefanie; Platte, Andrea (2014). Auf dem Weg <strong>zu</strong> einer inklusiven Fakultät.<br />
Zeitschrift für <strong>Inklusion</strong>, [S.l.], Juni 2014. ISSN 1862-5088. Zugriff am 8.12.2016 unter http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/217<br />
27 27
28
Musik verbindet – Ein Weg <strong>zu</strong>r <strong>Inklusion</strong><br />
Jennifer Hammer, Michaela Hren, Alisa Mischitz, Pascale Leder-Schellander<br />
Zusammenfassung<br />
Musik hat im Leben von Menschen eine hohe persönliche und gesellschaftliche Bedeutung. Es<br />
geht dabei nicht nur um das gemeinsame Musizieren, sondern um Akzeptanz, Aufmerksamkeit<br />
und Anerkennung. Dies betrifft sowohl Menschen ohne Behinderung, als auch Menschen mit<br />
Behinderung. Musik bietet die Möglichkeit Gemeinsamkeit <strong>zu</strong> erleben und kann die Basis für<br />
zwischenmenschliche Beziehungen sein. Im Folgenden werden nationale, internationale und<br />
aktuelle Beispiele vorgestellt, die den Weg für eine inklusive Beteiligung von Menschen mit<br />
Behinderung im musikalischen Setting ebnen können. Jeder Mensch ist <strong>zu</strong>m Erleben von Musik<br />
auf individuelle Weise fähig, Menschen mit und Menschen ohne Behinderung. Musik ist eine<br />
soziale Aktivität, die Kontakt und Begegnung ermöglicht, sowie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit<br />
vermittelt.<br />
1. Einführung<br />
Das IMP, Institut für musikpädagogische<br />
Forschung, Musikdidaktik und Elementares<br />
Musizieren der Universität für Musik und<br />
Kunst in Wien, beschäftigt sich mit Musik<br />
in einem breiten Blickwinkel. Wissenschaft<br />
und Forschung stehen im Zentrum innerhalb<br />
des IMPs. Die Praxis der Lehre und die<br />
Vermittlung von Musik wird untersucht, sowie<br />
Ideen und Konzepte für die Praxisfelder<br />
entworfen.<br />
Die Studierenden wollen später in Schulen,<br />
aber auch anderen Berufsfeldern die Prozesse<br />
des Musiklernens attraktiv machen.<br />
Die Arbeit der MitarbeiterInnen ist in zwei<br />
Bereiche geteilt. Den Bereich der Forschung<br />
und dem Bereich der Lehre. (IMP,<br />
2017)<br />
Das IMP setzt sich aus 40 MitarbeiterInnen<br />
aus vier verschiedenen Fachbereichen <strong>zu</strong>sammen:<br />
• Allgemeine Musikpädagogik<br />
• Instrumental(Gesangs)Pädagogik<br />
• Elementare Musikpädagogik<br />
• Mentoring<br />
Eines der Arbeitsfelder umfasst die inklusive<br />
Musikpädagogik, auf die hier näher<br />
eingegangen wird. (IMP, 2017)<br />
Musik-Inklusiv ist ein Angebot für eine<br />
Gruppe von MusikerInnen mit und ohne<br />
Behinderung gemeinsam <strong>zu</strong> musizieren.<br />
Außerdem können die TeilnehmerInnen Inputs<br />
und Feedbacks <strong>zu</strong> Konzerten, inklusivem<br />
Musizieren und Probemitschnitten geben<br />
als auch bekommen. (IMP, 2017)<br />
Das Ziel dieses Angebots ist es auch, einen<br />
Austausch zwischen den verschiedenen<br />
Gruppen <strong>zu</strong> ermöglichen und den Menschen<br />
mit Behinderung die Möglichkeit <strong>zu</strong><br />
geben ihre Wünsche und Bedürfnisse in einer<br />
Band preis <strong>zu</strong> geben. Darüber hinaus<br />
sollte das Interesse bei MusikerInnen geweckt<br />
werden, gemeinsam mit Menschen<br />
mit Behinderung <strong>zu</strong> musizieren. (IMP,<br />
2017)<br />
29 29
MUSIK VERBINDET<br />
Ein Beispiel hier<strong>zu</strong> ist die Band „Echt<br />
stoak“, die aus Mitgliedern mit unterschiedlichen<br />
Behinderungen, sowie professionellen<br />
MusikerInnen besteht und 1998 gegründet<br />
wurde. Die Musiktitel sind Eigenkompositionen.<br />
Hier geht es der musikalischen<br />
Leitung Kurt Franz nicht nur um Integration,<br />
sondern vor allem um Akzeptanz, Aufmerksamkeit<br />
und Anerkennung der Mitglieder.<br />
(IMP 2017)<br />
Neben dieser wissenschaftlichen Perspektive<br />
soll in einem weiteren Schritt auf die<br />
Bedeutung des Orff-Schulwerkes für die<br />
musikalische Sozial- und Integrationspädagogik<br />
und die Musiktherapie eingegangen<br />
werden.<br />
2. Bedeutung des Orff-Schulwerkes<br />
Wenn aufgrund einer Behinderung eine<br />
Ausdrucksmöglichkeit bei einem Menschen<br />
ausfällt, kommen <strong>zu</strong>sätzliche Möglichkeiten<br />
der Ansprechbarkeit hin<strong>zu</strong> und finden<br />
eine große Bedeutung. Der Heilpädagoge<br />
Karl Hofmarksrichter machte ORFF schon<br />
in den 60ern auf seine Arbeit mit Gehörlosen<br />
und Hörgeschädigten aufmerksam.<br />
Diese Menschen haben ein ausgeprägtes<br />
Vibrationsempfinden und konnten durch<br />
die ORFF-Instrumente miteinander spielen<br />
und tanzen. Durch dieses ausgeprägte Vibrationsempfinden<br />
schulte man die Gehörlosen<br />
bzw. Hörgeschädigten darauf Tonhöhen<br />
<strong>zu</strong> unterscheiden und dadurch ihre Sprechweise<br />
<strong>zu</strong> verbessern. (Orff-Schulwerk-Informationen,<br />
1999)<br />
Durch die ORFF-Musiktherapie konnten<br />
sinnesbehinderte und autistische Kinder<br />
von Musik, die alle Sinne beansprucht, einen<br />
Vorteil für ihre persönliche Entwicklung<br />
ziehen. Diese Therapie wird von Gertrud<br />
ORFF selbst als eine multisensorische<br />
Therapie bezeichnet. Hier werden durch<br />
freien gebundenen Rhythmus, durch Bewegung,<br />
sowie Melos in Sprache und Singen,<br />
alle Sinne beansprucht. Durch diese multisensorischen<br />
Impulse ist es möglich dort an<strong>zu</strong>setzen,<br />
wo Sinne geschädigt sind. (Orff-<br />
Schulwerk-Informationen, 1999)<br />
ORFF berichtet, dass für Kinder mit Autismus<br />
oder Entwicklungs- und Kontaktstörungen<br />
das Verbinden von Reizen, wie es<br />
<strong>zu</strong>m Beilspiel durch Musik und Tanz möglich<br />
ist, die Beziehungsfähigkeit <strong>zu</strong> sich<br />
selbst und der Umwelt erleichtert wird.<br />
(Orff-Schulwerk-Informationen, 1999)<br />
Die Idee Orffs, Musik als ein multisensorisches<br />
Phänomen <strong>zu</strong> betrachten, ist für die<br />
therapeutische Arbeit nicht nur sinnvoll,<br />
sondern notwendig. Besonders beziehungsfördernd<br />
ist die zwischenmenschliche Erfahrung,<br />
daß Gefühle, Empfindungen, Affekte<br />
geteilt werden können. Miteinander<br />
singen, spielen und tanzen stellen eine besondere<br />
