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Bestandsaufnahmen zu Inklusion

SCHRIFTEN ZU DISABILITY & DIVERSITY VOL. 1 | 04/2017 Im Rahmen der Lehrveranstaltung Bildung: Teilhabe und Inklusion

SCHRIFTEN ZU DISABILITY & DIVERSITY
VOL. 1 | 04/2017
Im Rahmen der Lehrveranstaltung Bildung: Teilhabe und Inklusion

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SCHRIFTEN ZU DISABILITY & DIVERSITY<br />

VOL. 1 | 04/2017<br />

<strong>Bestandsaufnahmen</strong><br />

<strong>zu</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

IM RAHMEN DER LEHRVERANSTALTUNG<br />

BILDUNG: TEILHABE UND INKLUSION<br />

1<br />

3. Semester / Jahrgang 2015<br />

LV-Leitung: Dr. Christine Pichler<br />

Studiengang: Disability and Diversity Studies<br />

Klagenfurt, im April 2017


VORWORT<br />

Vorwort<br />

Im Rahmen der Lehrveranstaltung mit dem Titel Bildung: Teilhabe und <strong>Inklusion</strong>, die im dritten<br />

Semester des berufsbegleitenden Bacherlorstudiengangs Disability and Diversity Studies<br />

(DDS) an der FH Kärnten (Studienbereich Gesundheit und Soziales) angesiedelt ist, ist die Idee<br />

entstanden, <strong>Bestandsaufnahmen</strong> <strong>zu</strong> verschiedenen Bereichen passend <strong>zu</strong>m Inhalt der Lehrveranstaltung<br />

<strong>zu</strong> erstellen.<br />

Inhalt der oben genannten Lehrveranstaltung ist es, den Bildungbegriff im Kontext des Erwachsenenlebens<br />

unter Berücksichtigung einer inklusiven Theorie und professionellen Praxis der<br />

DDS <strong>zu</strong> betrachten. Bildung – in einem umfassenden Verständnis – bedeutet die Entwicklung<br />

der Persönlichkeit, die sich von der Geburt oder vor der Geburt bis hin <strong>zu</strong>m Tode vollzieht.<br />

Alles, was man im Laufe eines Lebens erfährt, lernt, sich an Können aneignet und fühlt beeinflusst<br />

die Persönlichkeit. In diesem Zusammenhang spricht man auch in Be<strong>zu</strong>g auf das Erwachsenenalter<br />

von formaler, non-formaler und informeller Bildung für alle Mitglieder einer Gesellschaft<br />

(siehe da<strong>zu</strong> auch das Curriculum der DDS).<br />

Im Zuge der Lehrveranstaltung wurden daher auch unterschiedliche Zugänge <strong>zu</strong> Bildung besprochen<br />

und in Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> den Disability and Diversity Studies gesetzt. Was braucht es für eine<br />

gelungene <strong>Inklusion</strong> und Teilhabe aller Menschen in der Gesellschaft, unabhängig von Geschlecht,<br />

Religion oder weiteren Diversitätskategorien? Was gibt es bereits an <strong>Inklusion</strong> oder<br />

Ähnlichem in den Bereichen Hochschule, Wohnen, Musik, Sport etc.?<br />

Dieser Frage gingen die Studierenden in ihrer Semester-Abschlussarbeit in Form einer Gruppenarbeit<br />

nach. Die Aufgabenstellung war, eine Bestandsaufnahme von Teilhabe und <strong>Inklusion</strong><br />

<strong>zu</strong> einem bestimmten Themenbereich, der selbst <strong>zu</strong> wählen war, <strong>zu</strong> erstellen und nach ersten<br />

Überlegungen und Recherchen in Form eines Artikels <strong>zu</strong> Papier <strong>zu</strong> bringen. Viele unterschiedliche<br />

Zugänge wurden von den Studierenden gefunden, die Freiheit diese auch selbst für das<br />

jeweilige Thema <strong>zu</strong> wählen wurde geboten. Rahmenbedingungen wurden in Form von Vorgaben<br />

<strong>zu</strong> Format und Umfang vorgegeben, inhaltliche Gestaltung und Aufbereitung der jeweiligen<br />

Thematik wurden freigestellt. Nach einigen Feedbackschleifen sind schlussendlich fünf<br />

Artikel entstanden:<br />

Mehrgenerationen-Wohnhäuser<br />

Bauer Ninja, Mandl Karin, Mauchler Sabine, Pabst Julia sowie Zechner Elisabeth gingen der<br />

Frage nach, ob Mehrgenerationen-Wohnhäuser eine Trendwende oder eine Modeerscheinung<br />

sind. In diesem Artikel wird der Bogen über die historische Perspektive des „Ganzen Hauses“<br />

bis hin <strong>zu</strong> gegenwärtigen Beispielen des Generationenwohnens gespannt. Dabei werden auch<br />

Entwicklungen in Be<strong>zu</strong>g auf das Wohnen kritisch hinterfragt und alternative Zugänge <strong>zu</strong>m Generationenaustausch<br />

durch Wohnen dargestellt.<br />

Soziale Architektur<br />

Hartlieb Gertraud, Lüftenegger Barbara, Mauchler Karolin und Wartbichler Christina beschäftigten<br />

sich mit der Frage, ob soziale Architektur ein Baustein auf dem Weg <strong>zu</strong> einer inklusiven<br />

Gesellschaft ist. Zunächst wird geklärt, was überhaupt unter sozialer Architektur und<br />

32<br />

2


VORWORT<br />

partizipativem Bauen verstanden wird. Des Weiteren werden Kriterien und Planungsschritte in<br />

sozialem Wohnbau identifiziert, die anhand von praktischen Beispielen veranschaulicht werden.<br />

Warum soziale Architektur Menschen verbindet und <strong>zu</strong>r Herstellung von Achtung und<br />

Menschenwürde beiträgt, wird im Fazit besprochen.<br />

<strong>Inklusion</strong> an der Hochschule<br />

Mössler Jasmin, Stern Roswitha, Stathopoulos-Dohr Stefanie und Kienberger Stefan wählten<br />

das Thema <strong>Inklusion</strong> an der Hochschule. Als Einstimmung werden zwei fiktive Situationen Studierender<br />

als Szene dargestellt, die veranschaulichen sollen, dass dieses Thema allgegenwärtig<br />

sein kann. Neben der Darstellung gesetzlicher Regelungen und Reformen wird in einem praktischen<br />

Beispiel beschrieben, wie an der Fachhochschule Kärnten die Praxis in dieser Hinsicht<br />

gelebt wird.<br />

Musik verbindet<br />

Jennifer Hammer, Michaela Hren, Alisa Mischitz und Pascale Leder-Schellander bearbeiteten<br />

das Themenfeld Musik. Musik als ein Weg <strong>zu</strong>r <strong>Inklusion</strong> wird nicht nur auf wissenschaftlicher<br />

Ebene seit einigen Jahren begleitet, sondern auch in der Praxis an nationalen und internationalen<br />

Beispielen, wie dem Eurovision Song Contest oder dem No Problem Orchester, sichtbar.<br />

Therapie durch Musik und Musizieren ist ein Weg <strong>zu</strong> gelebter <strong>Inklusion</strong>. Die im Artikel beschriebenen<br />

Beispiele zeigen, dass Musik keine Ausgren<strong>zu</strong>ng kennt.<br />

Projekt „Kick forward“<br />

Anna Diethart, Bernhard Wieser, Christian Wakonig, Petra Gardener und Anna Gruber untersuchten<br />

in ihrem Artikel den Zusammenhang von Straßenfußball und <strong>Inklusion</strong>. Ausgehend vom<br />

oben genannten, von einem deutschen Soziologen in Kolumbien entwickelten Projekt, wird szenisch<br />

dargestellt, wie Straßenfußball für Toleranz funktionieren kann. Durch Sport und Bewegung<br />

ist es möglich Grenzen ab<strong>zu</strong>bauen und <strong>Inklusion</strong> <strong>zu</strong> leben. Herausgehoben werden hierbei<br />

individuelle als auch gesellschaftliche Vorteile.<br />

Die Gruppenarbeiten der Studierenden nehmen unterschiedliche Facetten in den Blickwinkel.<br />

Anspruch auf Vollständigkeit und Repräsentativität ist dabei nicht gegeben, aber diese <strong>Bestandsaufnahmen</strong><br />

sollen da<strong>zu</strong> dienen, Teilhabe und <strong>Inklusion</strong> in unserer Gesellschaft <strong>zu</strong> thematisieren.<br />

Es soll damit der Grundstein dafür gelegt sein, darüber nach<strong>zu</strong>denken, was man als<br />

Einzelner, als Gruppe oder als Gesellschaft da<strong>zu</strong> beitragen kann, Teilhabe und <strong>Inklusion</strong> <strong>zu</strong><br />

leben. Insbesondere für die Disability and Diversity Studies gilt es diese Prozesse professionell<br />

und wissenschaftlich an<strong>zu</strong>regen und <strong>zu</strong> begleiten.<br />

Klagenfurt, im April 2017<br />

Christine Pichler<br />

(Lektorat: Christine Pichler)<br />

4 3


4


Mehrgenerationen-Wohnhäuser –Trendwende oder Modeerscheinung?<br />

Bauer Ninja, Mandl Karin, Mauchler Sabine, Pabst Julia, Zechner Elisabeth<br />

Zusammenfassung<br />

„Mehrgenerationen-Wohnhäuser“ – ein Begriff bei dem folgende Assoziationen kommen:<br />

Alt und Jung wohnen unter einem Dach, häufig verbunden mit Konflikten zwischen den<br />

Generationen, oder wie beständig gesagt wird: „Alt und Jung unter einem Dach, das passt<br />

nicht <strong>zu</strong>sammen!“. In diesem Artikel wird versucht die Vorzüge des Systems „Generationenwohnen“<br />

heraus<strong>zu</strong>arbeiten, und es wird aufgezeigt, wie dies in der heutigen Zeit wertschätzend<br />

gelingen kann. Ein populäres Modell ist das Mehrgenerationenhaus, welches<br />

Großfamilien ermöglicht gemeinsam unter einem Dach <strong>zu</strong> wohnen, bei gleichzeitigem Genießen<br />

der „eigenen vier Wände“. Mit einem offenen Treffpunkt versehen, wird es gleichzeitig<br />

<strong>zu</strong> einem Ort der Begegnung.<br />

Der Artikel beschreibt die Entwicklung der Familie in den vergangenen Jahrhunderten. Wie<br />

es von Großfamilien <strong>zu</strong> Kleinfamilien kam und welche Rolle die Autonomie der Familie<br />

spielt. Außerdem wird genau beleuchtet, was Generationenwohnen in der heutigen modernen<br />

Zeit bedeutet und welche Faktoren für ein gelungenes Miteinander verantwortlich sind.<br />

Darüber hinaus wird ein Praxisbeispiel <strong>zu</strong>r besseren Veranschaulichung der Generationenbegegnungen<br />