Möglichkeit dar, dieses Empfinden<br />
»Gemeinsamkeit« <strong>zu</strong> erleben, <strong>zu</strong> erfahren.<br />
(Schumacher 1999)<br />
3. Internationale Entwicklung<br />
International gesehen erfährt das Thema<br />
„Menschen mit Behinderung in der Musik“<br />
einen Aufschwung. Beispielsweise stand<br />
der Eurovision Songcontest stand im Jahr<br />
2015 unter genau diesem Schwerpunkt.<br />
3.1 Song Contest 2015<br />
Die Intention des Eurovision Song Contests<br />
war, vom Beginn im Jahr 1956 bis heute,<br />
die Vielfalt Europas <strong>zu</strong> feiern. Nur 10 Jahre<br />
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />
sangen die Länder Europas <strong>zu</strong>sammen. In<br />
den vielen Jahren, in denen die Show <strong>zu</strong>r<br />
beliebtesten TV-Show Europas wurde, kamen<br />
viele Aspekte der Vielfalt <strong>zu</strong>m Vorschein.<br />
Themen wie Migration, die Friedensbewegung<br />
und die Emanzipation von<br />
Homosexuellen und Transgendern wurden<br />
in Liedern aufgearbeitet. Gesungen wurde<br />
von Juden, Farbigen und 1996 das erste Mal<br />
30
MUSIK VERBINDET<br />
von einem blinden Sänger aus Österreich,<br />
George Nussbaum. Es folgten weitere<br />
blinde SängerInnen, doch das Jahr 2015 war<br />
in zweierlei Hinsicht außergewöhnlich: Für<br />
Finnland trat die Punkband „Pertti Kurikan<br />
Nimipäivät“, die ausschließlich aus Menschen<br />
mit geistiger Behinderung besteht,<br />
und für Polen die Sängerin Monika Kuszyńska,<br />
die im Rollstuhl sitzt, an. In einem<br />
Interview mit der Zeitung „der Standard“,<br />
äußert sich Martin Ladstätter, Gründungsmitglied<br />
des ersten österreichischen Zentrums<br />
für selbstbestimmtes Leben in Österreich<br />
(Bizeps) <strong>zu</strong> dieser Thematik. Ladstätter<br />
beleuchtet die Gratwanderung einer solchen<br />
öffentlichen Darstellung von Behinderung,<br />
denn es wäre möglich, dass diese einerseits<br />
eine Art „Freak-Faktor“ mit sich<br />
bringen könnte. Andererseits sagt er:<br />
„Diese Chance gilt es jetzt <strong>zu</strong> nützen, denn<br />
Teilhabe ist der Schlüssel. Das gilt für Menschen<br />
mit Behinderung gleichermaßen wie<br />
für Lesben, Schwule und Transgender oder<br />
im Kampf gegen Rassismus. Das sind allesamt<br />
verwandte Themen." (Der Standard,<br />
2016)<br />
2015 wird der Song Contest auch erstmals<br />
für gehörlose Menschen in „international<br />
Sign“ dargestellt. Hierbei wird nicht nur der<br />
Text übersetzt, es geht vielmehr um die Erzählung<br />
einer Geschichte mit vielen Emotionen,<br />
um die Musik an sich besser fassen <strong>zu</strong><br />
können. (Der Standard, 2016)<br />
3.2 Pertti Kurikan Nimipäivät (PKN)<br />
Die Band wurde 2009 innerhalb eines<br />
Workshops, der non-profit Organisation<br />
„Lythy“ gegründet. Die vier Mitglieder sind<br />
Pertti Kurikka, Kari Aalto, Sami Helle und<br />
Toni Välitalo. Zwei der Musiker haben das<br />
Down-Syndrom, einer hat eine Autismus<br />
Spektrum Störung und einer hat das Williams-Beuren-Syndrom,<br />
eine genetisch bedingten<br />
Erscheinung. „The members of our<br />
band are four middle-aged, mentally handicapped<br />
men. The music is, of course, Finnish<br />
punk.“ (PKN, 2016)<br />
Schon vor dem Song Contest 2015 erlangte<br />
die Band internationale Aufmerksamkeit<br />
durch die Dokumentation „The Punk Syndrome“,<br />
in der ihr Leben beleuchtet wurde.<br />
Die Band schreibt ihre Lieder selbst, meistens<br />
wird der Lead-Sänger aktiv, der in einer<br />
Wohngemeinschaft in Kallio lebt:<br />
“In Kallio I see drunks, drug addicts, rock<br />
musicians and police officers every day.<br />
The song ‘Kallioon’ is my view on life in<br />
Kallio. It takes a couple of minutes to write<br />
lyrics for a song, and I find the subjects in<br />
society and the way I look at the world.”<br />
(PKN, 2016)<br />
Die Band geht auch auf Tour, auch außerhalb<br />
Finnlands. Sami Helle spielt die Bass<br />
Gitarre und wuchs in New York auf. Er<br />
spricht Englisch, was für die Band wichtig<br />
ist:<br />
“We bring a different kind of perspective<br />
into punk music; it’s our perspective. We’re<br />
different; we’re four mentally disabled<br />
guys, so our perspective on the world of<br />
punk is a little different.” (PKN, 2016)<br />
In ihren Songs thematisieren sie ihr Leben<br />
und sagen da<strong>zu</strong>: „We play punk and have a<br />
F*cking good time.“ (PKN, 2016)<br />
Neben der finnischen Band PKN soll in weiterer<br />
Folge auch eines aus Österreich vorgestellt<br />
werden.<br />
3.3 „No-Problem-Orchester“ Erfolgsgeschichte<br />
einer unglaublichen Band<br />
Mag. Dr. Joseph Schörkmayr, Initiator und<br />
Leiter des „No Problem Orchesters“ veröffentlichte<br />
2002 <strong>zu</strong>m 20 Jahr-Jubiläum sein<br />
Buch über die Erfolgsgeschichte dieser außergewöhnlichen<br />
Band. Seit 1983 ist er in<br />
der Arbeit als Musiktherapeut für geistig<br />
und körperlich schwerstbehinderte Men-<br />
31 31
MUSIK VERBINDET<br />
schen tätig. Im Buch beschreibt Schörkmayr<br />
nicht nur das erfolgsversprechende<br />
Musik-Konzept, sondern berichtet auch<br />
über die weltweiten Auftritte des Orchesters<br />
in der Öffentlichkeit. (Schörkmayr, 2009)<br />
Schörkmayr befasste sich bereits 1982 mit<br />
der Idee, Menschen mit Behinderungen das<br />
Musizieren näher <strong>zu</strong> bringen. Er stellte in<br />
der Behinderten-Therapiearbeit fest, dass<br />
jeder Einzelne einen eigenen Rhythmus in<br />
sich trägt. Dieser Eigenrhythmus wurde<br />
verstärkt, indem das Therapieteam Gruppen<br />
von behinderten Menschen geformt und <strong>zu</strong><br />
einem Gruppenrhythmus <strong>zu</strong>sammengeführt<br />
hat. Der Sinn ist, die Gruppe so <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>stellen,<br />
dass nur Menschen mit gleicher<br />
oder ähnlicher Eigenschwingung <strong>zu</strong>sammenspielen.<br />
In diesem Sinne kommt es <strong>zu</strong><br />
einer rhythmischen Geschlossenheit, besser<br />
gesagt, die Band groovt. „Groove“, ein Begriff<br />
aus der Welt des Jazz, ist eine Stimmung,<br />
ein elektrisierendes Gefühl. Das Orchester<br />
hatte <strong>zu</strong>nächst nur ein Stück von den<br />
Beatles, „Norwegian wood“, eingeübt. Genau<br />
dieses Musikstück wurde <strong>zu</strong>m Erfolg<br />
des Orchesters, da ein reales Stück präsentiert<br />
wurde und nicht bloß eine Abfolge von<br />
Geräuschen aller Art. Das war der erste<br />
Meilenstein auf dem Weg <strong>zu</strong>m 20 Jahr-Jubiläum.<br />
Das neu geformte Orchester produzierte<br />
keine chaotischen Geräusche, sondern<br />
professionelle Musik. Für das Publikum<br />
war der Auftritt des Orchesters natürlich<br />
etwas ungewöhnlich, da erstmals Menschen<br />
mit Behinderung auf der Bühne standen,<br />
die etwas besser konnten als die meisten<br />
Zuhörer. Die MusikerInnen präsentierten<br />
sich selbstbewusst, verhielten sich frei<br />
und ungehemmt. (Schörkmayr, 2009, S.14)<br />
Für Schörkmayr war dies der ganz persönliche<br />
Anfangserfolg. Mit der stetig wachsenden<br />
Berühmtheit eines mehr als außergewöhnlichen<br />
Orchesters stellte sich auch<br />
wachsender Neid und Vorurteile vieler<br />
nicht behinderter Menschen, egal ob aus<br />
Politik oder Pädagogik, ein. Jeder auch nur<br />
kleine Erfolg des Orchesters zog negative<br />
Reaktionen nach sich. Beispielsweise<br />
wurde das Orchester bei Konzertveranstaltungen<br />
schlecht gemacht oder es wurde davon<br />
abgeraten das Orchester <strong>zu</strong> engagieren.<br />
Dies ließ sich nur aus Angst vor dem Neuen,<br />
und Unbekannten erklären. Dass Menschen<br />
mit Behinderung dermaßen denunziert wurden,<br />
ist unverständlich. (Schörkmayr, 2009,<br />
S.15)<br />
Aller Widerstände <strong>zu</strong>m Trotz trat das Orchester<br />
weiterhin auf und der Einsatz lohnte<br />
sich. Der Europäischen Kommission fiel im<br />
Jahr 1995 der Paradigmenwechsel in der<br />
Musikpädagogik positiv auf: Für die Mitglieder<br />
der Europäischen Kommission war<br />
es erstaunlich, dass Menschen mit Behinderung<br />
bei öffentlichen Veranstaltungen auftraten<br />
und nicht ausschließlich bei Benefiz-<br />
Veranstaltungen. Das Orchester wurde für<br />
Kongresseröffnungen oder in Hollywood<br />
von US-Kinostars gebucht. (Schörkmayr,<br />
2009, S. 17).<br />
1995 wurde Schörkmayr der EU-Preis für<br />
funktionelle Rehabilitation in Brüssel verliehen.<br />
Sogar im Europäischen Leitfaden<br />
für empfehlenswerte Praktiken 2 wird das<br />
„No Problem Orchester“ als hervorragendes<br />
Modell <strong>zu</strong>r Förderung und Eingliederung<br />
von Menschen mit Behinderung in der Alltagsgesellschaft<br />
bezeichnet. (Schörkmayr,<br />
2009, S. 80).<br />
2 HELIOS II ist das einzige Programm der Europäischen Gemeinschaft, das ausschließlich<br />
Menschen mit Behinderung gewidmet ist. Ziel ist die Chancengleichheit<br />
und Eingliederung von Menschen mit Behinderung <strong>zu</strong> fördern. Das Programm<br />
versucht da<strong>zu</strong> innovative und effektive Praktiken <strong>zu</strong> ermitteln und die<br />
Kooperation zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten, den Organen der<br />
Europäischen Gemeinschaft, internationalen Organisationen usw. <strong>zu</strong> verbessern.<br />
(Europäische Kommission 1996)<br />
32
MUSIK VERBINDET<br />
Seit 1985 inszenierte das „No Problem Orchester“<br />
über 5000 Auftritte weltweit, da<strong>zu</strong><br />
zählt u.a. das Jazzfestival in Montreux, das<br />
Jazzfestival San Antonio, Rochester und<br />
Frankfurt. 2001 wurde den Bandmitgliedern<br />
sogar die Ehrenbürgerschaft von Key<br />
West in Florida verliehen. (Schörkmayr,<br />
2009, S. 142).<br />
Bis <strong>zu</strong>m Jahr 2011 trat das „No Problem Orchester“<br />
öffentlich auf, danach wurde es<br />
still um die Band.<br />
3.4 Therapie durch Musik und Musizieren<br />
Während der Zeit der großen Erfolge wurden<br />
die Therapiezentren für die Mitglieder<br />
des „No-Problem-Orchesters“ in Klagenfurt<br />
und Graz ausgebaut und waren ca.<br />
mit 75 KlientInnen gut besucht. Davon waren<br />
ca. 45 KlientInnen in der Lage auch öffentlich<br />
auf<strong>zu</strong>treten. (Schörkmayr, 2009, S.<br />
16). Schörkmayrs Anliegen war immer,<br />
dass auch Menschen mit schwer zerebraler<br />
Behinderung, behindertengerecht gestellte<br />
Aufgaben lösen können und vor dem Publikum<br />
eine beachtenswerte Leistung erbringen<br />
können. Erfolg und Anerkennung stimulieren<br />
Menschen mit und ohne Behinderung.<br />
(Schörkmayr, 2009, S. 18).<br />
Musik ist als Botschaft von Mensch <strong>zu</strong><br />
Mensch <strong>zu</strong> sehen, unabhängig von allen Dimensionen<br />
von Diversität. (Schörkmayr,<br />
2009, S. 21).<br />
Musik als Therapie; Diese neue Therapieform<br />
wurde von den damals etablierten<br />
TherapeutInnen weder akzeptiert noch verstanden.<br />
Durch das gemeinsame Musizieren<br />
sollen Leiden und Krankheiten von Menschen<br />
mit Behinderung gemindert werden.<br />
Ein wesentliches und aufbauendes Element<br />
der Musiktherapie ist es jedoch, dass die<br />
MusikerInnen gemeinsam mit HelferInnen<br />
und LeidensgefährtInnen <strong>zu</strong>sammen an einem<br />
Musikstück arbeiten. Die Entwicklung<br />
der Musikinstrumente für diese Therapieform<br />
verlangt ein Eingehen auf die tatsächlichen<br />
Fähigkeiten der Menschen mit Behinderung.<br />
So gesehen muss der/die TherapeutIn<br />
sich also der Natur des Kranken unterordnen.<br />
Der Mensch wird nicht „umgemodelt“,<br />
muss sich auch nicht neu erfinden,<br />
sondern es werden in ihm ungeahnte Heiltendenzen<br />
geweckt. Zu erwähnen ist, dass<br />
das Verhältnis von TherapeutIn und<br />
Mensch mit Behinderung nicht als Arzt-Patient-Verhältnis<br />
<strong>zu</strong> sehen ist, sondern vielmehr<br />
als Verhältnis zwischen BandleaderIn<br />
und MusikerIn <strong>zu</strong> verstehen ist. Zu guter<br />
Letzt hat auch der erfolgreiche Auftritt der<br />
Musiker, der lobende Zuspruch und die Anerkennung<br />
ihrer Leistung eine heilende<br />
Wirkung. (Schörkmayr, 2009, S. 26-27).<br />
Das Therapiekonzept verläuft in drei Schritten:<br />
Zu Beginn der Therapie wird der<br />
Mensch mit Behinderung darauf getestet<br />
welches Tempo (Rhythmus) <strong>zu</strong> seiner persönlichen<br />
Eigenschwingung passt und sucht<br />