in Form des „Mehrgenerationenhauses“ vorgestellt.<br />

1. Einleitung<br />

Wohnen gehört <strong>zu</strong> den elementarsten Bedürfnissen<br />

der Menschen und weckt Assoziationen<br />

wie Sicherheit, Schutz, Geborgenheit,<br />

Kontakt, Kommunikation und Selbstdarstellung.<br />

Für die meisten Haushalte stellt<br />

die Wohnung den Lebensmittelpunkt dar,<br />

gleichzeitig ist das Wohnen an sich einem<br />

ständigen Wandel unterworfen. In der heutigen<br />

Zeit wohnen in den meisten Fällen<br />

Menschen <strong>zu</strong>sammen zwischen denen eine<br />

Blutsverwandtschaft besteht, also Familienangehörige.<br />

Wohnformen mit Großfamilien<br />

in denen Seitenverwandte, Groß- und Urgroßeltern<br />

oder Hausangestellte leben sind<br />

in unserer Gesellschaft kaum noch <strong>zu</strong> finden.<br />

Die Familie heute bestehend aus zwei<br />

Generationen, bestimmt das vorherrschende<br />

Wohnleitbild. Im 20. Jahrhundert waren der<br />

soziale Wohnungsbau und die technischen<br />

Normierungen kennzeichnend, während<br />

sich das Wohnen heute durch die postmoderne<br />

Transformation aller Lebensverhältnisse,<br />

insbesondere durch Individualisierung<br />

im Wandel befindet. Unter „Individualisierung“<br />

ist ein Übergangsprozess des Individuums<br />

von der Fremd- <strong>zu</strong>r Selbstbestimmung<br />

<strong>zu</strong> verstehen. Klassische Familienmuster,<br />

wie die Kernfamilie, zerfallen.<br />

Was für die gegenwärtige wohnliche Entwicklung<br />

relevant ist, ist vor allem die Singularisierung<br />

als freiwillige oder unfreiwillige<br />

Form des Alleinwohnens und damit<br />

verbunden, die Schrumpfung der Haushaltsgrößen.<br />

Viele, vor allem hochbetagte<br />

Menschen, wohnen alleine, die meisten von<br />

5 5


MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />

ihnen sind Frauen, resultierend aus ihrer<br />

längeren Lebenserwartung im Vergleich <strong>zu</strong><br />

den Männern. Auch bleiben die „Alten“ länger<br />

jung, aktiv und vital und sind bestrebt<br />

ihre Selbstständigkeit so lange als möglich<br />

<strong>zu</strong> erhalten. Ein Wohnen im Alten- oder<br />

Pflegeheim kommt womöglich erst im Fall<br />

der Pflegebedürftigkeit in Frage. In Be<strong>zu</strong>g<br />

auf das Thema Wohnen ist in den Lebensentwürfen<br />

der älteren Personen daher ein<br />

neuerlicher Variantenreichtum an die Stelle<br />

von Pflege innerhalb der Familie oder Altenheim<br />

getreten. (Hannemann, 2014)<br />

Ein sehr populäres Modell ist das Mehrgenerationen-Wohnhäuser.<br />

Diese sollen das<br />

Miteinander der Generationen aktiv fördern<br />

und Raum für gemeinsame Aktivitäten<br />

schaffen. Durch das Zusammenspiel der<br />

Generationen sollen das Erfahrungswissen<br />

bewahrt und die Alltagskompetenz gestärkt<br />

werden. Mittelpunkt in jedem dieser Häuser<br />

ist ein „offener Treff“. Hier begegnen sich<br />

Menschen, kommen miteinander ins Gespräch<br />

und knüpfen erste Kontakte. In der<br />

Regel sind Mehrgenerationen-Wohnhäuser<br />

auch mit örtlichen Kultur- und Bildungseinrichtungen<br />

sowie Freiwilligenverbänden<br />

verknüpft. Ein Konzept, welches im süddeutschen<br />

Raum entstand, ist das Konzept<br />

der „Lebensräume für Jung und Alt“. Es<br />

wurde von der deutschen Stiftung Liebenau<br />

entwickelt, und reagiert auch auf demografische<br />

Veränderungen. Im Mittelpunkt des<br />

Konzeptes der Lebensräume steht die Nachbarschaftshilfe,<br />

die auf Dienstleistungsverhinderung<br />

abzielt. Fähigkeiten der Hausbewohner<br />

sollen miteinander verknüpft werden<br />

und somit <strong>zu</strong>r Entstehung eines Selbsthilfesystems<br />

beitragen. Alleinerziehende<br />

können sich dadurch beispielsweise durch<br />

regelmäßige Tätigkeiten etwas da<strong>zu</strong>verdienen.<br />

(St. Anna, 2015)<br />

In Zusammenhang mit dem Konzept des<br />

Generationenwohnens ist interessant einen<br />

Blick auf die historische Entwicklung der<br />

Familienstruktur <strong>zu</strong> werfen.<br />

2. Historischer Rückblick<br />

Wer vom Idealbild einer harmonischen<br />

Großfamilie spricht, in der mehrere Generationen,<br />

Eltern, Kinder und Großeltern unter<br />

einem Dach wohnen, verweist gerne auf die<br />

Vergangenheit. In der Familienforschung<br />

ist man sich bereits lange einig, dass diese<br />

Form des Generationenwohnens eher die<br />

Ausnahme als die Regel war. Vor 1900 lag<br />

die mittlere Lebenserwartung bei unter 50<br />

Jahren, was bedeutet, dass die Großeltern<br />

schon meist vor der Geburt ihrer Enkel verstarben,<br />

somit selten Drei-Generationenhaushalte<br />

<strong>zu</strong>stande kamen. (Planert, 2007)<br />

Eine Form des Generationenwohnens hingegen<br />

stellte das sogenannte „Ganze Haus“<br />

dar, das sich in vorindustrieller Zeit häufig<br />

als ideale Wohnform präsentierte. Hier bezog<br />

sich das gemeinsame Wohnen jedoch<br />

nicht auf die verwandtschaftliche Familie,<br />

sondern das Haus, als Wohn- und <strong>zu</strong>gleich<br />

Arbeitsstätte <strong>zu</strong>r Erwirtschaftung des Eigenbedarfs,<br />

beherbergte sowohl Familie als<br />

auch Dienstpersonal. Jeder war auf die Leistung<br />

des anderen angewiesen, und man erhielt<br />

auch gegenseitige Unterstüt<strong>zu</strong>ng.<br />

Selbst in ländlich strukturierten Gegenden<br />

lebte zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert<br />

nur jede neunte Familie mit den Großeltern<br />

unter einem Dach. Aufgrund von Analysen<br />

von Geburts- und Sterberegistern wurde<br />

nachgewiesen, dass vom 16. bis ins 19.<br />

Jahrhundert Familiengrößen von 4-5 Personen<br />

die statistische „Regelfamilie“ bildeten.<br />

Erst im 20. Jahrhundert, als die durchschnittliche<br />

Lebenserwartung gestiegen<br />

war, entstanden Drei- oder sogar Viergenerationenhaushalte<br />

in bäuerlichen Familien.<br />

Im bürgerlichen Bereich war jedoch der<br />

Trend <strong>zu</strong>r Kernfamilie spürbar, als Mutter,<br />

Vater und Kinder. Diese Intimisierung der<br />

66


MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />

Familie ermöglichte gegenüber dem „Ganzen<br />

Haus“, welches die Familienbeziehung<br />

<strong>zu</strong> einem quasi-öffentlichen Raum machte,<br />

der Familie ihre Autonomie in der Gestaltung<br />

ihres privaten alltäglichen Raumes.<br />

Darüber hinaus war der Trend der Großeltern<br />

auf selbstbestimmtes Wohnen spürbar.<br />

(Gerlach, 2004, S.41-50)<br />

Mehrgenerationen-Wohnhäuser sind eine<br />

Möglichkeit des Generationenwohnens und<br />

des Kontakts zwischen den Generationen.<br />

Eine weitere Möglichkeit stellt das Mehrgenerationenhaus<br />

dar, das flexibel und offen<br />

gestaltet ist und sich den individuellen Bedürfnissen<br />

der Zielgruppen anpasst. In folgender<br />

Szene soll ein Einblick in das Mehrgenerationenhaus<br />

in Graz geboten werden.<br />

3. Szene: Das Mehrgenerationenhaus in<br />

Waltendorf, Graz<br />

Das Mehrgenerationenhaus Waltendorf ist<br />

eine Initiative des Schutzvereins Ruckerlberg,<br />

einer Wohngegend im Grazer Bezirk<br />

Waltendorf.<br />

Die Einrichtung schafft, ohne selbst über<br />

Wohnräumlichkeiten <strong>zu</strong> verfügen, durch<br />

sein breites Angebot einen Ort der Begegnung<br />

für Menschen, die nicht unter einem<br />

gemeinsamen Dach mit anderen Generationen<br />

wohnen. In einem Interview mit Frau<br />

Steffen, die das Mehrgenerationenhaus in<br />

Waltendorf gründete, konnten da<strong>zu</strong> nähere<br />

Details gewonnen werden:<br />

Frau Steffen, wann wurde das Mehrgenerationenhaus<br />

Waltendorf gegründet und<br />

wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, ein<br />

Mehrgenerationenhaus <strong>zu</strong> gründen?<br />

Das Mehrgenerationenhaus Waltendorf<br />

wurde im Mai 2012 eröffnet. Die Räumlichkeiten<br />

dienten ursprünglich dem Bezirksamt<br />

Waltendorf und standen damals unter<br />

Denkmalschutz. Wir als Verein wollten unbedingt,<br />

dass dieses Haus erhalten bleibt<br />

und begaben uns daher auf die Suche nach<br />

einem Projekt. Dabei entstand schnell die<br />

Idee, etwas <strong>zu</strong> realisieren, das allen Bewohner_innen<br />

unseres Bezirkes <strong>zu</strong> Gute kommen<br />

soll. Wir wollten einen Ort der Begegnung<br />

schaffen. Zum damaligen Zeitpunkt<br />

gab es bislang nur in Deutschland Mehrgenerationenhäuser.<br />

Wir klemmten uns hinter<br />

diese Idee, ein solches auch bei uns um<strong>zu</strong>setzen<br />

und entwarfen ein Ideenpapier, mit<br />

welchem wir an die Stadt Graz herantraten<br />

um das Nachfolgeprojekt initiieren <strong>zu</strong> können.<br />

Wie wurde das Mehrgenerationenhaus<br />

von Seiten der Bevölkerung angenommen?<br />

Wie entwickelte sich der Übergang<br />

vom Bezirksamt <strong>zu</strong>m Mehrgenerationenhaus?<br />

Aufgrund der angrenzenden Volksschule<br />

sprach sich sehr bald herum, dass wir ein<br />

offenes Haus sind, das unter anderem flexible<br />

Betreuung für Kinder anbietet, wenn<br />

einmal eine Lücke in der Familienzeitplanung<br />

entsteht. Diese Zielgruppe von Frauen<br />

mittleren Alters und deren Kinder fanden<br />

überraschend schnell den Weg in unser<br />

Haus. Was den älteren Teil der Bevölkerung<br />

hingegen anbelangt, so dauerte es fast<br />

zwei bis drei Jahre, diesen davon <strong>zu</strong> überzeugen,<br />

dass es was die Nut<strong>zu</strong>ng des Mehrgenerationenhauses<br />

angeht, keinerlei<br />

Zwang oder Verpflichtung gäbe, man kommen<br />

und gehen könne, wann auch immer<br />

man wolle und jeder seine Ideen einbringen<br />

könne.<br />

Wie würden Sie das Mehrgenerationenhaus<br />

beschreiben?<br />

Als einen Ort für alle, die <strong>zu</strong>m Beispiel etwas<br />

können und das mit mehr Leuten teilen<br />

möchten als es sich <strong>zu</strong>hause vielleicht anbietet.<br />

Zielpublikum sind unter anderem –<br />

7 7


MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />

aber natürlich nicht nur – sozial Alleinstehende,<br />

die sich zwar allein behaupten können<br />

was das Wohnen anbelangt aber die soziale<br />

Anbindung brauchen. Da<strong>zu</strong> dienen<br />

<strong>zu</strong>m Beispiel unsere offenen Nachmittage,<br />

die von Montag bis Freitag jeden Tag stattfinden.<br />

Wie läuft ein typischer Nachmittag im<br />

Mehrgenerationenhaus Waltendorf ab?<br />

Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder man<br />

nutzt unsere Angebote, die auch auf dem<br />

Stundenplan im Schaukasten vor dem Haus<br />

veranschlagt sind, oder man kommt einfach<br />

herein <strong>zu</strong>m Tratschen. Manche Personen<br />

brauchen wirklich extrem lang, bis sie sich<br />

trauen, herein<strong>zu</strong>kommen. Das sind vorwiegend<br />

ältere Männer.<br />

Wer kommt typischerweise ins Mehrgenerationenhaus?<br />

Gibt es eine (Haupt-)Zielgruppe?<br />

Es gibt keine Hauptzielgruppe. Zielgruppe<br />

sind alle, die hier wohnen in naher oder<br />

weiterer Umgebung. Es ist wirklich jeder<br />

bei uns herzlich willkommen.<br />

Sie bieten mehrere Kurse und Aktivitäten<br />

für jeweils unterschiedliche Zielgruppen,<br />

<strong>zu</strong>m Beispiel Vorlesestunde für Kinder o-<br />

der Internetcafé 50+, an. Gibt es auch welche,<br />

mit denen Sie aktiv das Zusammentreffen<br />

/ das Miteinander der Generationen<br />

fördern?<br />

Wir versuchen jeden Monat mindestens eine<br />

Veranstaltung an<strong>zu</strong>bieten, <strong>zu</strong> der alle Generationen<br />

kommen können. Zur Weihnachtszeit<br />

haben wir ein Keksebacken veranstaltet.<br />

Zu diesem kamen zwei Männer, die noch<br />

nie <strong>zu</strong>vor in ihrem Leben Kekse gebacken<br />

haben. Als wir dann gegen 17 Uhr mit dem<br />

Backen fast fertig waren, waren das diejenigen,<br />

die plötzlich begonnen haben mit uns<br />

Weihnachtslieder <strong>zu</strong> singen. Jeden dritten<br />

Donnerstag im Monat findet bei uns der Generationenstammtisch<br />

statt. Das ist eine fixe<br />

Veranstaltung, an der wirklich ganz unterschiedliche<br />

Personen teilnehmen. Vorwiegend<br />

aber kommen die gleichen älteren<br />

Personen, die sich gerne einmal länger unterhalten<br />

möchten. Zusätzlich veranstalten<br />

wir Leseabende, <strong>zu</strong> denen auch alle Generationen<br />

kommen. Auch einen Hausmusikabend<br />

haben wir bereits veranstaltet und er<br />

war ein voller Erfolg. Die älteste Besucherin<br />

des Hausmusikabends war 82 Jahre alt,<br />

die jüngste gerade einmal 6 Jahre. Im Anschluss<br />

an solche Veranstaltungen gibt es<br />

immer noch genügend Zeit sich aus<strong>zu</strong>tauschen<br />

und so unterhielten sich die erwachsenen<br />

Besucher_innen noch weiter, während<br />

die Kinder es sich dann in den Spielräumlichkeiten<br />

gemütlich machten.<br />

Welche Erkenntnisse konnten Sie aus Ihrer<br />

viereinhalb jährigen Tätigkeit gewinnen?<br />

Als anbietende Institution haben wir gelernt,<br />

dass man nichts forcieren kann. Man<br />

kann den Menschen nur etwas anbieten.<br />

Man muss als Anbieter natürlich verlässlich<br />

sein und gewisse fixe Zeiten <strong>zu</strong>r Verfügung<br />

stellen und bietet somit Gelegenheit für<br />

Treffen, aber man kann nichts erzwingen.<br />

Deshalb ist die Freude umso größer, wenn<br />

unser Engagement Früchte trägt, also,<br />

wenn Leute <strong>zu</strong>einander finden. So haben<br />

wir <strong>zu</strong>m Beispiel einer Familie hier bei uns<br />

so<strong>zu</strong>sagen eine Oma „verschafft“.<br />

Welche Aktivitäten werden gut angenommen,<br />

bei welchen gibt es noch „Aufholbedarf“?<br />

Die Angebote, die wir für Jung und Alt ausschreiben,<br />

würde ich schon gerne mehr besucht<br />

sehen. Es erscheint mir, dass es da oft<br />

88


MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />

noch Hemmungen gibt, bei uns herein<strong>zu</strong>kommen<br />

und zwar vorwiegend bei der älteren<br />

Generation Diese Hemmschwelle ist oft<br />

schwer <strong>zu</strong> überwinden. Beim Adventsingen<br />

im Jahr 2015, dem Pendant <strong>zu</strong>m diesjährigen<br />

Kekse backen, traute sich nur eine ältere<br />

Dame daran teil<strong>zu</strong>nehmen, während<br />

sonst überwiegend Kinder mitmachten.<br />

Mehrgenerationen-Wohnhäuser zeichnen<br />

sich durch die gegenseitige Unterstüt<strong>zu</strong>ng<br />

in unmittelbarer Reichweite aus. Wie unterstützen<br />

sich die Besucher_innen des<br />

Mehrgenerationenhauses Waltendorf?<br />

Der Grundstein ist das Sich-Kennenlernen<br />

und wird oft hier bei uns gelegt. So gab es<br />

schon etliche Leute, die fast nebeneinander<br />

wohnten und sich hier bei einem Kindernachmittag<br />

trafen. Bei uns nahmen sie sich<br />

erstmals gegenseitig wahr, kamen ins Gespräch<br />

und helfen nun einander etwa beim<br />

Abholen der Kinder von der Schule. Als Beispiel<br />

genannt werden kann aber auch die<br />

Oma, die wir, wie ich schon erwähnt habe,<br />

„vermittelt“ haben. Dieses Vernetzen und<br />

die gegenseitige Hilfe, die früher am Land<br />

selbstverständlich war, nehmen jetzt oft bei<br />

uns ihren Anfang. Die Kontakte, die außerhalb<br />

des Hauses bestehen, sind unsere<br />

schönsten Erfolge.<br />

(Interview mit Karin Steffen, Jänner 2017)<br />

4. Was braucht ein gelungenes Generationenwohnen?<br />

In allen Bereichen des Lebens geht es um<br />

Selbstbestimmung. Möchten Sie nicht auch<br />

selbst entscheiden, wo und wie Sie Wohnen<br />

und Leben? Im Laufe des Lebens stehen wir<br />

vor vielen Herausforderungen: Aus<strong>zu</strong>g der<br />

Kinder, Familienplanung, pflegebedürftige<br />

Personen, etc. Zur jeweiligen Lebensform<br />

wird eine andere Wohnform gebraucht.<br />

Stellen Sie sich vor, sie müssten nicht bei<br />

jedem neuen Lebensabschnitt umziehen,<br />

sondern könnten immer in Ihrem gewohnten<br />

Umfeld bleiben. Das wäre ein Wunsch,<br />

der mit „Generationenwohnen“ umgesetzt<br />

werden könnte. Denn hierbei handelt es sich<br />

um ein altersgemischtes Wohnen bei dem<br />

Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senior_innen<br />

<strong>zu</strong>sammenleben. In diesem Abschnitt<br />

des Artikels geht es darum, aus den<br />

verschiedenen Perspektiven <strong>zu</strong> hinterfragen,<br />

was jede/r einzelne Betroffene für ein<br />

gelungenes Generationenwohnen braucht<br />

und wie Generationenwohnen gelingen<br />

kann.<br />

Aus einem Artikel ist entnehmbar, was „sozial<br />

engagierte Architektur“ ausmacht. Der<br />

Architekt Christoph Schmidt erläutert: „Es<br />

geht darum, durch die Gestaltung privater<br />

und öffentlicher Räume vielfältige Formen<br />

urbanen Zusammenlebens <strong>zu</strong> ermöglichen.“<br />

(Schmidt, 2015) Es sollen Räume<br />

des Austausches und der Kommunikation<br />

geschaffen werden. Dies kann in Form von<br />

Bibliotheken, Gärten oder gemeinsamen<br />

Waschräumen geschehen. (Schmidt, 2015)<br />

Im Land Salzburg gibt es <strong>zu</strong>m Beispiel das<br />

Pilotprojekt „Rosa Zukunft“. Hier finden<br />

eine hauseigene Infrastruktur und ein eigenes<br />

Netzwerk statt. Diverse Veranstaltungen,<br />

wie das „Erzählcafé“ werden von Bewohner_innen<br />

selbst veranstaltet und gerne<br />

genutzt. Spielplätze, Einkaufsgeschäfte und<br />

Treffpunkte, wie Parks oder Gemeinschaftsräume<br />

finden hier ihren Platz. Kurse<br />

und Veranstaltungen werden angeboten.<br />

Vor allem Sicherheit ist ein wichtiger Faktor.<br />

Sicherheit, dass jemand da ist, wenn<br />

man ihn/sie braucht. Eine Hausverwaltung,<br />

die alle Facetten und Faktoren überblickt<br />

und begleitet rundet das Projekt ab. (Salzburger<br />

Wohnbaugruppe, 2016, S. 10-12)<br />

Holzinger (2009, S. 9) erläutert: „Nachbarschaftliche<br />

Gemeinschaft mit gegenseitiger<br />

Hilfe und gemeinsamer Freizeitgestaltung“<br />

9 9


MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />

sind nur ein paar Ziele des Generationenwohnens.<br />

Weitere Ziele sind, dass durchmischte<br />

Altersstrukturen entstehen und die<br />

Kompetenzen eines jeden Einzelnen genutzt<br />

werden. Zum Beispiel haben viele ältere<br />

Menschen von der Technik kaum eine<br />

Ahnung. Die Jungen, die damit aufgewachsen<br />

sind, können mit ihrer Hilfe den Älteren<br />

<strong>zu</strong>r Seite stehen. Ein wesentlicher Teil ist<br />

auch, dass jede/r einen eigenen Wohnbereich<br />

hat, aber dennoch nicht alleine ist. Darum<br />

wäre es von Vorteil, dass jede Person<br />

eine eigene leistbare Wohnung innerhalb eines<br />

großen Areals besitzt. Die Wohnung<br />

und Umgebung sollen barrierefrei sein, damit<br />

Personen jeden Alters darin leben können.<br />

Durch das Zusammenleben von Jung<br />

und Alt soll der Zusammenhalt der Generationen<br />

wieder gestärkt werden und ein Miteinander<br />

entstehen, das vor vielen Jahren<br />

selbstverständlich war. Allerdings könnten<br />

auch Konflikte aus den unterschiedlichen<br />

Zeitrhythmen entstehen. „Kinder wollen<br />

nachmittags „raus“, Ältere wollen Nachmittagsschläfchen,<br />

Jugendliche sind<br />

„nachtaktiv“ und Erwachsene bzw. Familien<br />

brauchen Nachtruhe.“ (Holzinger,<br />

2009, S. 12) Dennoch sollten die Chancen<br />

nicht vergessen werden, die hierbei entstehen.<br />

Die Älteren passen auf die Kinder auf.<br />

Aufgaben in der Wohnanlage könnten übernommen<br />

werden. Gegenseitiger Austausch<br />

und Anerkennung können vollzogen werden<br />

und Erledigungen für Andere können<br />

gemacht werden. Jede/r kann jedem helfen.<br />

(Holzinger, 2009, S. 9-16)<br />

5. Fazit<br />

Es bedarf ein gegenseitiges Geben und Nehmen,<br />

welches auf Vertrauen und Wertschät<strong>zu</strong>ng<br />

aufgebaut ist. Freiwilliges Engagement<br />

und die Hilfe <strong>zu</strong>r Selbsthilfe können<br />

dem Projekt Generationenwohnen <strong>zu</strong> Erfolg<br />

verhelfen. Durch den Austausch mit anderen<br />

und den einhergehenden Erfahrungen<br />

können Generationsprojekte da<strong>zu</strong> beitragen,<br />

dass junge Menschen ihre Sicht auf die<br />

alten Menschen verändern und umgekehrt.<br />

Was vor vielen Jahren in den Familien als<br />

selbstverständlich galt, wird heute neu gehandhabt.<br />

Auch wenn keine Blutsverwandtschaft<br />

besteht, können Freundschaften und<br />

gegenseitige Unterstüt<strong>zu</strong>ngsangebote entstehen.<br />

Zudem geht aus der Szene hervor,<br />

dass Betreuung ein wichtiger Faktor ist und<br />

von den Betroffenen sehr gut angenommen<br />

wird. Auch die Partizipation darf und soll<br />

nicht vergessen werden um das Generationenwohnen<br />

für alle Bewohner_innen so angenehm<br />

wie möglich <strong>zu</strong> gestalten. Zudem<br />

wird jedem, der möchte, die Möglichkeit<br />

geboten neue Leute kennen<strong>zu</strong>lernen und<br />

Kontakte <strong>zu</strong> knüpfen. Die Zeiten und die<br />

Wohnsituationen haben sich geändert und<br />

das Generationenwohnen ist ein gelungenes<br />

Projekt um jedem Menschen die Chance <strong>zu</strong><br />

geben sich selbst <strong>zu</strong> verwirklichen. In diesem<br />

Sinne sind die Mehrgenerationen-<br />

Wohnhäuser und das Mehrgenerationenhaus<br />

womöglich Trendwenden und keine<br />

kurzlebigen Modeerscheinungen.<br />

Quellen:<br />

Gerlach, Irene (2004). Familienpolitik. Springer Fachmedien, Wiesbaden, 41-50. Zugriff am 09.12.2016<br />

unter http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138003/historischer-rueckblick?p=all<br />