sich durch Probieren ein Instrument aus, das<br />
ihm liegt. Als zweiten Schritt wird das Erlernen<br />
des Instrumentes gesehen sowie das<br />
Proben in der Gruppe. Der dritte und sehr<br />
wesentliche Schritt ist das Auftreten des<br />
Musikers in der Öffentlichkeit. Die No-<br />
Problem-Music-Therapie grenzt sich eindeutig<br />
von anderen gebräuchlichen Musiktherapien<br />
ab, die auf die Einzelperson angelegt<br />
sind. In einer Band <strong>zu</strong> musizieren ist ein<br />
dynamischer Gruppenprozess, indem jeder<br />
auf den anderen angewiesen ist. (Schörkmayr,<br />
2009, S. 29-30).<br />
Dass Musik keine Ausgren<strong>zu</strong>ng kennt, zeigt<br />
auch folgendes Beispiel.<br />
33 33
MUSIK VERBINDET<br />
3.5 Musik kennt keine Ausgren<strong>zu</strong>ng –<br />
Der Firefly Club<br />
Ein weiteres Beispiel für Musik als ein Weg<br />
<strong>zu</strong>r <strong>Inklusion</strong> ist der Firefly Club aus Wien.<br />
Der Firefly Club ist ein gemeinnütziger<br />
Verein <strong>zu</strong>r Integration von musisch kreativen<br />
Menschen mit Behinderung. Der Verein<br />
bildet Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung<br />
<strong>zu</strong> DJs aus und vermittelt<br />
diese <strong>zu</strong> Veranstaltungen und organisiert<br />
selbst integrative Veranstaltungen. Die<br />
wörtliche Überset<strong>zu</strong>ng von Firefly bedeutet<br />
„Glühwürmchen“. Dieses Wort dient dem<br />
Club als Leitbild, indem die dunklen Schatten<br />
der Aus- und Abgren<strong>zu</strong>ng mit Musik beleuchtet<br />
werden. Der Verein ist überzeugt<br />
davon, dass Musik alle Menschen verbinden<br />
kann. Außerdem wird die Devise vertreten,<br />
dass Behinderung kein Hindernis ist,<br />
wenn man sie <strong>zu</strong> keinem Macht. Jeder der<br />
DJs hat seinen ganz eigenen Stil und sein<br />
eigenes Musikrepertoire, das er auf den verschiedensten<br />
Veranstaltungen einbringen<br />
kann. (Firefly Club, 2016)<br />
Der Firefly Club wird hauptsächlich über<br />
Spenden, Buchungen und Förderungen finanziert.<br />
Mit dem <strong>zu</strong>r Verfügung stehenden<br />
Budget werden unter anderem die Miete für<br />
Workshops und Partys aufgebracht, es wird<br />
das Honorar für die DJs davon bezahlt, die<br />
Trainer der DJs werden entschädigt, es werden<br />
Flyer gedruckt und auch das Equipment<br />
für die DJ-Tätigkeit wird mit diesen Geldmitteln<br />
angeschafft und bereitgestellt. (Firefly<br />
Club, 2016)<br />
Das Paar Johanna und Markus hat ihre<br />
Ausbildung bereits abgeschlossen. Markus<br />
spricht begeistert von der Ausbildung und<br />
seiner Tätigkeit als DJ: „Die Ausbildung<br />
war sehr toll und sie hat uns beiden sehr viel<br />
gebracht. Für mich bedeutet Musik Spaß<br />
und Energie, viele Leute, sie macht viel<br />
Freude und dass man einfach gute Laune<br />
verbreiten kann. Auch, dass man seine Gefühle<br />
ausdrücken kann. Mein Wunsch wäre<br />
es, dass die Leute sich trauen uns <strong>zu</strong> buchen.<br />
Musik auflegen macht einfach Spaß<br />
und wir lieben es auf der Bühne <strong>zu</strong> stehen.<br />
Wir lieben es die Leute <strong>zu</strong> unterhalten.“<br />
Auch Johanna erklärt, was Musik für sie bedeutet:<br />
„Musik bedeutet mir sehr viel. Sie<br />
bedeutet Liebe, Vertrauen und Spaß.“<br />
(Firefly Club, 2016)<br />
Bevor die DJs ihre ersten Aufträge bekommen,<br />
durchlaufen sie ein zehnmonatiges<br />
Ausbildungsprogramm.<br />
Christoph Sackl ist einer der beiden Gründer<br />
des Firefly Clubs, ist selbst leidenschaftlicher<br />
DJ und möchte sein Wissen<br />
weitergeben. Er spricht über die Ziele des<br />
Firefly Clubs: „Es gibt nur sehr wenige<br />
Künstler mit Behinderung in der Öffentlichkeit.<br />
Wir wollen aktiv <strong>zu</strong> einer inklusiven<br />
Gesellschaft beitragen, Vorurteile abbauen<br />
und es stellt auch eine Art Sensibilisierungsmaßnahme<br />
dar. Wir kümmern uns um<br />
das Organisatorische, während ein Trainer,<br />
der selbst ausgebildeter DJ ist, die Gruppe<br />
der Aus<strong>zu</strong>bildenden leitet. (Firefly Club,<br />
2016)<br />
Die Vision der beiden Gründer Christoph<br />
und Sebastian ist ganz klar: Durch die Ausbildung<br />
soll das Selbstvertrauen der DJs gestärkt<br />
werden und ihnen <strong>zu</strong> einem unabhängigeren<br />
Leben verholfen werden. Darüber<br />
hinaus soll es helfen Vorurteile ab<strong>zu</strong>bauen.<br />
(Firefly Club, 2016)<br />
4. Musik & Diversity<br />
Die verschiedenen nationalen und internationalen<br />
Beispiele von Musik als Weg <strong>zu</strong>r <strong>Inklusion</strong><br />
haben gezeigt, dass Behinderung<br />
34
MUSIK VERBINDET<br />
eine Herausforderung ist und mit vielen persönlichen<br />
und beruflichen Fragen konfrontiert<br />
ist:<br />
• Der Mensch mit Behinderung ist durch<br />
seine Behinderung herausgefordert.<br />
• Durch Menschen mit Behinderung wird<br />
die Gesellschaft herausgefordert.<br />
• Die Herausforderung für PädagogInnen<br />
besteht darin, neue, passende und humane<br />
Inhalte und Methoden <strong>zu</strong> finden,<br />
<strong>zu</strong> entwickeln und <strong>zu</strong> verwirklichen.<br />
(Salmon, 1999)<br />
In einer Gesellschaft, in der Nutzbarkeit,<br />
Produktivität und finanzielle Verdienstmöglichkeiten<br />
einen so hohen Stellenwert<br />
haben, führt jede Beeinträchtigung <strong>zu</strong> realen<br />
Problemen. Intellektuelle und logische<br />
Leistungen nehmen in unserer Gesellschaft<br />
einen viel höheren Stellenwert ein als andere<br />
Talente wie z.B. linguistische oder musikalische<br />
Talente. Durch diese Gewichtung<br />
bekommen Menschen mit Behinderung oft<br />
nur wenig Platz innerhalb der Gesellschaft.<br />
(Salmon, Behinderung als Herausforderung,<br />
1999)<br />
Menschen mit Behinderung stellen für uns<br />
alle eine Herausforderung dar, da ihr Sein<br />
uns auffordert unsere Wahrnehmungen anderen<br />
Menschen gegenüber, unsere Gefühle<br />
und Gedanken über das Mensch-Sein <strong>zu</strong><br />
hinterfragen. Die vorgeprägten Meinungen<br />
über Rechte, Wertvorstellungen, über Pädagogik<br />
und Erziehung scheinen sich in diesem<br />
Kontext nicht mehr ganz so klar dar<strong>zu</strong>stellen.<br />