Hannemann, Christine (5.5.2014). Bundeszentrale für politische Bildung: Zum Wandel des Wohnens.<br />

Zugriff am 15.01.2017 unter http://www.bpb.de/apuz/183450/<strong>zu</strong>m-wandel-des-wohnens<br />

10


MEHRGENERATIONEN-WOHNHÄUSER<br />

Hofer, Kathrin & Moser-Siegmeth, Verena (2010). Soziale Isolation älterer Menschen. Ursachen, Folgen<br />

und technische Lösungsansätze. Wien. 9-15. Zugriff am 9.12.2016 unter http://www.roteskreuz.at/fileadmin/user_upload/LV/Wien/Metanavigation/Forschungsinstitut/MitarbeiterInnen%20+%20Projektberichte/Soziale%20Isolation%2015%2012%202010_komprimiert.pdf<br />

Holzinger, Hans (2009). Mehrgenerationen-Wohnen als Herausforderung und Chance – Internationale<br />

Beispiele. 9-19. Zugriff am 25.11.2016 unter https://jungkbibliothek.files.wordpress.com/2015/01/mehrgenerationenwohnen_vortragholzinger_jbz.pdf<br />

Interview (12.01.2017). Steffen, Karin. Obfrau des Schutzvereins Ruckerlberg. Mehrgenerationenhaus<br />

Waltendorf. Graz 2017.<br />

Planert, Ute (2007). V. Familie im Wandel. Mythos Familie. Spiegel Special, 4. Zugriff am 9.12.2016<br />

unter http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-52497373.html<br />

Salzburger Wohnbaugruppe (2016). Generationenwohnen – Gemeinsam statt Einsam. Aufleben – Das<br />

Magazin der Salzburger Wohnbaugruppe. 1/16, 3-13. Zugriff am 25.11.2016 unter http://www.salzburgwohnbau.at/wp-content/uploads/2016/04/fr%C3%BChjahrs-aufleben.pdf<br />

Schmidt, Christoph (2015). Interview soziale Architektur. Interviewerin: Schwiontek, Elisabeth. Freie<br />

Journalistin in Berlin. https://www.goethe.de/de/kul/arc/20587271.html. 16.01.2017.<br />

St. Anna – Hilfe für ältere Menschen Liebenau – Leben im Alter Heilig Geist – Leben im Alter (Hrsg.)<br />

(1,2015). Anna live. Liebenauer Altenhilfe-Magazin Deutschland. Zugriff am 15.01.2017 unter<br />

https://www.st.anna-hilfe.de/fileadmin/st-anna/pdf/hausprospekte/periodika/annalive1_15.pdf<br />

11 11


12


Soziale Architektur Soziale Architektur – ein Baustein - ein auf Baustein dem Weg auf <strong>zu</strong> dem einer Weg inklusiven <strong>zu</strong> einer Gesellschaft<br />

inklusiven Gesellschaft<br />

Hartlieb Gertraud, Lüftenegger Barbara, Mauchler Karolin, Wartbichler Christina<br />

Zusammenfassung<br />

Im Zentrum des Beitrages steht die Frage, was soziale Architektur ist, was sie im Zusammenspiel<br />

von Partizipation leisten kann und welche Kriterien erfüllt werden müssen um von inklusiven,<br />

sozialen Bauprojekten sprechen <strong>zu</strong> können. Anhand bereits umgesetzter Projekte wird<br />

dokumentiert, welchen Nutzen soziale Architektur und partizipatives Bauen für soziale Gemeinschaften<br />

mit sich bringen kann. Der Beitrag richtet seinen Focus sowohl auf soziale Wohnbauprojekte<br />

als auch auf die Umset<strong>zu</strong>ng öffentlicher, sozialer Bauprojekte.<br />

1. Soziale Architektur und partizipatives<br />

Bauen: Was ist das?<br />

Soziale Architektur ist Bauen unter partizipativer<br />

Berücksichtigung aller Nutzergruppen<br />

für Gemeinschaften und spiegelt im Begriff<br />

die „innere Haltung“ wider, mit der an<br />

den umfassenden Planungsprozess herangegangen<br />

wird. Soziale Architektur versteht<br />

sich daher als Prozess und Werdegang einer<br />

Bauaufgabe und nicht als Architektur-Kategorie.<br />

Das Ergebnis ist ganzheitlich: Konzept,<br />

Gruppenidentität und Architektur gehören<br />

<strong>zu</strong>sammen. Solche Projekte entstehen<br />

immer dann, wenn sich Gruppen und Gemeinschaften<br />

auf eine partizipative Planung<br />

einlassen. Die Steuerung solcher Prozesse<br />

ist eine Herausforderung an die Kommunikation:<br />

Experten und Laien sind gefordert,<br />

eine gemeinsame Sprache <strong>zu</strong> finden. Teilhabe<br />

erfordert daher Wissen und ganz nebenbei<br />

wird der Architekt <strong>zu</strong>m Moderator.<br />

Er begleitet den Kommunikationsprozess<br />

so, dass die Gruppe einen gemeinsamen<br />

Nenner für die unterschiedlichen Wünsche<br />

und Bedürfnisse der Einzelnen <strong>zu</strong> finden<br />

vermag. Gemeinsam wird festgestellt, was<br />

wirklich gebraucht wird und so finden neben<br />

Aspekten aus dem Leben auch solche<br />

aus der Arbeit Eingang in die Planung (Soziale<br />

Architektur 2016).<br />

In der Regel muss man wissen, wie die<br />

Menschen leben, so das Credo von Elke<br />

Maria Alberts, einer Überzeugungstäterin<br />

der Sozialen Architektur, die sich mit ihrem<br />

multidisziplinären Team auf Kindergärten,<br />

Schulen, Sozialstationen, Jugendeinrichtungen<br />

und barrierefreies Wohnen für Jung<br />

und Alt spezialisiert hat. Schüler und Studierende<br />

<strong>zu</strong> fragen, wie sie sich ihre ideale<br />

Lernumgebung vorstellen und was sie <strong>zu</strong>m<br />

Lernen brauchen, ist zwar naheliegend, jedoch<br />

nicht üblich, meint Alberts. Sie vergleicht<br />

den Flur einer Schule mit der Hauptstraße<br />

eines Dorfes und meint, dass der Flur<br />

unterschiedliche Nischen bieten muss und<br />

es vielen Bauherren noch immer <strong>zu</strong> teuer<br />

ist, soviel Geld für diesen Raum aus<strong>zu</strong>geben<br />

(Soziale Architektur 2016).<br />

Erst im Miteinander erfährt man, was beim<br />

Um- und Neubau alles bedacht werden<br />

muss: beispielsweise sehen offene Treppenhäuser<br />

schön aus, sind aber für autistische<br />

13 13


SOZIALE ARCHITEKTUR<br />

Kinder möglicherweise problematisch. Das<br />

plötzlich auftauchende Licht in offenen<br />

Treppenhäusern können autistische Kinder<br />

nicht einordnen, was unter Umständen <strong>zu</strong><br />

Angstattacken führen kann. Da lernen auch<br />

die Architekten da<strong>zu</strong>, denn oft wird <strong>zu</strong> Beginn<br />

von Projekten in unterschiedlichen<br />

(Fach-)Sprachen gesprochen, so Albers,<br />

und fügt hin<strong>zu</strong>, dass es ihr ein Anliegen ist<br />

einen diskutierbaren Vorschlag <strong>zu</strong> machen<br />

(Soziale Architektur 2016).<br />

2. Haben wir die Wände nur im Kopf?<br />

„Wir meinen das Gebäude und sagen<br />

Schule“, so der Architekt Marc Wübbenhorst<br />

und meint damit, dass in der deutschen<br />

Sprache mit dem Wort Schule die Institution<br />

Schule, der Unterricht in der Schule<br />

und das Schulgebäude selbst benannt werden<br />

können. „Man geht in die Schule oder<br />

man war in der Schule“, erklärt Wübbenhorst.<br />

Eine Schule für Alle, eine inklusive<br />

Schule wäre seiner Meinung nach unter<br />

Miteinbe<strong>zu</strong>g größtmöglicher Flexibilität ein<br />

Gebäude, das sich auf jeden Schüler einstellen<br />

kann und vom Mobiliar bis <strong>zu</strong>m Raum<br />

eine vielfache Nut<strong>zu</strong>ngsmöglichkeit <strong>zu</strong>lässt.<br />