Die Gesellschaft muss mit solchen<br />
Erkenntnissen umgehen lernen und es jedem<br />
Individuum ermöglichen, musikalische<br />
oder tänzerische Bildung <strong>zu</strong>kommen <strong>zu</strong> lassen.<br />
(Salmon, 1999)<br />
Bedürfnisse und daraus folgende Rechte<br />
sollen für jeden Menschen gültig sein und<br />
umgesetzt werden. Darunter fällt die Nichtaussonderung<br />
und die Wahrnehmung als Individuum,<br />
das Recht darauf, so <strong>zu</strong> lernen,<br />
dass individuelle Beeinträchtigungen und<br />
Begabungen respektiert und berücksichtigt<br />
werden. Das Bedürfnis bzw. Recht auf musische<br />
Erlebnisse und den eigenen kreativen<br />
Ausdruck <strong>zu</strong> finden soll umgesetzt werden.<br />
(Salmon, 1999)<br />
Musik ist vor allem eine soziale Aktivität.<br />
Sie ermöglicht Kontakt, Begegnung und ein<br />
Gefühl der Zusammengehörigkeit.<br />
Durch den Zugang von Menschen mit Behinderung<br />
<strong>zu</strong> den Künsten, <strong>zu</strong> künstlerischen<br />
Aktivitäten oder Bildung, können<br />
Teile ihrer Persönlichkeit weiterentwickelt<br />
und der Isolation, der sie oft durch die Gesellschaft<br />
ausgesetzt sind, entgegengewirkt<br />
werden. (Salmon 1999)<br />
Quellen:<br />
Europäische Kommission GD V (1996): Helios II Europäische Leitfaden für empfehlenswerte Praktiken.<br />
Auf dem Weg <strong>zu</strong>r Chancengleichheit für behinderte Menschen. Luxemburg: Europäische Kommission<br />
GD V/E.3<br />
Eurovision Song Contest (2016): History. http://www.eurovision.tv/page/history. Zugriff am 8.12.2016.<br />
Firefly Club (2016): http://www.fireflyclub.at/site/. Zugriff am: 6.12.2016.<br />
Perrti Kurikan Nimipäivät (2016): Home, Biographie, Musik. http://www.pkn.rocks/. Zugriff am<br />
7.12.2016.<br />
35 35
MUSIK VERBINDET<br />
Salmon, Shirley (1999): Behinderung als Herausforderung. Orff-Schulwerk Informationen. Nr.62. entnommen<br />
aus: http://bidok.uibk.ac.at/library/salmon-herausforderung.html. Zugriff am: 1.12.2016.<br />
Schörkmayr, Joseph B. (2009): No Problem Orchester. Erfolgsgeschichte einer unglaublichen Band.<br />
Steyr: Ennsthaler Gesellschaf m.b.H & Co.KG.<br />
Song Contest: 2015 ist das Jahr der Menschen mit Behinderungen (2016): http://derstandard.at/2000015650257/<strong>Inklusion</strong>-beim-Song-Contest2015-das-Jahr-der-Menschen-mit-Behinderungen.<br />
Zugriff am: 7.12.2016.<br />
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Projekt „Kick forward“ – Straßenfußball und <strong>Inklusion</strong><br />
Anna Diethart, Bernhard Wieser, Christian Wakonig, Petra Gardener und Anna Gruber<br />
Zusammenfassung<br />
Das pädagogische Konzept, das den Titel „Kick forward“ beziehungsweise „Straßenfußball für<br />
Toleranz“ trägt, eröffnet jungen Menschen durch Sport neue Lern- und Erfahrungsräume für<br />
ein gelingendes Miteinander. In internationalen Projekten, die von der (außer)schulischen Jugendarbeit<br />
umgesetzt werden, wird eine Bandbreite an Jugendlichen erreicht. Die Verbindung<br />
von Sport und pädagogischen Inhalten schafft hierbei einen Raum, in dem Integration spielerisch<br />
erfahrbar wird (vgl. Jäger, 2006, 2). Somit ist dieses Projekt neben anderen Schwerpunkten<br />
ein Schritt in Richtung des Ziels der Teilhabe aller Menschen in der Gesellschaft.<br />
1. Einleitung<br />
Dass Bildung Spaß machen kann, zeigt sich<br />
beim Projekt „Kick forward“, oder auf<br />
Deutsch: „Straßenfußball für Toleranz“, in<br />
dem der <strong>Inklusion</strong>sgedanke mit Bewegung<br />
und Vergnügen verbunden wird. Sowohl<br />
Schulen als auch Gruppen aus der offenen<br />
Jugendarbeit werden damit angesprochen.<br />
Ziel ist es Erfahrungs- und Lernräume für<br />
ein gelingendes Miteinander <strong>zu</strong> schaffen. In<br />
das Regelwerk des Straßenfußballs fließen<br />
neben dem Sport Erkenntnisse aus wissenschaftlichen<br />
Disziplinen ein. Darin beinhaltet<br />
sind Themen wie Gewaltprävention,<br />
Friedenspädagogik, globales Lernen, nachhaltige<br />
Entwicklung und Demokratieerziehung.<br />
(vgl. Jäger, 2006, 2).<br />
Vorausset<strong>zu</strong>ng für die Durchführung von<br />
„Straßenfußball für Toleranz“ sind weder<br />
Tore noch sonstiges teures Material, nur<br />
eine Teamer*innen-Ausbildung ist wünschenswert.<br />
Teamer*innen werden anstelle<br />
der Schiedsrichter*innen eingesetzt und<br />
sind Vermittler*innen zwischen den Spieler*innen.<br />
Sie sollen dabei unterstützen präventiv<br />
<strong>zu</strong> arbeiten und aktives Konfliktmanagement<br />
um<strong>zu</strong>setzen (vgl. Jäger, 2016, 8).<br />
Worin unterscheiden sich Integration und<br />
<strong>Inklusion</strong>? Integration bedeutet, Menschen<br />
aus Randgruppen und Minderheiten in die<br />
Gesamtgesellschaft ein<strong>zu</strong>gliedern, wobei<br />
die Normen der Mehrheitsgesellschaft und<br />
die Rahmenbedingungen in den meisten<br />
Fällen als starres System erlebt werden. Innerhalb<br />
der <strong>Inklusion</strong> wird nicht mehr zwischen<br />
„Normalen“ und „A-Normalen“ unterschieden,<br />
sondern alle werden von vornherein<br />
als Teil des Ganzen gesehen. Anstelle<br />
von Normierung und Anpassung tritt<br />
die Wertschät<strong>zu</strong>ng der Pluralität in den Mittelpunkt.<br />
<strong>Inklusion</strong> stößt jedoch dann an<br />
ihre Grenzen, wenn die Menschenrechte<br />
missachtet werden und wenn das gelingende<br />
Miteinander nicht als gemeinsames<br />
Ziel angestrebt wird (vgl. Jäger, 2016, 8ff.).<br />
Besonders relevant aus Sicht der Disability<br />
& Diversity Studies ist es, dass bei „Kick<br />
forward“ Rahmenbedingungen, in denen<br />
Pluralität und Gleichberechtigung bejaht<br />
werden, geschaffen werden. Die teilnehmenden<br />
Jugendlichen an diesen Projekten<br />
haben vielfältige Backgrounds und es erfolgt<br />
die Förderung von Toleranz gegen-<br />
39 37
PROJEKT „KICK FORWARD“<br />
über verschiedenen Meinungen, Nationalitäten<br />
und Kultur<strong>zu</strong>gehörigkeiten. Ein weiterer<br />
Aspekt ist, dass die Gleichberechtigung<br />
zwischen Mädchen und Jungen insofern<br />
thematisiert wird, als dass nur gemischte<br />
Teams aus Mädchen und Jungen bei den<br />