Es gibt keine Patentlösungen, und so<br />

muss man sich wohl am ehesten von der<br />

Idee verabschieden, dass es Standard-Lösungen<br />

für heterogene Lerngruppen gibt<br />

(Soziale Architektur 2016).<br />

Ein erfolgversprechendes und innovatives<br />

Wiener Schulbauprojekt – es befindet sich<br />

noch in der Umset<strong>zu</strong>ngsphase – ist der<br />

Campus Plus. In diesem Projekt wird es<br />

durch bauliche Maßnahmen ermöglicht<br />

werden, den pädagogischen Betrieb von<br />

Kindergarten und Schule gemeinsam <strong>zu</strong> gestalten.<br />

Im Campus Plus sollen Kinder im<br />

Alter von null bis zehn Jahren ihren Tag<br />

miteinander unter einem Dach verbringen.<br />

Geplant ist, dass jeweils vier Schulklassen<br />

und zwei Kindergarten-gruppen, sowie eine<br />

Sonderklasse (<strong>zu</strong>m Beispiel: Vorschulgruppe,<br />

eine heil-pädagogische Gruppe o-<br />

der eine basale Klasse) <strong>zu</strong> Bildungsbereichen<br />

– auch „Cluster“ genannt – mit multifunktionalen<br />

Räumen <strong>zu</strong>sammengefasst<br />

werden. Das heißt, Kinder befinden sich in<br />

der Unterrichtszeit und in den Pausen nicht<br />

ausschließlich im eigenen Klassenraum,<br />

sondern bekommen die Möglichkeit sich<br />

freier <strong>zu</strong> bewegen, so können sie (selbstständig)<br />

andere Gruppen besuchen. Ein<br />

Campus Plus wird in der Regel bis <strong>zu</strong> vier<br />

solcher Cluster haben, das heißt bis <strong>zu</strong> 21<br />

Schulklassen und 12 Kinder-gartengruppen<br />

für rund 700 Kinder beherbergen (Wiener<br />

Schulen, Magistrat der Stadt Wien, 2016).<br />

Jeder Campus plus vereint gemeinsame<br />

zentrale pädagogische Sport-, Kreativ-,<br />

Therapie- und Verwaltungsbereiche, sowie<br />

die vier altersübergreifenden Bildungsbereiche,<br />

welche möglichst transparent gestaltet<br />

werden. Durch Verbindungen der<br />

Räume sowie durch Sichtverbindungen soll<br />

die Zusammenarbeit der verschiedenen<br />

Gruppen untereinander gefördert werden.<br />

Das Raumangebot muss verschiedenste Arten<br />

des Lernens in kleinen und größeren<br />

Gruppen, Rück<strong>zu</strong>gsmöglichkeiten, sowie<br />

Freizeitgestaltung ermöglichen. Darüber<br />

hinaus sollen auch die Mahlzeiten gemeinsam<br />

eingenommen werden können und<br />

auch ein eigener Teamraum für Pädagog*innen<br />

und Elterngespräche ist in Planung.<br />

Eine <strong>zu</strong>sätzliche Neuerung beim<br />

Campus plus-Modell ist die sogenannte<br />

Stadtteilfunktion. Zukünftig sollen externe<br />

Bildungspartner*innen verstärkt in die Freizeitgestaltung<br />

oder Nachmittagsbetreuung<br />

eingebunden werden. Beispielsweise die<br />

Musikschulen der Stadt Wien, Breitensportanbieter*innen<br />

sowie Jugendzentren sollen<br />

in die neuen Campus Standorte integriert<br />

14


SOZIALE ARCHITEKTUR<br />

werden. Diese Angebote werden auch Anrainer*innen<br />

<strong>zu</strong>r Verfügung stehen. Durch<br />

diese Mehrfachnut<strong>zu</strong>ng erhält der Campus<br />

auch eine verbindende Funktion innerhalb<br />

eines Stadtteils (Wiener Schulen, Magistrat<br />

der Stadt Wien, 2016).<br />

Der erste Campus Plus wird im 22. Wiener<br />

Gemeindebezirk in der Attemsgasse umgesetzt<br />

und nach der Fertigstellung – voraussichtlich<br />

Schuljahr 2017/18 – sollen rund<br />

800 Kinder in 33 Klassen betreut werden.<br />

Unter Vorsitz von Architekt Univ.-Prof.<br />

Dietmar Eberle wurde im Februar 2014 aus<br />

58 eingereichten Entwürfen, das Projekt<br />

von „querkraft architekten ZT GmbH“ <strong>zu</strong>r<br />

Realisierung empfohlen. Geplant ist ein<br />

rechteckiger, dreigeschossiger Baukörper,<br />

mit großem, freizügigem Freiraum und<br />

Sportbereich. Zusätzlich <strong>zu</strong> den vier Bildungsbereichen<br />

<strong>zu</strong> je 175 Kindern, sind drei<br />

Kleinkindgruppenräume, ein Therapiebereich<br />

und zwei Förderklassen vorgesehen.<br />

Die Anpassungsfähigkeit der Raumnut<strong>zu</strong>ng<br />

an <strong>zu</strong>künftige Entwicklungen ist ein wesentlicher<br />

Bestandteil des Projekts, so gibt<br />

es in jedem einzelnen Bildungsbereich die<br />

Möglichkeit mit geringem Aufwand die<br />

Räume individuell <strong>zu</strong> gestalten. Fix vorgegeben<br />

sind dabei die zentrale Erschließungshalle<br />

mit Oberlicht, die Anordnung<br />

der Lichthöfe und ein umlaufendes Gerüst.<br />

In dieses können Balkonplatten und Pflanzenbehälter<br />

eingehängt werden (Architektur<br />

und Stadtgestaltung, Magistrat der Stadt<br />

Wien, 2016).<br />

Die nächsten bis 2023 geplanten Campus-<br />

Standorte werden alle nach dem Campus<br />

plus-Konzept umgesetzt. Insgesamt sind für<br />

die weiteren neun Campus-Standorte Investitionen<br />

von über 700 Millionen Euro vorgesehen.<br />

(Wiener Schulen, Magistrat der<br />

Stadt Wien, 2016).<br />

3. Kriterien und Planungsschritte in sozialer<br />

Architektur und sozialem Wohnbau<br />

Entscheidend für den Erfolg eines solchen<br />

Projekts ist die strategische Vorgehensweise<br />

mit den Fragen, welche Einflussfaktoren<br />

einwirken, welche davon fördernd,<br />

hemmend oder gar gefährdend sind. So verschiedenartig<br />

die planerischen Aufgaben<br />

auch sind, das Ziel ist immer einheitlich:<br />

minimierte Kosten bei maximiertem nachhaltigem<br />

Nutzwert von Gebäude und Einrichtungen.<br />

Festgehalten muss werden,<br />

wann und wie welche Personen eingebunden<br />

werden müssen, welchen Anforderungen<br />

und Wünschen Rechnung <strong>zu</strong> tragen ist<br />

und das exakte Ziel des Bauvorhabens sollte<br />

auch allen Beteiligten klar sein. Das ist für<br />

viele Architekten eine Herausforderung, daher<br />

macht es Sinn, den Planungsprozess<br />

durch Mediation <strong>zu</strong> begleiten. Das kostet<br />

zwar <strong>zu</strong>sätzlich, verbessert aber in jedem<br />

Fall die Qualität des Ergebnisses und ist<br />

aufgrund der von Beginn an funktionierenden<br />

Kommunikation die Grundlage für<br />

Kostensicherheit (Soziale Architektur<br />

2016).<br />

4. Was ist sozialer Wohnbau?<br />

Unsere Gesellschaft entwickelt Wünsche <strong>zu</strong><br />

neuen Wohnformen. Die Ansprüche sind<br />

hoch, das Einkommen oftmals klein.<br />

Sozialbau beinhaltet nicht nur Wohnraumförderung,<br />

die sozialen Bedürfnisse der Bewohner*innen<br />

müssen auch berücksichtigt<br />

werden. Eine attraktive Preisgestaltung<br />

würde es einer gewissen Einkommensgruppe<br />

ermöglichen auch an exponierten<br />

Standorten einen bezahlbaren und hochwertigen<br />

Wohnraum <strong>zu</strong> erlangen. Bezahlbarer<br />

Wohnraum ist nicht gleich<strong>zu</strong>setzen mit kostengünstigem<br />

Bauen. Klischees wie monotone<br />

Genossenschaftswohnbauten sind<br />

dadurch initiiert. Innovative Planungsprozesse,<br />

neue Ideen des miteinander Wohnens<br />

15 15


SOZIALE ARCHITEKTUR<br />

sind die Zukunft der Wohnraumproduktion<br />

(Boch, 2016).<br />

Ein Forschungsprojekt „Best Practice“ der<br />

TU in Darmstadt untersucht wie die Durchmischung<br />

vieler sozialer Gruppen funktionieren<br />

könnte. „Durchmischung funktioniert<br />

eigentlich nur, wenn ein gewisser<br />

Rück<strong>zu</strong>g vorhanden ist“ (Sigmund 2015).<br />

Auf diese Konfliktpotenziale<br />

muss bereits bei der Planung<br />

durch eine räumliche Trennung – und besonders<br />

auch Schallentkopplung – geachtet<br />

werden (Sigmund, 2015).<br />

In diesem Kontext ist EUROGATE ein gelungenes<br />

Projekt in Österreich. „Qualifizierte<br />

Wohnmaschine“, nennen die Architekten<br />

Dietmar Feichtinger das Wohnbauprojekt.<br />

Dieses Konzept beinhaltet einen<br />

modernen Massenwohnungsbau. Es entstehen<br />

über 1600 Wohnungen. Vierzig Prozent<br />

werden durch die öffentliche Hand gefördert,<br />

so sind diese Wohnungen auch für<br />

Niedrigverdiener leistbar. Eine sehr gute<br />

Gebäudeorganisation ermöglicht eine soziale<br />

Durchmischung der Bewohner, die Privatsphäre<br />

jeder Wohneinheit ist jedoch gegeben.<br />

Diese Anlage erfüllt den technischen<br />

Standard eines Passivhauses und fügt sich<br />

sehr gut in die städtische Struktur ein (Dömer<br />

& Schultz-Granberg, 2016).<br />

Die Forschungsarbeit von C. Angelmaier<br />

(2009) beschäftigt sich mit der „Sozialen<br />

Nachhaltigkeit im Wohnbau“. In dieser Arbeit<br />

kristallisiert sich klar heraus, welche<br />

Kriterien bei der Planung mitberücksichtigt<br />

werden müssen. Im Planungsprozess müssen<br />

nachhaltige Ziele vor der architektonischen<br />

Planung festgelegt werden. Fehler,<br />

die in dieser Phase entstehen, sind nur mit<br />

großem, meist finanziellem Aufwand, revidierbar.<br />

Um die Alltagstauglichkeit in die<br />

Planung mit einfließen <strong>zu</strong> lassen, ist es sinnvoll,<br />

die Abläufe des täglichen Lebens der<br />

Bewohner*innen genau <strong>zu</strong> kennen. Die<br />

Mitsprachemöglichkeit der bestehenden<br />

bzw. <strong>zu</strong>künftigen Bewohner*innen ist somit<br />

ein absolutes Muss. Um von vorne herein<br />

Konflikte <strong>zu</strong> vermeiden, bedarf es genauer<br />

Kompetenzstrukturen. Die Erwartungshaltung<br />

an die <strong>zu</strong>künftigen Bewohner*innen<br />

darf nicht <strong>zu</strong> hoch sein. Diplomatie<br />

und Geduld sind gute Werkzeuge, die<br />

man als Planer mitbringen sollte (Angelmaier,<br />

2009).<br />

Ein weiteres Beispiel soll die Möglichkeiten<br />

von sozialer Architektur erweiternd darstellen:<br />

SCHWARZER LAUBFROSCH ist ein Revitalisierungsprojekt<br />

eines alten Rüsthauses<br />

in Bad Waltersdorf. Die Architektengruppe<br />

Splitterwerk versucht traditionelle Wohngewohnheiten<br />

auf<strong>zu</strong>lösen indem sie mittels<br />

beweglicher Trennwände die Wohnfunktionen<br />

beeinflussen. Raumcharakter und<br />

Lichtsituation verändern sich je nach Nut<strong>zu</strong>ng.<br />

Die ursprüngliche Struktur des Gebäudes<br />

wurde nicht verändert, sodass die<br />

Architekten mehr in den Innenausbau investieren<br />

konnten. Das Konzept bietet einen<br />

nut<strong>zu</strong>ngsneutralen Raum. Durch Falt- oder<br />

Schiebetüren öffnet man eine Nische und<br />

der bevor<strong>zu</strong>gte Wohnraum, z.B. die Küche,<br />

kann durch heraus rollen von Möbelstücken<br />

in den neutralen Raum, für die gewünschte<br />

Nut<strong>zu</strong>ng hergerichtet werden. Die Architekten<br />

zeigen in diesem Projekt wie durch<br />

gekonnte Raumkonzeptplanung kleinste<br />

Flächen durch einfache Trennwände <strong>zu</strong><br />

„gefühlt“ großen Flächen anwachsen können<br />

(Dömer & Schultz-Granberg, 2016).<br />

16


SOZIALE ARCHITEKTUR<br />

5. Soziale Architektur verbindet Menschen<br />

und trägt <strong>zu</strong>r Herstellung von Achtung<br />

und Menschenwürde bei<br />

In Österreich bringt das Architektenduo<br />

Alexander Hagner und Ulrike Schartner im<br />

Hinblick auf die Umset<strong>zu</strong>ng sozialer Architektur<br />

sehr viel Erfahrung mit und darf mit<br />

der Wiener VinziRast – mittendrin stolz auf<br />

das Ergebnis sein. Das ist ein innovatives,<br />

weltweit einmaliges soziales Wohnprojekt<br />

und eine offene und unabhängige Gemeinschaft.<br />

Der Leitsatz „Gemeinsam leben, arbeiten<br />

und lernen“ wird im Konzept der<br />

VinziRast, in welchem Obdachlose und<br />

Studierende gemeinsam leben, großgeschrieben.<br />

Menschen, die sozial, wirtschaftlich<br />

oder psychisch schwach sind, erleben<br />

immer häufiger die Isolation von der<br />

gesamten Gesellschaft, so Cecily Corti,<br />

1940 geboren in Krain im heutigen Slowenien<br />

als Cecily Herberstein. Sie ist die<br />

Gründerin des VinziRast – Projektes und<br />

für Ihren Einsatz für Obdachlose in Wien<br />

bekannt. Cecily Corti erhielt dafür 2013<br />

den Bruno-Kreisky- Menschenrechtspreis<br />

(VinziRast 2016).<br />

„Die VinziRast – mittendrin ist getragen<br />

von der Überzeugung, dass ein Leben in<br />

Gemeinschaft und Respekt Menschen aufrichten<br />

und psychische Verlet<strong>zu</strong>ngen heilen<br />

kann. Die Qualität der Beziehung und das<br />

Zusammenspiel von Hirn und Herz sind die<br />

Basis für eine besondere Begegnungskultur:<br />

respektvoll und vorurteilsfrei aufeinander<br />

<strong>zu</strong>gehen, gemeinsam Erfahrungen sammeln,<br />

miteinander Neues entwickeln“ (VinziRast<br />

2016).<br />

Die Individualität und die Achtung vor dem<br />

Schicksal jedes einzelnen Menschen stehen<br />

im Vordergrund, was <strong>zu</strong> Wärme, Geborgenheit,<br />

Gemeinschaft – <strong>zu</strong> einem Zuhause –<br />

führt (VinziRast 2016).<br />

Entstanden ist dieses Projekt 2009, während<br />

der Studentenproteste „Uni brennt“ im Audimax<br />

der Uni Wien, in welchem sich auch<br />

obdachlose Menschen befanden, dort nächtigten<br />

und die Beset<strong>zu</strong>ng aktiv mitgestalteten.<br />

Die Vinzenzgemeinschaft St. Stephan<br />

konnte diese Idee weiterentwickeln. Die<br />

Idee, dass Studierende und Obdachlose gemeinsam<br />

leben und arbeiten können, wurde<br />

von Student*innen bedacht und entwickelt.<br />

Durch positive Rückmeldung entstand der<br />

Wunsch ein „Miteinander“ <strong>zu</strong> fördern.<br />

Durch zahlreiche Spender*innen sowie freiwillige<br />

Helfer*innen fand ein Um- und<br />

Ausbau der VinziRast statt, welcher von der<br />

Stadt Wien mitfinanziert wurde (VinziRast<br />

2016).<br />

Zusätzlich steht allen Bewohner*innen ein<br />

Dachgarten und das Lokal „mittendrin“,<br />

welches <strong>zu</strong>gleich Café, Bar und Restaurant<br />

ist, <strong>zu</strong>r Verfügung. Das Lokal „mittendrin“<br />

wird von Bewohner*innen, ehrenamtlichen<br />

Helfer*innen und angestelltem Fachpersonal<br />

geführt (VinziRast 2016).<br />

Die VinziRast Notschlafstelle bietet Menschen<br />

ein Zuhause für eine Nacht. Im VinziRast<br />

CortiHaus steht die Unterstüt<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>zu</strong>r Findung der Eigen-verantwortung im<br />

Vordergrund: Menschen, die Schulden haben,<br />

auf Job- oder Wohnungssuche sind, die<br />

Hilfestellungen in Form von Therapien benötigen.<br />

Das VinziRast – Home Projekt bietet<br />

ein Zuhause für Asylberechtigte. Corti<br />

erklärt, dass ihr die Gruppe der übersehenen<br />

und verachteten Menschen im Sinne bedingungsloser<br />

Akzeptanz wichtig sind und<br />

Trennungen zwischen den Menschen aufgehoben<br />

werden müssen. Sie meint, wenn allen<br />

Menschen klar wird, dass die täglich unbewusst<br />

begangenen Ausgren<strong>zu</strong>ngen und<br />

Kränkungen uns allen nicht guttun, dann ist<br />

wirklich etwas gelungen und wünscht sich,<br />

dass jeder Mensch seine eigene tiefe Sehnsucht<br />

nach Frieden in die Tat umsetzt (Der<br />

Standard 2013).<br />

17 17


SOZIALE ARCHITEKTUR<br />

6. Fazit<br />

Soziale Architektur hat viele Facetten. Einerseits<br />

soll sie auf der Ebene des Raumes<br />

ihren Beitrag <strong>zu</strong> einem inklusiven, gelungenen<br />

Zusammenleben leisten und die dafür<br />

erforderliche Raum- und Infrastruktur<br />

schaffen. Soziale Architektur soll bezahlbares<br />

und gutes Wohnen, Arbeiten und Leben<br />

mitgestalten helfen. Sie versucht <strong>zu</strong>r Selbstverständlichkeit<br />

<strong>zu</strong> werden und ihren festen<br />

Platz innerhalb der Gesellschaft ein<strong>zu</strong>nehmen.<br />

Soziale Architektur hat auch den Anspruch,<br />

ökologisch, nachhaltig und kosteneffizient<br />

<strong>zu</strong> errichten. Sie arbeitet partizipativ,<br />

unter Miteinbe<strong>zu</strong>g aller am jeweiligen<br />

Projekt Beteiligten. Das erfordert von Architekt*innen<br />

daher ein hohes Maß an kommunikativer<br />

Kompetenz. Soziale Architektur<br />

ist ein wesentlicher Baustein für eine<br />

sich auf dem Weg <strong>zu</strong> einem inklusiven,<br />

wertschätzenden Miteinander befindliche<br />

Gesellschaft. Wie aufgezeigt werden<br />

konnte, lassen sich in Österreich bereits umgesetzte<br />

Projekte und solche, die in der Umset<strong>zu</strong>ngsphase<br />

sind, finden.<br />

Quellen:<br />

Alberts, Elke M., 14.12.2016. Gemeinsam Planen. Soziale Architektur. Zugriff am 14.12.2016 unter<br />

http://www.soziale-architektur.de/artikel-details/gemeinsam-planen-und-bauen.html<br />

Angelmaier, C. (2009). Soziale Nachhaltigkeit im Wohnbau. Wiener Wohnbauforschung. Zugriff am<br />

08.01.2017 unter http://www.wohnbauforschung.at/index.php?id=346<br />

Architektur und Stadtgestaltung (09.01.2017). Magistrat der Stadt Wien: „Bildungscampus Attemsgasse<br />

– in Planung“. Zugriff am 09.01.2017 unter https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/architektur/oeffentliche-bauten/schulbauten/bildungscampus-attemsgasse.html<br />

Boch Ralf (2016). Social Designs für Bezahlbaren Wohnraum. In: Dömer, Klaus, Drexler, Hans, &<br />

Schultz-Granberg, Joachim (Hrsg.), Bezahlbar. Gut. Wohnen. Berlin: jovis Verlag GmbH, S. 6-7.<br />

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Magistrat der Stadt Wien: Zugriff am 02.01.2017 unter https://www.wien.gv.at/bildung/schulen/schulbau/campus/campus-plus.html<br />

Dömer, Klaus & Schultz-Granberg, Joachim (2016). Eurogate. In: Dömer, Klaus, Drexler, Hans, &<br />

Schultz-Granberg, Joachim (Hrsg.), Bezahlbar. Gut. Wohnen. Berlin: jovis Verlag GmbH, S. 232-234.<br />

Dömer, Klaus & Schultz-Granberg, Joachim (2016). Schwarzer Laubfrosch. In: Dömer, Klaus, Drexler,<br />

Hans, & Schultz-Granberg, Joachim (Hrsg.), Bezahlbar. Gut. Wohnen. Berlin: jovis Verlag GmbH, S.<br />

182-184.<br />

Sigmund, Bettina (01.06.2015). Moderner Sozialbau, was ist das eigentlich. Detail. Zugriff am<br />

08.01.2017unter http://www.detail.de/artikel/moderner-sozialbau-was-ist-das-eigentlich-25783/<br />

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http://www.soziale-architektur.de/artikel-details/soziale-architektur-ist.html<br />

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SOZIALE ARCHITEKTUR<br />

Soziale Architektur (14.12.2016). Partizipatives Bauen. Zugriff am 14.12.2016 unter http://www.soziale-architektur.de/artikel-details/partizipatives-bauen-und-planen.html<br />

Stuiber Petra (08.06.2013). Ewiges Schlechtmachen der anderen. derStandard.at. Zugriff am 10.01.2017<br />

unter http://derstandard.at/1369363062569/Vinzi-Rast-Gruenderin-Corti-Das-ewige-Schlechtmachender-anderen<br />

Wübbenhorst, Marc 14.12.2016. Wände sind nur im Kopf. Soziale Architektur, Zugriff am 14.12.2016<br />

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19 19


20


<strong>Inklusion</strong> an der Hochschule<br />

Mössler Jasmin, Stern Roswitha, Stathopoulos-Dohr Stefanie, Kienberger Stefan<br />

Zusammenfassung<br />

Um allen Personen den Zugang <strong>zu</strong> einem Hochschulstudium und auch den Abschluss desselbigen<br />

<strong>zu</strong> ermöglichen, bedarf es zahlreicher an den Diversitätskategorien orientierter, inhaltlicher<br />

und strukturverändernder Maßnahmen. Positive Aspekte von Vielfalt an Hochschulen, der damit<br />

verbundene Mehrwert, notwendige Schritte in einem Implementierungsprozess und gesetzliche<br />

Grundlagen sollen in dem folgenden Artikel dargestellt werden. Einen Blick in die Gegenwart<br />

erlaubt ein Interview mit der Beauftragten für Gleichbehandlung und Vielfalt der Fachhochschule<br />

Kärnten, Frau Magª. Ratheiser-Pirker. Auch Probleme für Studierende, die berufstätig<br />

sind und ein Studium beginnen, werden thematisiert.<br />

1. Ausgangslage<br />

Herr A. (40) aus Dubai lebt seit etwa 10<br />

Jahren in Österreich und möchte sich beruflich<br />

verändern. Da er aufgrund seiner arabischen<br />

Muttersprache bei der Integrationsarbeit<br />

von Menschen mit Fluchthintergrund<br />

einsteigen möchte, überlegt er, das<br />

Studium der Disability & Diversity Studies<br />

(DDS) an der Fachhochschule Kärnten <strong>zu</strong><br />

wählen. Die erste Vorausset<strong>zu</strong>ng, die für<br />

ihn persönlich wichtig ist, ist, dass das Studium<br />

berufsbegleitend angelegt ist. Er ist<br />

voll berufstätig, würde aber bei einem Studienbeginn<br />

seine Arbeitszeiten verkürzen.<br />

Die formalen Vorausset<strong>zu</strong>ngen (Zulassungskriterien<br />

für ein Studium) kann er vorweisen.<br />

Seine Deutschkenntnisse sind sehr<br />

gut. Wenn es jedoch um das Lesen eines<br />

Fachberichtes geht oder darum, eine<br />

schriftliche Arbeit ab<strong>zu</strong>geben, fehlen teilweise<br />

die Schnelligkeit in der Verfügbarkeit<br />

der Bedeutung von Wörtern oder die Sicherheit<br />

bei der Verwendung von deutschen<br />

Fachbegriffen. Zusätzlich benötigt er bei<br />

der Ausformulierung von komplexen Satzbildungen<br />

Hilfestellung, da ihm der Satzbau<br />

von längeren Sätzen Schwierigkeiten bereitet.<br />

Aus diesem Grund sollte er vor Studienbeginn<br />

mit der Beauftragten für Gleichbehandlung<br />

& Vielfalt der FH Kärnten Kontakt<br />

aufnehmen, um im Vorfeld ab<strong>zu</strong>klären,<br />

wo genau er Hilfe braucht, ob ihm englische<br />

Literatur entgegenkäme, ob er für Prüfungssituationen<br />

mehr Zeit beanspruchen<br />

kann, wie seine schriftlichen Arbeiten aus<strong>zu</strong>sehen<br />

haben und ob es möglich wäre, im<br />

Ramadan keine Prüfungen ab<strong>zu</strong>legen. Er<br />

selbst als Person wäre eine Bereicherung<br />

für den Studiengang der DDS, da er seine<br />

Sicht, als beruflich integrierte Person, auf<br />

Menschen mit Migrationshintergrund aus<br />

den arabischen Ländern und die typischen<br />

Fehler der österreichischen Sozialarbeiterinnen<br />

und Sozialarbeiter im Umgang mit<br />

Personen mit Migrationshintergrund aufmerksam<br />

machen könnte, sowie den Kulturkreis<br />

verständlich machen könnte und dergleichen.<br />

Frau C. (25) bekommt zeitgleich mit der Zusage,<br />

DDS studieren <strong>zu</strong> dürfen, die Diag-<br />

21 21


INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />

nose Multiple Sklerose. Sie ist felsenfest davon<br />

überzeugt, dass sie es trotz der gesundheitlich<br />

schwierigen Vorausset<strong>zu</strong>ngen<br />

schaffen wird. Das familiäre Umfeld steht<br />

hinter ihr und bietet ihr Unterstüt<strong>zu</strong>ng an.<br />

Nach zwei Wochenendblöcken beendet sie<br />

aufgrund ihrer unberechenbaren Erkrankung<br />

das Studium – wegen der anspruchsvollen<br />

Lehrveranstaltungen macht sich ihre<br />

Erkrankung deutlich bemerkbar. Bei einem<br />

Gespräch mit der Beauftragten für Gleichbehandlung<br />

& Vielfalt, sofort nachdem sie<br />

die Diagnose erhalten hat, konnten ihre<br />

persönlichen Ziele, Hindernisse beim Erreichen<br />

dieser und die Möglichkeiten, seitens<br />

der FH, diese soweit es geht aus dem Weg<br />

<strong>zu</strong> räumen, abgeklärt werden. Jedoch erscheinen<br />

die persönlichen Hürden, sich<br />

seine individuelle Krankheit ein<strong>zu</strong>gestehen<br />

unüberwindbar – insbesondere wenn man<br />

den Umgang mit seiner Krankheit erst selber<br />

erlernen muss. Wie kann man in dieser<br />

Ausnahmesituation einschätzen, ob und wie<br />

man sein Studium angehen könnte?<br />

In beiden Beispielen geht es um das Finden<br />

von Lösungen anhand von konkreten Situationen<br />

auf persönlicher Ebene. Hier geht es<br />

darum, einen passenden Lösungsweg <strong>zu</strong><br />

finden, welcher in einem individuellen Lernarrangement<br />

oder in einem speziell ausgearbeitetem<br />

Prüfungsverfahren gefunden<br />

werden kann (Knauf, 2013, S. 167).<br />

„Inklusive Strukturen sollen die Studierbarkeit<br />

für alle Studierenden verbessern“, was<br />

„vor allem die Flexibilisierung des Studiums“<br />

bedeutet, wenn man Studierende der<br />

Sozialen Arbeit oder der DDS berücksichtigen<br />

möchte, die das berufsbegleitende Studium<br />

auf sich nehmen. Hierbei könnte eine<br />

Verlängerung der Studienzeit angedacht<br />

werden, damit es neben dem Studium nicht<br />

<strong>zu</strong> Belastungen und persönlicher Überforderung<br />

kommt (Werner et al., 2014).<br />

Für ein berufsbegleitendes Studium der<br />

DDS entscheiden sich <strong>zu</strong>meist Personen,<br />

welche bereits erwerbstätig sind und auf<br />

diese Weise ihr Wissen vertiefen, ihr Arbeitsumfeld<br />

erweitern oder wechseln wollen.<br />

Es kommt dabei häufig <strong>zu</strong> zeitlichen<br />

Problemen. Bei beruflicher Tätigkeit, familiären<br />

Verpflichtungen oder chronischen<br />

gesundheitlichen Belastungen ist es nicht<br />

immer möglich, alle gestellten Aufgaben<br />

zeitgerecht <strong>zu</strong> erledigen. Kontakte mit Bekannten<br />

oder Hobbies werden für eine<br />

scheinbare „überschaubare“ Zeit hinten angestellt,<br />

Übermüdungserscheinungen werden<br />

ignoriert. Letztendlich befindet man<br />

sich in einem Hamsterrad, aus welchem<br />

man nicht hinaus findet.<br />

Hier sollte von Seiten der Beauftragten für<br />

Gleichbehandlung & Vielfalt gemeinsam<br />

mit Studierenden, den Dozenten und der<br />

Studiengangsleitung eine Lösung gesucht<br />

werden - im Sinne der Studierbarkeit, um,<br />

wie es Werner et al. (2014) formulieren,<br />

„nicht nur die Studierbarkeit“ <strong>zu</strong> „gewährleisten,<br />

sondern im Sinne einer Willkommenskultur<br />

die Kluft zwischen familiärer<br />

und hochschulischer Lebenswelt <strong>zu</strong> überbrücken.“<br />

(Werner et al., 2014)<br />

Beim Studium der DDS im Zeitraum von 6<br />

Semestern wird genau so viel verlangt, wie<br />

bei "Vollzeitstudierenden" ohne beruflicher<br />

Verpflichtung. Aufgrund dessen wäre <strong>zu</strong><br />

überlegen, die Gesamtstudiendauer bei "berufsbegleitend"<br />

<strong>zu</strong> erhöhen, die <strong>zu</strong> absolvierenden<br />

Stunden auf beispielsweise 8 Semester<br />

aus<strong>zu</strong>weiten, damit man als Studierender<br />

eines berufsbegleitenden Studiums<br />

nicht im schlimmsten Fall aufgrund <strong>zu</strong>sätzlicher<br />

Belastungen in einem Burn-Out endet.<br />

22


INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />

2. Gesetzliche Grundlagen und Reformen<br />

Artikel 26 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung<br />

der Menschenrechte beschreibt das<br />

Recht jedes Menschen auf Bildung und auf<br />

frei <strong>zu</strong>gänglichem Schulbesuch, auch im<br />

tertiären Bereich. Ein Hochschulstudium<br />

muss demnach diskriminierungsfrei <strong>zu</strong>gänglich<br />

sein. Eine Auswahl ist allein aufgrund<br />

von Fähigkeit und Leistung <strong>zu</strong>lässig.<br />

Dies schließt <strong>zu</strong>m Beispiel aus, dass Studiengebühren<br />

in einer Höhe erhoben werden,<br />

die den Zugang für Kinder aus finanziell<br />

schwächerem Elternhaus unmöglich<br />

macht. Der Staat ist verpflichtet, Studienplätze<br />

in gehöriger Anzahl <strong>zu</strong>r Verfügung<br />

<strong>zu</strong> stellen und eine aufgrund begrenzter Kapazitäten<br />

notwendige Auswahl unter den<br />

Personen, die sich für das Studium bewerben,<br />

ausschließlich anhand der Kriterien<br />

„Fähigkeiten und Leistung“ durch<strong>zu</strong>führen<br />

(vgl. Menschenrechtserklärung).<br />

Die spezielle Rechtslage für Studierende<br />

mit Behinderung ist in zwei weiteren Gesetzen<br />

geregelt – Universitätsgesetz (UG) und<br />

im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz.<br />

Flankierend da<strong>zu</strong> gibt es die UN – Behindertenrechtskonvention,<br />

die allerdings<br />

noch nicht den Status eines Gesetzes erlangt<br />

hat. Die Beachtung der Erfordernisse von<br />

behinderten und chronisch kranken Studierenden<br />

stellt laut § 2 Zif. 11 UG einen wichtigen<br />

Bestandteil der leitenden Grundsätze<br />

der Universitäten dar. Die leitenden<br />

Grundsätze sind jene Richtlinien, die für die<br />

Art der Umset<strong>zu</strong>ng der Aufgaben, die die<br />

Universitäten <strong>zu</strong> erfüllen haben, ausschlaggebend<br />

sind (vgl. Universitätsgesetz).<br />

§ 59 (1) Zif. 12 UG regelt die Prüfungsmodalitäten<br />

für behinderte und chronisch<br />

kranke Studierende: „Den Studierenden<br />

steht nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen<br />

Lernfreiheit <strong>zu</strong>. Sie umfasst insbesondere<br />

das Recht auf eine abweichende<br />

Prüfungsmethode, wenn die oder der Studierende<br />

eine länger andauernde Behinderung<br />

oder chronische Erkrankung nachweist,<br />

die ihr oder ihm die Ablegung der<br />

Prüfung in der vorgeschriebenen Methode<br />

unmöglich macht, und der Inhalt und die<br />

Anforderungen der Prüfung durch eine abweichende<br />

Methode nicht beeinträchtigt<br />

werden.“ (Universitätsgesetz § 59 (1) Zif.<br />

12).<br />

Behinderte und chronisch kranke Studierende<br />

können demnach laut UG in Absprache<br />

mit den Lehrenden Prüfungen in einem<br />

abgeänderten Prüfungsmodus ablegen, der<br />

ihren Bedürfnissen entspricht (vgl. Universitätsgesetz).<br />

Die UN – Behindertenrechtskonvention regelt<br />

in Artikel 24 das Recht von Menschen<br />

mit Behinderung auf Bildung. Ausgehend<br />

vom Prinzip der Gleichberechtigung gewährleistet<br />

die UN - Behindertenrechtskonvention<br />

damit ein einbeziehendes (inklusives)<br />

Bildungssystem auf allen Ebenen und<br />

lebenslanges Lernens. Ebenso soll das Erlernen<br />

der Gebärdensprache und die Förderung<br />

der sprachlichen Identität von gehörlosen<br />

Menschen erleichtert werden. Dafür<br />

sind auf allen Ebenen des Bildungswesens<br />

geeignete Maßnahmen <strong>zu</strong> treffen. Beispielsweise<br />

braucht es Lehrkräfte, die in<br />

Gebärdensprache und Braille ausgebildet<br />

sind. Ebenso sollen auf allen Ebenen des<br />

Bildungssystems die Fachkräfte und Mitarbeiter<br />

geschult werden (vgl. Behindertenrechtskonvention).<br />

Die breit angelegte und <strong>zu</strong>gleich viel diskutierte<br />

europäische Studienreform, die sog.<br />

Bologna Reform oder der Bologna Prozess,<br />

hat für Studierende mit Behinderung und/oder<br />

chronischer Krankheit viele neue Risiken<br />

gebracht. So bleibt <strong>zu</strong>m Beispiel durch<br />

das modularisierte und verdichtete Studium<br />

23 23


INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />

kaum Raum für Flexibilität. Dies aber brauchen<br />

Studierende mit Behinderung oder<br />

chronischer Krankheit unbedingt, um Studium,<br />

Ruhe und Therapiebedarf gut unter<br />

einen Hut <strong>zu</strong> bekommen (vgl. Maas, 2010).<br />

3. Gelebte Praxis an der Fachhochschule<br />

Kärnten<br />

Im Interview mit Frau Magª. Kirsten<br />

Ratheiser-Pirker, Beauftragte für Gleichbehandlung<br />

und Vielfalt an der Fachhochschule<br />

Kärnten, wurden Fragen rund um das<br />

Thema <strong>Inklusion</strong> und Vielfalt an den Kärntner<br />

Standorten besprochen. Frau Magª.<br />

Ratheiser-Pirker hat seit 1. März 2016 ein<br />

Wochenkontingent von acht Stunden für<br />

Beratung, Information, Unterstüt<strong>zu</strong>ng und<br />

Bewusstseinsbildung von MitarbeiterInnen<br />

und Studierenden in Sachen Gleichbehandlung.<br />

(vgl. Interview 2016)<br />

Zuvor gab es bereits den Gleichbehandlungsausschuss,<br />

der als Beratungsgremium<br />

für die Leitung eingesetzt wurde. Neben ca.<br />

zehn Vertreterinnen und Vertretern der<br />

Lehre aus allen Studienbereichen, einem<br />

Studierendenvertreter und Mitarbeitenden<br />

der Personalabteilung und dem Rechnungswesen<br />

leitet aktuell der Geschäftsführer DI<br />

Siegfried Spanz den Ausschuss. „Gleichbehandlungsfragen<br />

sind somit auch Chefsache“,<br />

das spricht für ernst gemeinten Willen<br />

beim Umsetzen von Maßnahmen. Dieses<br />

Gremium besteht nach wie vor und arbeitet<br />

nach folgenden Leitsätzen:<br />

„Wir streben nach der Gleichbehandlung<br />

und Chancengleichheit von Mitarbeitenden<br />

aller Organisationsebenen sowie Studierenden<br />

an der FHTK, unabhängig von Alter,<br />

Geschlecht, körperlicher Beeinträchti-<br />

gung, ethnischer und/oder nationaler Zugehörigkeit,<br />

Religion und sexueller Orientierung.“<br />

„Wir setzen Akzeptanz, Wertschät<strong>zu</strong>ng und<br />

gegenseitigen Respekt zwischen allen Mitarbeitenden<br />

und Studierenden, unter Anerkennung<br />

von Vielfalt, voraus.“<br />

„Wir stehen ein für eine kritische Auseinanderset<strong>zu</strong>ng<br />

mit gesellschaftlichen Entwicklungen<br />

unter Berücksichtigung der Vielfalt<br />

der Kulturen und für eine gerechte und demokratische<br />

Gestaltung von Lebens- und<br />

Arbeitswelten.“<br />

(Fachhochschule Kärnten)<br />

Die Beauftragte für Gleichbehandlung und<br />

Vielfalt arbeitet weisungsfrei und ist gefordert<br />

ihren Auftrag selbst <strong>zu</strong> entwickeln. Sowohl<br />

das top-down als auch das bottom-up<br />

Prinzip leiten ihre Tätigkeiten in dieser<br />

Funktion, wobei erst wenige Studierende<br />

sich mit ihren Anliegen an sie gewandt haben.<br />

Der Schwerpunkt liegt momentan bei<br />

der Diversity Dimension Menschen mit Behinderung.<br />

Drei Studierende mit Behinderung<br />

haben sich bis dato bei der Beauftragten<br />

gemeldet (Stand 25.11.2016). Sie weiß,<br />

dass es wesentlich mehr an den Standorten<br />

in Kärnten gibt, diese jedoch keinerlei Meldepflicht<br />

ihrer Behinderung haben. Studierende,<br />

die sich melden haben die Möglichkeit<br />

eines Nachteilsausgleichs 1 . Neben der<br />

Beratung und Unterstüt<strong>zu</strong>ng von betroffenen<br />

Studierenden steht Frau Magª. Ratheiser-Pirker<br />

gegebenenfalls auch Lehrenden<br />

<strong>zu</strong>r Seite bzw. vermittelt zwischen den beiden<br />

Parteien. In Fragen von barrierefreier<br />

Didaktik können sich Lehrende auch an das<br />

Didaktikzentrum der FH Kärnten wenden.<br />

1 Unter Nachteilsausgleich versteht man, die aus einer Behinderung<br />

resultierenden Nachteile gezielt aus<strong>zu</strong>gleichen. Dadurch<br />

wird versucht Chancengleichheit zwischen Menschen mit und<br />

ohne Behinderung her<strong>zu</strong>stellen (vgl. Hindernisfreie Hochschule).<br />