Turnieren antreten können. Weil die Tore<br />
der Jungen jedoch nur dann gewertet werden,<br />
wenn ein Tor durch die Mädchen geschossen<br />
worden ist, bleibt eine gewisse<br />
Ungleichheit zwischen den Geschlechtern<br />
bestehen. Hier stellt sich die Frage, ob es<br />
notwendig ist, die Regel <strong>zu</strong> ändern oder ob<br />
auf Grund der Unterschiede zwischen den<br />
Geschlechtern eine differenzierte Behandlung<br />
gerechtfertigt werden kann. Es gibt außerdem<br />
eine Dialogzone, in der einerseits<br />
vor dem Spiel Fairplay-Regeln ausgemacht<br />
werden und in der andererseits nach dem<br />
Spiel die Umset<strong>zu</strong>ng dieser Regeln reflektiert<br />
wird (vgl. Jäger, 2006, 4-7).<br />
Es liegt demnach ein durchdachtes Konzept<br />
vor, das - ursprünglich aus Kolumbien<br />
stammend – international umgesetzt wird.<br />
Wobei hier an<strong>zu</strong>merken ist, dass die<br />
Schwerpunktset<strong>zu</strong>ng dieses Artikels die<br />
Projektumset<strong>zu</strong>ng in Deutschland betrifft<br />
und da<strong>zu</strong> noch keine wissenschaftlichen<br />
Auswertungen über die Effektivität des Projekts<br />
vorliegen. Trotzdem ist die Intention<br />
von „Kick forward“ eine, die neugierig<br />
macht, weitere Betrachtungen vor<strong>zu</strong>nehmen<br />
und tiefer ein<strong>zu</strong>tauchen (vgl. Jäger,<br />
2006, 2).<br />
Aus diesem Grund wird in diesem Artikel<br />
<strong>zu</strong>nächst auf den geschichtlichen „Ursprung“<br />
des Projekts und dessen Weiterentwicklung<br />
eingegangen. Danach folgt eine<br />
szenische Darstellung des Ablaufs eines<br />
Spieles und schlussendlich wird der Frage<br />
nachgegangen, welche Parallelen sich zwischen<br />
„Straßenfußball für Toleranz“ und <strong>Inklusion</strong><br />
in Be<strong>zu</strong>g auf Rahmenbedingungen<br />
und bestehen.<br />
2. Geschichte und aktuelle Situation<br />
Inmitten der verfeindeten Viertel von Kolumbien,<br />
wo es rau <strong>zu</strong>geht, wo jemand, der<br />
nicht still hält, einfach getötet wird, wird<br />
zwischen Baracken und kaputten Autos auf<br />
roter Erde und mithilfe geflickter Tornetze<br />
Fußball gespielt. Aber nicht irgendein Fußball,<br />
sondern Fußball für den Frieden. Dem<br />
39-jährigen Soziologen und Sportwissenschaftler<br />
Jürgen G. gelang es, genau dort ein<br />
Fußballspiel nach Regeln der Toleranz <strong>zu</strong><br />
etablieren. Nicht nur das Töten, sondern<br />
auch Beschimpfungen, Drohungen und<br />
Fouls hat er damit abgefangen. Er plädiert<br />
für Trost, gegenseitige Unterstüt<strong>zu</strong>ng und<br />
faires Verhalten. Wie gelang ihm das (vgl.<br />
Jäger, 2006, 6)?<br />
Jürgen G. aus Deutschland reist 1993 für ein<br />
Sportforschungsprojekt nach Kolumbien.<br />
Dort wird er <strong>zu</strong>m Beobachter von starken<br />
Emotionen, die durch ein Fußballspiel ausgelöst<br />
werden können: Ein Spieler schießt<br />
ein Eigentor, er wird auf offener Straße erschossen;<br />
Eine Frau erschießt sich nach einer<br />
Niederlage der Mannschaft selbst. Um<br />
das auf<strong>zu</strong>halten und die heftigen Emotionen<br />
in positive Bahnen <strong>zu</strong> lenken, entwickelt er<br />
Regeln für ein friedlicheres Miteinander der<br />
verfeindeten Viertel. Er bindet verstärkt die<br />
Mädchen und Frauen in das Spiel ein. Die<br />
Anschauung, dass für einen Sieg neben<br />
möglichst vielen Toren auch Fairness notwendig<br />
ist, versucht er um<strong>zu</strong>setzen und lebbar<br />
<strong>zu</strong> machen. Beim ersten Versuchsspiel<br />
gab es Drohungen und Steinwürfe, aber völlig<br />
überraschend endete der Versuch dann<br />
doch positiv, da sich der Bandenchef spontan<br />
auf die Seite von Jürgen G. stellte (vgl.<br />
Jäger, 2006, 6).<br />
Jürgen G. rekrutierte <strong>zu</strong> Beginn siebzig<br />
Sportler und konnte einen sprunghaften Anstieg<br />
innerhalb der nächsten Monate ver-<br />
40 38
PROJEKT „KICK FORWARD“<br />
zeichnen. Es entstand "Fußball für den Frieden"<br />
und dieser zog vor allem jugendliche<br />
Spieler*innen an, welche die vorgegebenen<br />
Regeln akzeptierten. Jeder, der die Regeln<br />
annahm, durfte mitspielen, unabhängig von<br />
Status oder Vergangenheit. Dies ist vor allem<br />
in einer Gegend, wo Alkohol, Drogenkonsum<br />
und Diebstahl an der Tagesordnung<br />
stehen, ein enorm wichtiger Aspekt (vgl. Jäger,<br />
2006, 6).<br />
Auch in Deutschland konnte diese Initiative<br />
<strong>zu</strong>erst in Brandenburg, dann landesweit unter<br />
dem Motto "fair play for fair life" in den<br />
Schulen umgesetzt werden. Neben der Vermittlung<br />
von sozialen Kompetenzen galt als<br />
Ziel, schulisches und außerschulisches Lernen<br />
miteinander <strong>zu</strong> verbinden. Nach und<br />
nach wurden landesweit faire Turniere ausgetragen,<br />
vor allem <strong>zu</strong>gunsten der Förderung<br />
von Jugendlichen, welche sozial benachteiligt<br />
sind. 2006 konnte sogar eine<br />
Weltmeisterschaft in Baden- Württemberg<br />
veranstaltet werden, an welcher 2000 Kinder<br />
und Jugendliche teilnahmen (vgl. Jäger,<br />
2006, 3).<br />
In Deutschland konnte das Modell erfolgreich<br />
implementiert werden; auch in Österreich<br />
können inner- und außerschulische<br />
Modelle des "fair play" Ein<strong>zu</strong>g finden. Das<br />
Fußballspiel als "kick forward Variante"<br />
könnte Schüler*innen verschiedenster Herkunft<br />
in simpler Art <strong>zu</strong>sammenbringen und<br />
das Kennenlernen untereinander fördern.<br />
Kinder und Jugendliche würden lernen, wie<br />
sie gemeinsame Regeln vereinbaren, Konflikte<br />
und Krisen lösen und Spannungen<br />
überwinden können. Außerdem würde<br />
sportliche Betätigung die körperliche Gesundheit<br />
fördern und das Selbstvertrauen<br />
erhöhen. Darüber hinaus ist dies ein Weg<br />
<strong>zu</strong>r Förderung des Teambewusstseins.<br />
Durch die Initiative Fairplay für Vielfalt<br />
und Antidiskriminierung mit ihrem Sitz in<br />
Wien wurden bereits erste Schritte in diese<br />
Richtung gesetzt. Die Initiative wurde 2012<br />
durch Unterstüt<strong>zu</strong>ng des Sportministeriums<br />
ins Leben gerufen und bietet Beratung für<br />