24


INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />

Des Weiteren können Fortbildungen <strong>zu</strong> diesem<br />

Themenbereich besucht werden. (vgl.<br />

Interview, 2016)<br />

Die Fachhochschule Kärnten bekennt sich<br />

in ihrem Leitbild freiwillig <strong>zu</strong>r Charta der<br />

Vielfalt, einer europäischen Unternehmensinitiative<br />

<strong>zu</strong>r Förderung von Vielfalt in Unternehmen<br />

und Organisationen. (vgl. FH<br />

Kärnten und Charta der Vielfalt)<br />

4. Fazit: Implementierung von <strong>Inklusion</strong><br />

an Hochschulen<br />

Aufgrund des demographischen Wandels,<br />

steigender Mobilität und Globalisierung<br />

wird unsere Gesellschaft zwangsläufig immer<br />

vielfältiger. Damit verbunden sind auch<br />

notwendige Veränderungen in den Strukturen<br />

der einzelnen Bildungseinrichtungen.<br />

Schindler (2016) führt da<strong>zu</strong> vorweg aus:<br />

„Grundsätzlich sind die Vorausset<strong>zu</strong>ngen<br />

für eine inklusive Bildung im Hochschulbereich<br />

wesentlich günstiger als im Schulbereich.<br />

Hier gab und gibt es keine separierenden<br />

Einrichtungen.“ (Schindler, 2016)<br />

Auch Hochschulen werden <strong>zu</strong>nehmend divers<br />

und sollten um die Realisierung offener<br />

Bildungswege für alle und um eine Bewusstseinsänderung<br />

in Richtung, dass Vielfalt<br />

eine Chance darstellt, bemüht sein. Dabei<br />

hat Diversität in der Lehre zahlreiche<br />

Facetten. Sie reichen von den Lernstrategien<br />

oder Vorkenntnissen bis hin <strong>zu</strong> individuellen<br />

Bildungshintergründen (vgl. Hochschule<br />

Ludwigshafen, S.12).<br />

Ein wertschätzender und inklusiver Umgang<br />

mit dieser Vielfalt, die damit einhergehende<br />

Nut<strong>zu</strong>ng von Potentialen der unterschiedlichen<br />

Studierenden und Mitarbeitenden<br />

verlangen stets nach einem gezielten<br />

Management (Allmayer, S.2).<br />

Gemeinsamkeiten und Unterschiede müssen<br />

in diesem breit angelegten, die individuelle,<br />

institutionelle bzw. strukturelle und<br />

kulturelle bzw. gesellschaftliche Ebene berücksichtigenden<br />

Managementprozess – im<br />

Sinne eines Stakeholderansatzes – inklusiv<br />

begriffen und daraus entstehende Ressourcen<br />

der einzelnen Gruppen wahrgenommen<br />

und gefördert werden. Die Verknüpfung der<br />

verschiedenen Ebenen trägt dem Umstand<br />

Rechnung, dass sich der Mensch als Subjekt<br />

niemals vollständig von Sozialisierungsund<br />

Kulturierungsprozessen lösen kann<br />

(Czollek 2008, S. 45).<br />

<strong>Inklusion</strong> an der Hochschule als disziplinenübergreifendes<br />

Forschungsthema muss<br />

als Gestaltungsprinzip verstanden werden,<br />

welches losgelöst von Differenzierungsmerkmalen<br />

gleichwertige Lehr-, Forschungs-<br />

und Arbeitsbedingungen für alle<br />

Mitglieder schafft, damit Ressourcen anerkannt<br />

werden und klar Position gegen jede<br />

Art von Diskriminierung bezogen wird (vgl.<br />

Aktionsplan der Universität Bremen, S. 3).<br />

Im Zuge des Prozesses werden Rahmenbedingungen<br />

geschaffen, die auf Chancengleichheit<br />

und der Vermeidung von mittelbarer<br />

und unmittelbarer Diskriminierung<br />

auf allen Ebenen abzielen und somit die<br />

Leistungsfähigkeit aller Beteiligten steigert.<br />

Der Studienerfolg darf nicht negativ von<br />

Diversität beeinflusst werden. Zu Beginn<br />

dieses Prozesses ist eine Diversity – Ist –<br />

Analyse <strong>zu</strong> empfehlen, welche primär die<br />

dahinterstehende Motivation und externe,<br />

sowie interne Ziele klärt. Darauf aufbauend<br />

wird vorhandenes Diversity – Wissen und<br />

bestehende Vielfalt an der Hochschule aufgezeigt<br />

und der <strong>zu</strong>künftiger Bedarf bzw.<br />

notwendige Maßnahmen <strong>zu</strong>r Zielerreichung<br />

formuliert (vgl. Allmayer, S.3).<br />

Es braucht ein ganzheitliches, mehrdimensionales,<br />

ein für sich als eigenständiges Projekt<br />

definiertes Diversity – Konzept. In diesem<br />

Konzept werden Differenzlinien und<br />

gesellschaftliche Regulativa, über die der<br />

25 25


INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />

Status von Menschen bestimmt wird, reflektiert<br />

und mit einem intersektionalen Zugang<br />

berücksichtigt (Czollek 2008, S. 25).<br />

Als Kernstück des Qualitätsmanagements<br />

der Hochschule und Produkt eines Implementierungsprozesses<br />

führt der neue Umgang<br />

mit Diversität <strong>zu</strong> sozialer Gerechtigkeit<br />

im Sinne von Social Justice. Werte, wie<br />

Respekt, Wertschät<strong>zu</strong>ng, Gleichberechtigung,<br />

gelebte Vielfalt und Chancengleichheit<br />

müssen im Zuge des Prozesses zwangsläufig<br />

Teil der Hochschulkultur und des<br />

verschriftlichten Leitbildes werden. Die<br />

Hochschule muss sich weiters vom Ideal<br />

der Normstudierenden abwenden und Stereotypen<br />

sollen weitestgehend abgebaut werden<br />

(vgl. Werner et al. 2014, S. 1).<br />

Der Gesetzgeber ist hierbei gefordert, Rahmenbedingungen<br />

her<strong>zu</strong>stellen, damit die<br />

sozialrechtliche Ausfinanzierung des hochschulrechtlich<br />

Möglichen und gesellschaftspolitisch<br />

Erwünschtem sichergestellt<br />

wird. Die Schaffung einer Community, besetzt<br />

durch betroffene Personen, garantiert<br />

die fortlaufende Beteiligung der entsprechenden<br />

Interessengruppen und trägt dem<br />

Umstand Rechnung, dass <strong>Inklusion</strong> ohne<br />

aktive partizipative Mitgestaltung der Betroffenen<br />

nicht gelingen kann. Barrierefreie<br />

Didaktik, spezielle Arbeitsplätze für sehbehinderte<br />

Personen, Ruheräume und das Angebot<br />

von Service- und Beratungsstellen für<br />

Studierende und Lehrende mit Diversitätsmerkmalen<br />

ergänzen das Konzept. Bereits<br />

gesetzte inklusionsfördernde Maßnahmen<br />

bedürfen einer regelmäßigen und professionellen<br />

Evaluation, um <strong>zu</strong>künftige Schritte<br />

bestens anpassen <strong>zu</strong> können. Diversitäten<br />

bleiben prozessübergreifend bestehen, sie<br />

werden lediglich <strong>zu</strong>gunsten von gleichen<br />

Lern- und Beteiligungsmöglichkeiten enthierarchisiert<br />

(Czollek 2008, S. 27).<br />

Eine inklusive Hochschule eröffnet somit<br />

für eine größere Anzahl von Personen die<br />

reale Möglichkeit auf die erfolgreiche Absolvierung<br />

eines Hochschulstudiums und<br />

damit einhergehend größere berufliche<br />

Teilhabemöglichkeiten.<br />

Diese <strong>Inklusion</strong>, welche von oben nach unten<br />

getragen werden muss, gibt es nicht <strong>zu</strong>m<br />

„Nulltarif“ – das muss allen Entscheidungsträgern<br />

bewusst sein. Allen Überlegungen<br />

vorangestellt steht analog <strong>zu</strong>m Index für<br />

Schulen die Notwendigkeit der Entwicklung<br />

eines Index für <strong>Inklusion</strong> an Hochschulen<br />

und damit verbundenen, einheitlichen<br />

Standards (vgl. <strong>Inklusion</strong> gestalten.<br />

Nationale Konferenz <strong>zu</strong>r inklusiven Bildung<br />

S.3).<br />

Quellen:<br />

Aktionsplan der Universität Bremen <strong>zu</strong>r Umset<strong>zu</strong>ng der UN – Behindertenrechtskonvention. Zugriff am<br />

11.12.2016 unter http://www.uni-bremen.de/studieren-mit-beeintraechtigung/downloads.html?eID=hbu_download_push&docID=49360.<br />

Allmayer, Sandra. Managing Diversity an Hochschulen: Eine Diversity – Ist – Analyse. Zugriff am<br />

11.12.2016 unter http://ffhoarep.fh-ooe.at/bitstream/123456789/635/1/114_297_Allmayer_FullPaper_dt_Final.pdf<br />

26


INKLUSION AN DER HOCHSCHULE<br />

Auf dem Weg <strong>zu</strong>r inklusiven Hochschule. Das Konzept der Universität Duisburg – Essen für Barrierefreiheit<br />

und Teilhabe bei Behinderung und längerfristigen Beeinträchtigungen. Zugriff am 11.12.2016<br />

unter https://www.uni-due.de/imperia/md/content/diversity/inklusionskonzept_final_cd.pdf<br />

Behindertenrechtskonvention: https://www.behindertenrechtskonvention.info/bildung-3907/ Zugriff<br />

am 11.12.2016<br />

Charta der Vielfalt, Über die Charta. Zugriff am 10.12.2016 unter http://www.charta-der-vielfalt.de/charta-der-vielfalt/ueber-die-charta.html<br />

Czollek, Leah Carola; Perko, Gudrun (2008). Eine Formel bleibt eine Formel…Gender- und diversitygerechte<br />

Didaktik an Hochschulen: ein intersektionaler Ansatz. In: Alker, Ulrike; Weilenmann Ursula<br />

(Hrsg.). Gender Mainstreaming und Diversity Management. Wien<br />

Fachhochschule Kärnten, Leitsätze für Gleichbehandlung. Zugriff am 10.12.2016 unter:<br />

https://www.fh-kaernten.at/ueber-die-fh/organisation/gleichbehandlung/<br />

Hochschule Ludwigshafen: Diversity Management Konzept der Hochschule Ludwigshafen am Rhein.<br />

Zugriff am 11.12.2016 unter https://www.hs-lu.de/fileadmin/user_upload/service/studium-undlehre/diversity/DiM_Konzept_HS_Ludwigshafen_am_Rhein_barrierearm.pdf<br />

Interview mit Ratheiser-Pirker, Kirsten (2016): Persönliches Interview mit Stathopoulos-Dohr Stefanie<br />

am 25.11.2016<br />

<strong>Inklusion</strong> gestalten. Nationale Konferenz <strong>zu</strong>r inklusiven Bildung. 17./18. Juni 2013. Berlin. Zugriff am<br />

11.12.2016 unter http://idis.uni-koeln.de/wp-content/uploads/konferenz_inklusion-gestalten_programm_barrierefrei.pdf<br />

Knauf, Helen (2013). <strong>Inklusion</strong> und Hochschule. Perspektiven des Konzepts der <strong>Inklusion</strong> als Strategie<br />

für den Umgang mit Heterogenität an Hochschulen in: Das Hochschulwesen, 61(5), 164-168. Zugriff<br />

am 03.12.2016 unter https://www.researchgate.net/profile/Helen_Knauf/publication/271214470_<strong>Inklusion</strong>_und_Hochschule_-_Perspektiven_des_Konzepts_<strong>Inklusion</strong>_als_Strategie_fur_den_Umgang_mit_Heterogenitat_an_Hochschulen/links/54c29d210cf256ed5a8ef97b.pdf<br />

Maas, Marie-Charlotte (14.12.2010). Mit Handicap an der Uni. Zeit Online. Zugriff am 19.02.2017 unter<br />

http://www.zeit.de/studium/hochschule/2010-12/studium-behinderung<br />

Menschenrechtserklärung: https://www.menschenrechtserklaerung.de/bildung-3681/ Zugriff am<br />

11.12.2016<br />

Schindler, Christiane. Auf dem Weg <strong>zu</strong> einer inklusiven Hochschule. Zugriff am 11.12.2016 unter<br />

http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/219/220<br />

Universitätsgesetz (2002): Gesamte Rechtsvorschrift für Universitätsgesetz 2002, Fassung vom<br />

06.03.2017. Zugriff am 06.03.2017 unter https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20002128<br />

Werner, Melanie; Vogt, Stefanie; Platte, Andrea (2014). Auf dem Weg <strong>zu</strong> einer inklusiven Fakultät.<br />

Zeitschrift für <strong>Inklusion</strong>, [S.l.], Juni 2014. ISSN 1862-5088. Zugriff am 8.12.2016 unter http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/217<br />

27 27


28


Musik verbindet – Ein Weg <strong>zu</strong>r <strong>Inklusion</strong><br />

Jennifer Hammer, Michaela Hren, Alisa Mischitz, Pascale Leder-Schellander<br />

Zusammenfassung<br />

Musik hat im Leben von Menschen eine hohe persönliche und gesellschaftliche Bedeutung. Es<br />

geht dabei nicht nur um das gemeinsame Musizieren, sondern um Akzeptanz, Aufmerksamkeit<br />

und Anerkennung. Dies betrifft sowohl Menschen ohne Behinderung, als auch Menschen mit<br />

Behinderung. Musik bietet die Möglichkeit Gemeinsamkeit <strong>zu</strong> erleben und kann die Basis für<br />

zwischenmenschliche Beziehungen sein. Im Folgenden werden nationale, internationale und<br />

aktuelle Beispiele vorgestellt, die den Weg für eine inklusive Beteiligung von Menschen mit<br />

Behinderung im musikalischen Setting ebnen können. Jeder Mensch ist <strong>zu</strong>m Erleben von Musik<br />

auf individuelle Weise fähig, Menschen mit und Menschen ohne Behinderung. Musik ist eine<br />

soziale Aktivität, die Kontakt und Begegnung ermöglicht, sowie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit<br />

vermittelt.<br />

1. Einführung<br />

Das IMP, Institut für musikpädagogische<br />

Forschung, Musikdidaktik und Elementares<br />

Musizieren der Universität für Musik und<br />

Kunst in Wien, beschäftigt sich mit Musik<br />

in einem breiten Blickwinkel. Wissenschaft<br />

und Forschung stehen im Zentrum innerhalb<br />

des IMPs. Die Praxis der Lehre und die<br />

Vermittlung von Musik wird untersucht, sowie<br />

Ideen und Konzepte für die Praxisfelder<br />

entworfen.<br />

Die Studierenden wollen später in Schulen,<br />

aber auch anderen Berufsfeldern die Prozesse<br />

des Musiklernens attraktiv machen.<br />

Die Arbeit der MitarbeiterInnen ist in zwei<br />

Bereiche geteilt. Den Bereich der Forschung<br />

und dem Bereich der Lehre. (IMP,<br />

2017)<br />

Das IMP setzt sich aus 40 MitarbeiterInnen<br />

aus vier verschiedenen Fachbereichen <strong>zu</strong>sammen:<br />

• Allgemeine Musikpädagogik<br />

• Instrumental(Gesangs)Pädagogik<br />

• Elementare Musikpädagogik<br />

• Mentoring<br />

Eines der Arbeitsfelder umfasst die inklusive<br />

Musikpädagogik, auf die hier näher<br />

eingegangen wird. (IMP, 2017)<br />

Musik-Inklusiv ist ein Angebot für eine<br />

Gruppe von MusikerInnen mit und ohne<br />

Behinderung gemeinsam <strong>zu</strong> musizieren.<br />

Außerdem können die TeilnehmerInnen Inputs<br />

und Feedbacks <strong>zu</strong> Konzerten, inklusivem<br />

Musizieren und Probemitschnitten geben<br />

als auch bekommen. (IMP, 2017)<br />

Das Ziel dieses Angebots ist es auch, einen<br />

Austausch zwischen den verschiedenen<br />

Gruppen <strong>zu</strong> ermöglichen und den Menschen<br />

mit Behinderung die Möglichkeit <strong>zu</strong><br />

geben ihre Wünsche und Bedürfnisse in einer<br />

Band preis <strong>zu</strong> geben. Darüber hinaus<br />

sollte das Interesse bei MusikerInnen geweckt<br />

werden, gemeinsam mit Menschen<br />

mit Behinderung <strong>zu</strong> musizieren. (IMP,<br />

2017)<br />

29 29


MUSIK VERBINDET<br />

Ein Beispiel hier<strong>zu</strong> ist die Band „Echt<br />

stoak“, die aus Mitgliedern mit unterschiedlichen<br />

Behinderungen, sowie professionellen<br />

MusikerInnen besteht und 1998 gegründet<br />

wurde. Die Musiktitel sind Eigenkompositionen.<br />

Hier geht es der musikalischen<br />

Leitung Kurt Franz nicht nur um Integration,<br />

sondern vor allem um Akzeptanz, Aufmerksamkeit<br />

und Anerkennung der Mitglieder.<br />

(IMP 2017)<br />

Neben dieser wissenschaftlichen Perspektive<br />

soll in einem weiteren Schritt auf die<br />

Bedeutung des Orff-Schulwerkes für die<br />

musikalische Sozial- und Integrationspädagogik<br />

und die Musiktherapie eingegangen<br />

werden.<br />

2. Bedeutung des Orff-Schulwerkes<br />

Wenn aufgrund einer Behinderung eine<br />

Ausdrucksmöglichkeit bei einem Menschen<br />

ausfällt, kommen <strong>zu</strong>sätzliche Möglichkeiten<br />

der Ansprechbarkeit hin<strong>zu</strong> und finden<br />

eine große Bedeutung. Der Heilpädagoge<br />

Karl Hofmarksrichter machte ORFF schon<br />

in den 60ern auf seine Arbeit mit Gehörlosen<br />

und Hörgeschädigten aufmerksam.<br />

Diese Menschen haben ein ausgeprägtes<br />

Vibrationsempfinden und konnten durch<br />

die ORFF-Instrumente miteinander spielen<br />

und tanzen. Durch dieses ausgeprägte Vibrationsempfinden<br />

schulte man die Gehörlosen<br />

bzw. Hörgeschädigten darauf Tonhöhen<br />

<strong>zu</strong> unterscheiden und dadurch ihre Sprechweise<br />

<strong>zu</strong> verbessern. (Orff-Schulwerk-Informationen,<br />

1999)<br />

Durch die ORFF-Musiktherapie konnten<br />

sinnesbehinderte und autistische Kinder<br />

von Musik, die alle Sinne beansprucht, einen<br />

Vorteil für ihre persönliche Entwicklung<br />

ziehen. Diese Therapie wird von Gertrud<br />

ORFF selbst als eine multisensorische<br />

Therapie bezeichnet. Hier werden durch<br />

freien gebundenen Rhythmus, durch Bewegung,<br />

sowie Melos in Sprache und Singen,<br />

alle Sinne beansprucht. Durch diese multisensorischen<br />

Impulse ist es möglich dort an<strong>zu</strong>setzen,<br />

wo Sinne geschädigt sind. (Orff-<br />

Schulwerk-Informationen, 1999)<br />

ORFF berichtet, dass für Kinder mit Autismus<br />

oder Entwicklungs- und Kontaktstörungen<br />

das Verbinden von Reizen, wie es<br />

<strong>zu</strong>m Beilspiel durch Musik und Tanz möglich<br />

ist, die Beziehungsfähigkeit <strong>zu</strong> sich<br />

selbst und der Umwelt erleichtert wird.<br />

(Orff-Schulwerk-Informationen, 1999)<br />

Die Idee Orffs, Musik als ein multisensorisches<br />

Phänomen <strong>zu</strong> betrachten, ist für die<br />

therapeutische Arbeit nicht nur sinnvoll,<br />

sondern notwendig. Besonders beziehungsfördernd<br />

ist die zwischenmenschliche Erfahrung,<br />

daß Gefühle, Empfindungen, Affekte<br />

geteilt werden können. Miteinander<br />

singen, spielen und tanzen stellen eine besondere<br />

Möglichkeit dar, dieses Empfinden<br />

»Gemeinsamkeit« <strong>zu</strong> erleben, <strong>zu</strong> erfahren.<br />

(Schumacher 1999)<br />

3. Internationale Entwicklung<br />

International gesehen erfährt das Thema<br />

„Menschen mit Behinderung in der Musik“<br />

einen Aufschwung. Beispielsweise stand<br />

der Eurovision Songcontest stand im Jahr<br />

2015 unter genau diesem Schwerpunkt.<br />

3.1 Song Contest 2015<br />

Die Intention des Eurovision Song Contests<br />

war, vom Beginn im Jahr 1956 bis heute,<br />

die Vielfalt Europas <strong>zu</strong> feiern. Nur 10 Jahre<br />

nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

sangen die Länder Europas <strong>zu</strong>sammen. In<br />

den vielen Jahren, in denen die Show <strong>zu</strong>r<br />

beliebtesten TV-Show Europas wurde, kamen<br />

viele Aspekte der Vielfalt <strong>zu</strong>m Vorschein.<br />

Themen wie Migration, die Friedensbewegung<br />

und die Emanzipation von<br />

Homosexuellen und Transgendern wurden<br />

in Liedern aufgearbeitet. Gesungen wurde<br />

von Juden, Farbigen und 1996 das erste Mal<br />

30


MUSIK VERBINDET<br />

von einem blinden Sänger aus Österreich,<br />

George Nussbaum. Es folgten weitere<br />

blinde SängerInnen, doch das Jahr 2015 war<br />

in zweierlei Hinsicht außergewöhnlich: Für<br />

Finnland trat die Punkband „Pertti Kurikan<br />

Nimipäivät“, die ausschließlich aus Menschen<br />

mit geistiger Behinderung besteht,<br />

und für Polen die Sängerin Monika Kuszyńska,<br />

die im Rollstuhl sitzt, an. In einem<br />

Interview mit der Zeitung „der Standard“,<br />

äußert sich Martin Ladstätter, Gründungsmitglied<br />

des ersten österreichischen Zentrums<br />

für selbstbestimmtes Leben in Österreich<br />

(Bizeps) <strong>zu</strong> dieser Thematik. Ladstätter<br />

beleuchtet die Gratwanderung einer solchen<br />

öffentlichen Darstellung von Behinderung,<br />

denn es wäre möglich, dass diese einerseits<br />

eine Art „Freak-Faktor“ mit sich<br />

bringen könnte. Andererseits sagt er:<br />

„Diese Chance gilt es jetzt <strong>zu</strong> nützen, denn<br />

Teilhabe ist der Schlüssel. Das gilt für Menschen<br />

mit Behinderung gleichermaßen wie<br />

für Lesben, Schwule und Transgender oder<br />

im Kampf gegen Rassismus. Das sind allesamt<br />

verwandte Themen." (Der Standard,<br />

2016)<br />

2015 wird der Song Contest auch erstmals<br />

für gehörlose Menschen in „international<br />

Sign“ dargestellt. Hierbei wird nicht nur der<br />

Text übersetzt, es geht vielmehr um die Erzählung<br />

einer Geschichte mit vielen Emotionen,<br />

um die Musik an sich besser fassen <strong>zu</strong><br />

können. (Der Standard, 2016)<br />

3.2 Pertti Kurikan Nimipäivät (PKN)<br />

Die Band wurde 2009 innerhalb eines<br />

Workshops, der non-profit Organisation<br />

„Lythy“ gegründet. Die vier Mitglieder sind<br />

Pertti Kurikka, Kari Aalto, Sami Helle und<br />

Toni Välitalo. Zwei der Musiker haben das<br />

Down-Syndrom, einer hat eine Autismus<br />

Spektrum Störung und einer hat das Williams-Beuren-Syndrom,<br />

eine genetisch bedingten<br />

Erscheinung. „The members of our<br />

band are four middle-aged, mentally handicapped<br />

men. The music is, of course, Finnish<br />

punk.“ (PKN, 2016)<br />

Schon vor dem Song Contest 2015 erlangte<br />

die Band internationale Aufmerksamkeit<br />

durch die Dokumentation „The Punk Syndrome“,<br />

in der ihr Leben beleuchtet wurde.<br />

Die Band schreibt ihre Lieder selbst, meistens<br />

wird der Lead-Sänger aktiv, der in einer<br />

Wohngemeinschaft in Kallio lebt:<br />

“In Kallio I see drunks, drug addicts, rock<br />

musicians and police officers every day.<br />

The song ‘Kallioon’ is my view on life in<br />

Kallio. It takes a couple of minutes to write<br />

lyrics for a song, and I find the subjects in<br />

society and the way I look at the world.”<br />

(PKN, 2016)<br />

Die Band geht auch auf Tour, auch außerhalb<br />

Finnlands. Sami Helle spielt die Bass<br />

Gitarre und wuchs in New York auf. Er<br />

spricht Englisch, was für die Band wichtig<br />

ist:<br />

“We bring a different kind of perspective<br />

into punk music; it’s our perspective. We’re<br />

different; we’re four mentally disabled<br />

guys, so our perspective on the world of<br />

punk is a little different.” (PKN, 2016)<br />

In ihren Songs thematisieren sie ihr Leben<br />

und sagen da<strong>zu</strong>: „We play punk and have a<br />

F*cking good time.“ (PKN, 2016)<br />

Neben der finnischen Band PKN soll in weiterer<br />

Folge auch eines aus Österreich vorgestellt<br />

werden.<br />

3.3 „No-Problem-Orchester“ Erfolgsgeschichte<br />

einer unglaublichen Band<br />

Mag. Dr. Joseph Schörkmayr, Initiator und<br />

Leiter des „No Problem Orchesters“ veröffentlichte<br />

2002 <strong>zu</strong>m 20 Jahr-Jubiläum sein<br />

Buch über die Erfolgsgeschichte dieser außergewöhnlichen<br />

Band. Seit 1983 ist er in<br />

der Arbeit als Musiktherapeut für geistig<br />

und körperlich schwerstbehinderte Men-<br />

31 31


MUSIK VERBINDET<br />

schen tätig. Im Buch beschreibt Schörkmayr<br />

nicht nur das erfolgsversprechende<br />

Musik-Konzept, sondern berichtet auch<br />

über die weltweiten Auftritte des Orchesters<br />

in der Öffentlichkeit. (Schörkmayr, 2009)<br />

Schörkmayr befasste sich bereits 1982 mit<br />

der Idee, Menschen mit Behinderungen das<br />

Musizieren näher <strong>zu</strong> bringen. Er stellte in<br />

der Behinderten-Therapiearbeit fest, dass<br />

jeder Einzelne einen eigenen Rhythmus in<br />

sich trägt. Dieser Eigenrhythmus wurde<br />

verstärkt, indem das Therapieteam Gruppen<br />

von behinderten Menschen geformt und <strong>zu</strong><br />

einem Gruppenrhythmus <strong>zu</strong>sammengeführt<br />

hat. Der Sinn ist, die Gruppe so <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>stellen,<br />

dass nur Menschen mit gleicher<br />

oder ähnlicher Eigenschwingung <strong>zu</strong>sammenspielen.<br />

In diesem Sinne kommt es <strong>zu</strong><br />

einer rhythmischen Geschlossenheit, besser<br />

gesagt, die Band groovt. „Groove“, ein Begriff<br />

aus der Welt des Jazz, ist eine Stimmung,<br />

ein elektrisierendes Gefühl. Das Orchester<br />

hatte <strong>zu</strong>nächst nur ein Stück von den<br />

Beatles, „Norwegian wood“, eingeübt. Genau<br />

dieses Musikstück wurde <strong>zu</strong>m Erfolg<br />

des Orchesters, da ein reales Stück präsentiert<br />

wurde und nicht bloß eine Abfolge von<br />

Geräuschen aller Art. Das war der erste<br />

Meilenstein auf dem Weg <strong>zu</strong>m 20 Jahr-Jubiläum.<br />

Das neu geformte Orchester produzierte<br />

keine chaotischen Geräusche, sondern<br />

professionelle Musik. Für das Publikum<br />

war der Auftritt des Orchesters natürlich<br />

etwas ungewöhnlich, da erstmals Menschen<br />

mit Behinderung auf der Bühne standen,<br />

die etwas besser konnten als die meisten<br />

Zuhörer. Die MusikerInnen präsentierten<br />

sich selbstbewusst, verhielten sich frei<br />

und ungehemmt. (Schörkmayr, 2009, S.14)<br />

Für Schörkmayr war dies der ganz persönliche<br />

Anfangserfolg. Mit der stetig wachsenden<br />

Berühmtheit eines mehr als außergewöhnlichen<br />

Orchesters stellte sich auch<br />

wachsender Neid und Vorurteile vieler<br />

nicht behinderter Menschen, egal ob aus<br />

Politik oder Pädagogik, ein. Jeder auch nur<br />

kleine Erfolg des Orchesters zog negative<br />

Reaktionen nach sich. Beispielsweise<br />

wurde das Orchester bei Konzertveranstaltungen<br />

schlecht gemacht oder es wurde davon<br />

abgeraten das Orchester <strong>zu</strong> engagieren.<br />

Dies ließ sich nur aus Angst vor dem Neuen,<br />

und Unbekannten erklären. Dass Menschen<br />

mit Behinderung dermaßen denunziert wurden,<br />

ist unverständlich. (Schörkmayr, 2009,<br />

S.15)<br />

Aller Widerstände <strong>zu</strong>m Trotz trat das Orchester<br />

weiterhin auf und der Einsatz lohnte<br />

sich. Der Europäischen Kommission fiel im<br />

Jahr 1995 der Paradigmenwechsel in der<br />

Musikpädagogik positiv auf: Für die Mitglieder<br />

der Europäischen Kommission war<br />

es erstaunlich, dass Menschen mit Behinderung<br />

bei öffentlichen Veranstaltungen auftraten<br />

und nicht ausschließlich bei Benefiz-<br />

Veranstaltungen. Das Orchester wurde für<br />

Kongresseröffnungen oder in Hollywood<br />

von US-Kinostars gebucht. (Schörkmayr,<br />

2009, S. 17).<br />

1995 wurde Schörkmayr der EU-Preis für<br />

funktionelle Rehabilitation in Brüssel verliehen.<br />

Sogar im Europäischen Leitfaden<br />

für empfehlenswerte Praktiken 2 wird das<br />

„No Problem Orchester“ als hervorragendes<br />

Modell <strong>zu</strong>r Förderung und Eingliederung<br />

von Menschen mit Behinderung in der Alltagsgesellschaft<br />

bezeichnet. (Schörkmayr,<br />

2009, S. 80).<br />

2 HELIOS II ist das einzige Programm der Europäischen Gemeinschaft, das ausschließlich<br />

Menschen mit Behinderung gewidmet ist. Ziel ist die Chancengleichheit<br />

und Eingliederung von Menschen mit Behinderung <strong>zu</strong> fördern. Das Programm<br />

versucht da<strong>zu</strong> innovative und effektive Praktiken <strong>zu</strong> ermitteln und die<br />

Kooperation zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten, den Organen der<br />

Europäischen Gemeinschaft, internationalen Organisationen usw. <strong>zu</strong> verbessern.<br />