Flüchtlingsinitiativen im Bereich des Sports<br />
an. Jede Gruppe, welche Camps oder Trainings<br />
für Flüchtlinge öffnen oder initiieren<br />
möchte, bekommt Hilfestellung in organisatorischen,<br />
rechtlichen oder infrastrukturellen<br />
Fragestellungen. Mit "Kicken ohne<br />
Grenzen" konnten offene Trainingseinheiten<br />
für Jugendliche geschaffen werden und<br />
darüber hinaus werden auch Mädchen- und<br />
Frauenfußballinitiativen verstärkt gefördert.<br />
In dieser Form kann Fußball die soziale<br />
Entwicklung nachhaltig positiv beeinflussen<br />
(vgl. Fairplay).<br />
3. Szene<br />
Wir befinden uns auf dem Fußballfeld in Tübingen.<br />
Hier findet heute kein gewöhnliches<br />
Fußballspiel statt, es wird nämlich nach<br />
„Fairplay Regeln“ gespielt. Was dieses<br />
Spiel so bedeutend macht? Jeder kann mitmachen,<br />
solange die Regeln eingehalten<br />
werden.<br />
Lena ist 13 Jahre alt und spielt seit rund einem<br />
Jahr bei „Straßenfußball für Toleranz“<br />
mit. Vorher hat sie nur das „normale“<br />
Fußballspiel gekannt und wurde deshalb<br />
vor eine ungewohnte Situation gestellt.<br />
Der Sprung von einem Mädchenfußball-<br />
Team in ein gleichberechtigtes und auch inklusives<br />
Team, das durch Regeln die<br />
Gleichstellung sichert und die Vielfalt der<br />
Kinder und Jugendlichen als etwas Gutes<br />
sieht; von einem teilweise aggressivem<br />
Spielverhalten, <strong>zu</strong> einem gewaltfreiem<br />
Spielverhalten; und vom Leistungsdruck<br />
<strong>zu</strong>m Spaß am Spiel erlebte sie sehr positiv.<br />
Diese Art von Spiel war vielen Kindern<br />
nicht bekannt, erzählt Lena. Anfangs war<br />
sie das einzige Mädchen im Team, aber das<br />
hat sich bald geändert. Inzwischen sind einige<br />
Mädchen mit dabei. Dabei steigen die<br />
Chancen, dass ein Mädchen ein Tor schießt,<br />
3941
PROJEKT „KICK FORWARD“<br />
was wiederum dem Team einen Vorteil<br />
bringt. Die 13-jährige verbessert sich ständig<br />
und hat den Ball unter Kontrolle. Das<br />
hat ihr Jeremy, der dies selbst in seinem<br />
Heimatland Uganda gelernt hat, beigebracht.<br />
Heute will sie diese Tricks anwenden,<br />
um Tore mit ihrem Team <strong>zu</strong> schießen,<br />
vorher erzählt sie aber noch von ihrem ersten<br />
Spiel:<br />
Lenas erstes Fair Play Spiel lief anders als<br />
erwartet. Sie hatte viel trainiert und war<br />
noch mit dem ihr <strong>zu</strong>vor bekannten Spielverhalten<br />
verwachsen. Sie spielte sehr gut<br />
schoss zwei Tore, machte jedoch auch einige<br />
Fouls. Ihr war nicht bewusst, dass sie<br />
ein eher aggressives Spielverhalten an den<br />
Tag legte. Erst als die beiden Teams mit<br />
dem Teamer das Spiel reflektierten, wurde<br />
ihr durch die Vergabe der Fair-Play-<br />
Punkte klar, dass sie nicht fair gespielt<br />
hatte. Das andere Team hatte trotz weniger<br />
Tore das Spiel durch faires Verhalten für<br />
sich entscheiden können.<br />
Lena hat im Laufe des Jahres nicht nur gelernt<br />
was faires Miteinander ist, sondern<br />
hat durch das inklusive Team, Kolleg*innen<br />
aus unterschiedlichsten Nationalitäten und<br />
Kulturkreisen kennengelernt. Die Veränderung<br />
ihrer Einstellung gegenüber der Vielfalt<br />
der Teammitglieder hat sie erst nach einiger<br />
Zeit wahrgenommen. Für die 13-Jährige<br />
ist das Erleben anderer Kulturen und<br />
Einstellungen sehr spannend und sie<br />
möchte noch viel mehr davon erfahren.<br />
Deshalb macht Lena auch bei der nächsten<br />
Teamer*innen-Ausbildung mit und möchte<br />
so da<strong>zu</strong> beitragen, dass „Straßenfußball für<br />
Toleranz“ weiter gespielt und die Grundeinstellung<br />
des Spiels aktiv gelebt und umgesetzt<br />
wird.<br />
Lena muss sich noch schnell umziehen,<br />
denn es geht bald los. Der Teamer klärt mit<br />
allen Mitspielern nochmal die Regeln; Spaß<br />
und Freude stehen bei diesem Spiel im Vordergrund.<br />
Die Grundregeln sind festgelegt<br />
und die Aufbauregeln handeln beide Teams<br />
miteinander aus. Der Startpfiff erklingt und<br />
das faire Spiel kann starten.<br />
4. „Straßenfußball für Toleranz“ und <strong>Inklusion</strong><br />
„Der Sport wird gerne als die große Integrationsmaschine<br />
gesehen.“ (Lützenkirchen,<br />
2012, 32) Menschen unterschiedlicher Herkunft,<br />
mit vielfältigen sozialen und kulturellen<br />
Umfeldern und differenzierten Bildungsvorausset<strong>zu</strong>ngen<br />
kommen <strong>zu</strong>sammen<br />
und messen sich im sportlichen Wettbewerb,<br />
indem ein eigenes Regelwerk das<br />
sportliche Miteinander verbindet (vgl. Lützenkirchen,<br />
2012, 32).<br />
„Der Sport ist Teil der Gesellschaft und<br />
steht mit ihr in einem dauernden Wechselverhältnis.“<br />
(Lützenkirchen, 2012, 32) Im<br />
Netzwerk „Straßenfußball für Toleranz“<br />
werden Schwerpunkte an der Schnittstelle<br />
Fußball und Gesellschaft erarbeitet, um die<br />
Partizipations- und Integrationspotentiale<br />
von Kindern und Jugendlichen <strong>zu</strong> nutzen.<br />
Der Fußball führt sie als Team <strong>zu</strong>sammen<br />
und mit erfahrbaren sozialen Kompetenzen<br />
baut das Projekt Brücken, über die ein Weg<br />
in die Gesellschaft führt (vgl. Lützenkirchen,<br />
2012, 32).<br />
„Straßenfußball für Toleranz“ beruht auf einer<br />
Reihe von ethischen Grundprämissen,<br />
die Vorrauset<strong>zu</strong>ng für das Regelwerk und<br />
ebenso Lernarrangements der Beteiligten<br />
sind. Die zentralen Aspekte beinhalten Integration,<br />
Gewaltfreiheit, Gleichberechtigung<br />
sowie Spaß und Lebensfreude am<br />
Spiel. Durch die Übernahme von Verantwortung,<br />
die Kinder und Jugendliche für<br />
sich und andere im Spiel lernen, werden die<br />
Vorzüge von fairem, weltoffenem und tolerantem<br />
Verhalten spielerisch sichtbar und<br />
erfahrbar (vgl. Jäger, 2006, 4).<br />
42 40
PROJEKT „KICK FORWARD“<br />
Grundlage bilden engagierte Menschen in<br />
Schule, Verein und Gemeinde, die den Willen<br />
besitzen sich <strong>zu</strong> treffen und die Bereitschaft<br />
haben, sich auf einen gemeinsamen,<br />
langfristigen aber lohnenden Lernprozess<br />
ein<strong>zu</strong>lassen (vgl. Jäger, 2006, 5).<br />
Ein anderer Teilbereich ist die Teamer*innen-Ausbildung,<br />
bei der in hohem Maße<br />
Verantwortung und Organisationsgeschick<br />
in der Vorbereitung, Durchführung und<br />
Nachbereitung der Spiele erforderlich sind.<br />
Die Rolle der Teamer*innen geht über die<br />
traditionelle Rolle der Schiedsrichter*innen<br />
hinaus. Wie mit welcher Zusammenset<strong>zu</strong>ng<br />
der Teams und Teamer*innen gespielt wird,<br />
richtet sich nach den Spielregeln und kann<br />
während dem Spiel verändert werden. In der<br />
Dialogzone kommen die Teams vor dem<br />
Spiel <strong>zu</strong>sammen und definieren für sich <strong>zu</strong>sätzliche<br />
Regeln im Sinne des Fair-Plays,<br />
die nach dem Spiel <strong>zu</strong>sammen diskutiert<br />
und mittels beobachteten Spielsituationen<br />
der Teamer*innen anhand eines Punktesystems<br />
analysiert werden. In dem Projekt<br />
„Straßenfußball für Toleranz“ sollten die<br />
Teams geschlechtlich gemischt sein. Im<br />
Sinne der Gerechtigkeit zwischen den körperlichen<br />
Unterschiedlichkeiten, ist <strong>zu</strong>mindest<br />
ein Tor eines Mädchens im Regelwerk<br />
eingebunden. Die gemischte Mannschaft<br />
die am meisten Tore erzielt, erhält drei<br />
Punkte und bei einem Unentschieden erhalten<br />
beide Teams jeweils zwei Punkte. Verlierer<br />
erhalten immerhin noch einen Punkt.<br />
Das Besondere an diesem Spiel liegt in der<br />
erweiterten Punkteverteilung. Beide Teams<br />
können <strong>zu</strong>sätzlich noch bis <strong>zu</strong> drei Fair-Play<br />
Punkte bekommen, wenn besondere positive<br />
Verhaltensweisen in die Gruppendynamik<br />
mit einfließen (vgl. Jäger, 2006, 7).<br />
„Straßenfußball für Toleranz“ bietet einen<br />
Ansatz, bei dem allgemeingültige Regeln<br />
hinterfragt und verändert werden. Ein wichtiges<br />
Lernziel für Kinder und Jugendliche<br />
ist ihre individuelle Weiterbildung <strong>zu</strong> einem<br />
selbstbestimmten Leben, das Menschen mit<br />
unterschiedlichen Meinungen, Charakterzügen<br />
oder Lebenseinstellungen auf respektvoller<br />
und wertschätzender Weise die<br />
Teilhabe in der Gesellschaft ermöglicht.<br />
Schüler*innen erleben im Fußballspiel einen<br />
Mehrwert für ihre Persönlichkeitsentwicklung,<br />
indem sie aktive und partizipierende<br />
Rollen einnehmen und den Fair-Play-<br />
Gedanken verinnerlichen. Grundgedanke<br />
dieser Methode ist, dass die Teilnehmenden<br />
die Regeln, nach denen sie spielen, selbst<br />
verabreden und Settings gemeinsam mit<br />
den Teamer*innen definieren. Im Spiel gibt<br />
es wie bereits erwähnt keine Schiedsrichter*innen.<br />
Stattdessen fungieren Teamer*innen<br />
als Vorbilder, mit Kommunikationskompetenzen,<br />
einer reflektierten Spielbeobachtung<br />
und Aufgaben der Streitschlichtung<br />
(vgl. Jäger, 2006, 8).<br />
Insgesamt zielt das Teamer*innen-Programm<br />
darauf ab, Lernerfahrungen in den<br />
Bereichen Toleranz, Respekt, interkulturelles<br />
Verständnis, Dialogfähigkeit, Konfliktfähigkeit,<br />
Teilhabe und die Übernahme von<br />
Verantwortung <strong>zu</strong> ermöglichen. Um die<br />
Rolle der Teamer*innen in die Gesellschaft<br />
<strong>zu</strong> übertragen und ein Umdenken in den<br />
Köpfen der vielfältigen Bevölkerungsgruppen<br />
<strong>zu</strong> bewirken, benötigt es <strong>zu</strong> allererst die<br />
Berücksichtigung und das Bewusstmachen<br />
der Rechte von Menschen, wertschätzende<br />
Ressourcenpflege und einen aufrichtigen,<br />
sozialen Rückhalt (vgl. Jäger, 2006, 4).<br />
5. Fazit<br />
Im Kontext des Fair Play Gedankens werden<br />
entscheidende Diversity & Disability<br />
Elemente auf die täglichen persönlichen<br />
und situationsbedingten Interaktionen be-<br />
4143
PROJEKT „KICK FORWARD“<br />
ziehungsorientiert erweitert. <strong>Inklusion</strong> benötigt<br />
Empathie und Nächstenliebe, sowie<br />
das Wohlwollen der Gesellschaft sich auf<br />
verantwortungsvolle und nachhaltige Weise<br />
im Leben <strong>zu</strong> begegnen. Erlebbar vermittelte<br />
spürbare Wahrnehmungen wie etwa Gesten,<br />
Berührungen oder die Begegnung der<br />
Blicke von Menschen, bringen eine tiefe,<br />
reichhaltige Innerlichkeit <strong>zu</strong>m Ausdruck,<br />
die im Gegensatz etwa <strong>zu</strong>r Sprache, höchstwahrscheinlich<br />
von jedem Menschen auf<br />
seine Weise wahrgenommen wird (vgl.<br />
Wolf, 2015, 4).<br />
„Die tragende Beziehung ist nicht leistungsorientiert<br />
und verlangt dem Einzelnen<br />
nicht Unmenschliches ab, sondern ist ganz<br />
im Gegenteil begründet im ureigensten<br />
Menschsein und dem Bedürfnis nach Bindung.“<br />
(Wolf, 2015, 4)<br />
Die Parallelen zwischen dem sozialen Projekt<br />
„Straßenfußball für Toleranz“ und der<br />
Disability & Diversity Studies zeigen sich<br />
in der Zielset<strong>zu</strong>ngen des Projektes und der<br />
Ausrichtung des Faches selbst. Ziel ist die<br />
<strong>Inklusion</strong> und die Teilhabe aller Menschen<br />
in der Gesellschaft, unabhängig von Geschlecht,<br />
Herkunft oder anderen Dimensionen<br />
von Diversität. Ein erster Schritt in<br />
diese Richtung wird – neben anderen Projekten<br />
– durch „Straßenfußball für Toleranz“<br />
gesetzt<br />
Quellen:<br />
Fairplay – Initiative für Vielfalt und Antidiskriminierung. Zugriff am 9.12.2016 unter http://www.fairplay.or.at/.<br />
Jäger, Uli (2006). KICK FORWARD. Straßenfußball für Toleranz. Handreichung für Jugendarbeit,<br />
Schule und Verein. Tübingen: Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V.<br />
Lützenkirchen, Hans Georg (2012). Teilhabe und Partizipation. Spielen und Verantwortung: Fußball für<br />
Toleranz. Vom Spiel <strong>zu</strong>r Teilhabe: Der Generationendialog. Zwei Modelle. Köln: Rheinflanke gGmbH.<br />
Wolf, Janine (2015). „<strong>Inklusion</strong> braucht tragende Beziehungen“ Die Bedeutung von <strong>Inklusion</strong> für die<br />
Kirchliche Arbeit. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Behinderung ohne Behinderte?! Perspektiven<br />
der Disability Studies“. Universität Hamburg. http://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/wolf19012015.pdf.<br />
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