(Europäische Kommission 1996)<br />

32


MUSIK VERBINDET<br />

Seit 1985 inszenierte das „No Problem Orchester“<br />

über 5000 Auftritte weltweit, da<strong>zu</strong><br />

zählt u.a. das Jazzfestival in Montreux, das<br />

Jazzfestival San Antonio, Rochester und<br />

Frankfurt. 2001 wurde den Bandmitgliedern<br />

sogar die Ehrenbürgerschaft von Key<br />

West in Florida verliehen. (Schörkmayr,<br />

2009, S. 142).<br />

Bis <strong>zu</strong>m Jahr 2011 trat das „No Problem Orchester“<br />

öffentlich auf, danach wurde es<br />

still um die Band.<br />

3.4 Therapie durch Musik und Musizieren<br />

Während der Zeit der großen Erfolge wurden<br />

die Therapiezentren für die Mitglieder<br />

des „No-Problem-Orchesters“ in Klagenfurt<br />

und Graz ausgebaut und waren ca.<br />

mit 75 KlientInnen gut besucht. Davon waren<br />

ca. 45 KlientInnen in der Lage auch öffentlich<br />

auf<strong>zu</strong>treten. (Schörkmayr, 2009, S.<br />

16). Schörkmayrs Anliegen war immer,<br />

dass auch Menschen mit schwer zerebraler<br />

Behinderung, behindertengerecht gestellte<br />

Aufgaben lösen können und vor dem Publikum<br />

eine beachtenswerte Leistung erbringen<br />

können. Erfolg und Anerkennung stimulieren<br />

Menschen mit und ohne Behinderung.<br />

(Schörkmayr, 2009, S. 18).<br />

Musik ist als Botschaft von Mensch <strong>zu</strong><br />

Mensch <strong>zu</strong> sehen, unabhängig von allen Dimensionen<br />

von Diversität. (Schörkmayr,<br />

2009, S. 21).<br />

Musik als Therapie; Diese neue Therapieform<br />

wurde von den damals etablierten<br />

TherapeutInnen weder akzeptiert noch verstanden.<br />

Durch das gemeinsame Musizieren<br />

sollen Leiden und Krankheiten von Menschen<br />

mit Behinderung gemindert werden.<br />

Ein wesentliches und aufbauendes Element<br />

der Musiktherapie ist es jedoch, dass die<br />

MusikerInnen gemeinsam mit HelferInnen<br />

und LeidensgefährtInnen <strong>zu</strong>sammen an einem<br />

Musikstück arbeiten. Die Entwicklung<br />

der Musikinstrumente für diese Therapieform<br />

verlangt ein Eingehen auf die tatsächlichen<br />

Fähigkeiten der Menschen mit Behinderung.<br />

So gesehen muss der/die TherapeutIn<br />

sich also der Natur des Kranken unterordnen.<br />

Der Mensch wird nicht „umgemodelt“,<br />

muss sich auch nicht neu erfinden,<br />

sondern es werden in ihm ungeahnte Heiltendenzen<br />

geweckt. Zu erwähnen ist, dass<br />

das Verhältnis von TherapeutIn und<br />

Mensch mit Behinderung nicht als Arzt-Patient-Verhältnis<br />

<strong>zu</strong> sehen ist, sondern vielmehr<br />

als Verhältnis zwischen BandleaderIn<br />

und MusikerIn <strong>zu</strong> verstehen ist. Zu guter<br />

Letzt hat auch der erfolgreiche Auftritt der<br />

Musiker, der lobende Zuspruch und die Anerkennung<br />

ihrer Leistung eine heilende<br />

Wirkung. (Schörkmayr, 2009, S. 26-27).<br />

Das Therapiekonzept verläuft in drei Schritten:<br />

Zu Beginn der Therapie wird der<br />

Mensch mit Behinderung darauf getestet<br />

welches Tempo (Rhythmus) <strong>zu</strong> seiner persönlichen<br />

Eigenschwingung passt und sucht<br />

sich durch Probieren ein Instrument aus, das<br />

ihm liegt. Als zweiten Schritt wird das Erlernen<br />

des Instrumentes gesehen sowie das<br />

Proben in der Gruppe. Der dritte und sehr<br />

wesentliche Schritt ist das Auftreten des<br />

Musikers in der Öffentlichkeit. Die No-<br />

Problem-Music-Therapie grenzt sich eindeutig<br />

von anderen gebräuchlichen Musiktherapien<br />

ab, die auf die Einzelperson angelegt<br />

sind. In einer Band <strong>zu</strong> musizieren ist ein<br />

dynamischer Gruppenprozess, indem jeder<br />

auf den anderen angewiesen ist. (Schörkmayr,<br />

2009, S. 29-30).<br />

Dass Musik keine Ausgren<strong>zu</strong>ng kennt, zeigt<br />

auch folgendes Beispiel.<br />

33 33


MUSIK VERBINDET<br />

3.5 Musik kennt keine Ausgren<strong>zu</strong>ng –<br />

Der Firefly Club<br />

Ein weiteres Beispiel für Musik als ein Weg<br />

<strong>zu</strong>r <strong>Inklusion</strong> ist der Firefly Club aus Wien.<br />

Der Firefly Club ist ein gemeinnütziger<br />

Verein <strong>zu</strong>r Integration von musisch kreativen<br />

Menschen mit Behinderung. Der Verein<br />

bildet Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung<br />

<strong>zu</strong> DJs aus und vermittelt<br />

diese <strong>zu</strong> Veranstaltungen und organisiert<br />

selbst integrative Veranstaltungen. Die<br />

wörtliche Überset<strong>zu</strong>ng von Firefly bedeutet<br />

„Glühwürmchen“. Dieses Wort dient dem<br />

Club als Leitbild, indem die dunklen Schatten<br />

der Aus- und Abgren<strong>zu</strong>ng mit Musik beleuchtet<br />

werden. Der Verein ist überzeugt<br />

davon, dass Musik alle Menschen verbinden<br />

kann. Außerdem wird die Devise vertreten,<br />

dass Behinderung kein Hindernis ist,<br />

wenn man sie <strong>zu</strong> keinem Macht. Jeder der<br />

DJs hat seinen ganz eigenen Stil und sein<br />

eigenes Musikrepertoire, das er auf den verschiedensten<br />

Veranstaltungen einbringen<br />

kann. (Firefly Club, 2016)<br />

Der Firefly Club wird hauptsächlich über<br />

Spenden, Buchungen und Förderungen finanziert.<br />

Mit dem <strong>zu</strong>r Verfügung stehenden<br />

Budget werden unter anderem die Miete für<br />

Workshops und Partys aufgebracht, es wird<br />

das Honorar für die DJs davon bezahlt, die<br />

Trainer der DJs werden entschädigt, es werden<br />

Flyer gedruckt und auch das Equipment<br />

für die DJ-Tätigkeit wird mit diesen Geldmitteln<br />

angeschafft und bereitgestellt. (Firefly<br />

Club, 2016)<br />

Das Paar Johanna und Markus hat ihre<br />

Ausbildung bereits abgeschlossen. Markus<br />

spricht begeistert von der Ausbildung und<br />

seiner Tätigkeit als DJ: „Die Ausbildung<br />

war sehr toll und sie hat uns beiden sehr viel<br />

gebracht. Für mich bedeutet Musik Spaß<br />

und Energie, viele Leute, sie macht viel<br />

Freude und dass man einfach gute Laune<br />

verbreiten kann. Auch, dass man seine Gefühle<br />

ausdrücken kann. Mein Wunsch wäre<br />

es, dass die Leute sich trauen uns <strong>zu</strong> buchen.<br />

Musik auflegen macht einfach Spaß<br />

und wir lieben es auf der Bühne <strong>zu</strong> stehen.<br />

Wir lieben es die Leute <strong>zu</strong> unterhalten.“<br />

Auch Johanna erklärt, was Musik für sie bedeutet:<br />

„Musik bedeutet mir sehr viel. Sie<br />

bedeutet Liebe, Vertrauen und Spaß.“<br />

(Firefly Club, 2016)<br />

Bevor die DJs ihre ersten Aufträge bekommen,<br />

durchlaufen sie ein zehnmonatiges<br />

Ausbildungsprogramm.<br />

Christoph Sackl ist einer der beiden Gründer<br />

des Firefly Clubs, ist selbst leidenschaftlicher<br />

DJ und möchte sein Wissen<br />

weitergeben. Er spricht über die Ziele des<br />

Firefly Clubs: „Es gibt nur sehr wenige<br />

Künstler mit Behinderung in der Öffentlichkeit.<br />

Wir wollen aktiv <strong>zu</strong> einer inklusiven<br />

Gesellschaft beitragen, Vorurteile abbauen<br />

und es stellt auch eine Art Sensibilisierungsmaßnahme<br />

dar. Wir kümmern uns um<br />

das Organisatorische, während ein Trainer,<br />

der selbst ausgebildeter DJ ist, die Gruppe<br />

der Aus<strong>zu</strong>bildenden leitet. (Firefly Club,<br />

2016)<br />

Die Vision der beiden Gründer Christoph<br />

und Sebastian ist ganz klar: Durch die Ausbildung<br />

soll das Selbstvertrauen der DJs gestärkt<br />

werden und ihnen <strong>zu</strong> einem unabhängigeren<br />

Leben verholfen werden. Darüber<br />

hinaus soll es helfen Vorurteile ab<strong>zu</strong>bauen.<br />

(Firefly Club, 2016)<br />

4. Musik & Diversity<br />

Die verschiedenen nationalen und internationalen<br />

Beispiele von Musik als Weg <strong>zu</strong>r <strong>Inklusion</strong><br />

haben gezeigt, dass Behinderung<br />

34


MUSIK VERBINDET<br />

eine Herausforderung ist und mit vielen persönlichen<br />

und beruflichen Fragen konfrontiert<br />

ist:<br />

• Der Mensch mit Behinderung ist durch<br />

seine Behinderung herausgefordert.<br />

• Durch Menschen mit Behinderung wird<br />

die Gesellschaft herausgefordert.<br />

• Die Herausforderung für PädagogInnen<br />

besteht darin, neue, passende und humane<br />

Inhalte und Methoden <strong>zu</strong> finden,<br />

<strong>zu</strong> entwickeln und <strong>zu</strong> verwirklichen.<br />

(Salmon, 1999)<br />

In einer Gesellschaft, in der Nutzbarkeit,<br />

Produktivität und finanzielle Verdienstmöglichkeiten<br />

einen so hohen Stellenwert<br />

haben, führt jede Beeinträchtigung <strong>zu</strong> realen<br />

Problemen. Intellektuelle und logische<br />

Leistungen nehmen in unserer Gesellschaft<br />

einen viel höheren Stellenwert ein als andere<br />

Talente wie z.B. linguistische oder musikalische<br />

Talente. Durch diese Gewichtung<br />

bekommen Menschen mit Behinderung oft<br />

nur wenig Platz innerhalb der Gesellschaft.<br />

(Salmon, Behinderung als Herausforderung,<br />

1999)<br />

Menschen mit Behinderung stellen für uns<br />

alle eine Herausforderung dar, da ihr Sein<br />

uns auffordert unsere Wahrnehmungen anderen<br />

Menschen gegenüber, unsere Gefühle<br />

und Gedanken über das Mensch-Sein <strong>zu</strong><br />

hinterfragen. Die vorgeprägten Meinungen<br />

über Rechte, Wertvorstellungen, über Pädagogik<br />

und Erziehung scheinen sich in diesem<br />

Kontext nicht mehr ganz so klar dar<strong>zu</strong>stellen.<br />

Die Gesellschaft muss mit solchen<br />

Erkenntnissen umgehen lernen und es jedem<br />

Individuum ermöglichen, musikalische<br />

oder tänzerische Bildung <strong>zu</strong>kommen <strong>zu</strong> lassen.<br />

(Salmon, 1999)<br />

Bedürfnisse und daraus folgende Rechte<br />

sollen für jeden Menschen gültig sein und<br />

umgesetzt werden. Darunter fällt die Nichtaussonderung<br />

und die Wahrnehmung als Individuum,<br />

das Recht darauf, so <strong>zu</strong> lernen,<br />

dass individuelle Beeinträchtigungen und<br />

Begabungen respektiert und berücksichtigt<br />

werden. Das Bedürfnis bzw. Recht auf musische<br />

Erlebnisse und den eigenen kreativen<br />

Ausdruck <strong>zu</strong> finden soll umgesetzt werden.<br />

(Salmon, 1999)<br />

Musik ist vor allem eine soziale Aktivität.<br />

Sie ermöglicht Kontakt, Begegnung und ein<br />

Gefühl der Zusammengehörigkeit.<br />

Durch den Zugang von Menschen mit Behinderung<br />

<strong>zu</strong> den Künsten, <strong>zu</strong> künstlerischen<br />

Aktivitäten oder Bildung, können<br />

Teile ihrer Persönlichkeit weiterentwickelt<br />

und der Isolation, der sie oft durch die Gesellschaft<br />

ausgesetzt sind, entgegengewirkt<br />

werden. (Salmon 1999)<br />

Quellen:<br />

Europäische Kommission GD V (1996): Helios II Europäische Leitfaden für empfehlenswerte Praktiken.<br />

Auf dem Weg <strong>zu</strong>r Chancengleichheit für behinderte Menschen. Luxemburg: Europäische Kommission<br />

GD V/E.3<br />

Eurovision Song Contest (2016): History. http://www.eurovision.tv/page/history. Zugriff am 8.12.2016.<br />

Firefly Club (2016): http://www.fireflyclub.at/site/. Zugriff am: 6.12.2016.<br />

Perrti Kurikan Nimipäivät (2016): Home, Biographie, Musik. http://www.pkn.rocks/. Zugriff am<br />

7.12.2016.<br />

35 35


MUSIK VERBINDET<br />

Salmon, Shirley (1999): Behinderung als Herausforderung. Orff-Schulwerk Informationen. Nr.62. entnommen<br />

aus: http://bidok.uibk.ac.at/library/salmon-herausforderung.html. Zugriff am: 1.12.2016.<br />

Schörkmayr, Joseph B. (2009): No Problem Orchester. Erfolgsgeschichte einer unglaublichen Band.<br />

Steyr: Ennsthaler Gesellschaf m.b.H & Co.KG.<br />

Song Contest: 2015 ist das Jahr der Menschen mit Behinderungen (2016): http://derstandard.at/2000015650257/<strong>Inklusion</strong>-beim-Song-Contest2015-das-Jahr-der-Menschen-mit-Behinderungen.<br />

Zugriff am: 7.12.2016.<br />

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Projekt „Kick forward“ – Straßenfußball und <strong>Inklusion</strong><br />

Anna Diethart, Bernhard Wieser, Christian Wakonig, Petra Gardener und Anna Gruber<br />

Zusammenfassung<br />

Das pädagogische Konzept, das den Titel „Kick forward“ beziehungsweise „Straßenfußball für<br />

Toleranz“ trägt, eröffnet jungen Menschen durch Sport neue Lern- und Erfahrungsräume für<br />

ein gelingendes Miteinander. In internationalen Projekten, die von der (außer)schulischen Jugendarbeit<br />

umgesetzt werden, wird eine Bandbreite an Jugendlichen erreicht. Die Verbindung<br />

von Sport und pädagogischen Inhalten schafft hierbei einen Raum, in dem Integration spielerisch<br />

erfahrbar wird (vgl. Jäger, 2006, 2). Somit ist dieses Projekt neben anderen Schwerpunkten<br />

ein Schritt in Richtung des Ziels der Teilhabe aller Menschen in der Gesellschaft.<br />

1. Einleitung<br />

Dass Bildung Spaß machen kann, zeigt sich<br />

beim Projekt „Kick forward“, oder auf<br />

Deutsch: „Straßenfußball für Toleranz“, in<br />

dem der <strong>Inklusion</strong>sgedanke mit Bewegung<br />

und Vergnügen verbunden wird. Sowohl<br />

Schulen als auch Gruppen aus der offenen<br />

Jugendarbeit werden damit angesprochen.<br />

Ziel ist es Erfahrungs- und Lernräume für<br />

ein gelingendes Miteinander <strong>zu</strong> schaffen. In<br />

das Regelwerk des Straßenfußballs fließen<br />

neben dem Sport Erkenntnisse aus wissenschaftlichen<br />

Disziplinen ein. Darin beinhaltet<br />

sind Themen wie Gewaltprävention,<br />

Friedenspädagogik, globales Lernen, nachhaltige<br />

Entwicklung und Demokratieerziehung.<br />

(vgl. Jäger, 2006, 2).<br />

Vorausset<strong>zu</strong>ng für die Durchführung von<br />

„Straßenfußball für Toleranz“ sind weder<br />

Tore noch sonstiges teures Material, nur<br />

eine Teamer*innen-Ausbildung ist wünschenswert.<br />

Teamer*innen werden anstelle<br />

der Schiedsrichter*innen eingesetzt und<br />

sind Vermittler*innen zwischen den Spieler*innen.<br />

Sie sollen dabei unterstützen präventiv<br />

<strong>zu</strong> arbeiten und aktives Konfliktmanagement<br />

um<strong>zu</strong>setzen (vgl. Jäger, 2016, 8).<br />

Worin unterscheiden sich Integration und<br />

<strong>Inklusion</strong>? Integration bedeutet, Menschen<br />

aus Randgruppen und Minderheiten in die<br />

Gesamtgesellschaft ein<strong>zu</strong>gliedern, wobei<br />

die Normen der Mehrheitsgesellschaft und<br />

die Rahmenbedingungen in den meisten<br />

Fällen als starres System erlebt werden. Innerhalb<br />

der <strong>Inklusion</strong> wird nicht mehr zwischen<br />

„Normalen“ und „A-Normalen“ unterschieden,<br />

sondern alle werden von vornherein<br />

als Teil des Ganzen gesehen. Anstelle<br />

von Normierung und Anpassung tritt<br />

die Wertschät<strong>zu</strong>ng der Pluralität in den Mittelpunkt.<br />

<strong>Inklusion</strong> stößt jedoch dann an<br />

ihre Grenzen, wenn die Menschenrechte<br />

missachtet werden und wenn das gelingende<br />

Miteinander nicht als gemeinsames<br />

Ziel angestrebt wird (vgl. Jäger, 2016, 8ff.).<br />

Besonders relevant aus Sicht der Disability<br />

& Diversity Studies ist es, dass bei „Kick<br />

forward“ Rahmenbedingungen, in denen<br />

Pluralität und Gleichberechtigung bejaht<br />

werden, geschaffen werden. Die teilnehmenden<br />

Jugendlichen an diesen Projekten<br />

haben vielfältige Backgrounds und es erfolgt<br />

die Förderung von Toleranz gegen-<br />

39 37


PROJEKT „KICK FORWARD“<br />

über verschiedenen Meinungen, Nationalitäten<br />

und Kultur<strong>zu</strong>gehörigkeiten. Ein weiterer<br />

Aspekt ist, dass die Gleichberechtigung<br />

zwischen Mädchen und Jungen insofern<br />

thematisiert wird, als dass nur gemischte<br />

Teams aus Mädchen und Jungen bei den<br />

Turnieren antreten können. Weil die Tore<br />

der Jungen jedoch nur dann gewertet werden,<br />

wenn ein Tor durch die Mädchen geschossen<br />

worden ist, bleibt eine gewisse<br />

Ungleichheit zwischen den Geschlechtern<br />

bestehen. Hier stellt sich die Frage, ob es<br />

notwendig ist, die Regel <strong>zu</strong> ändern oder ob<br />

auf Grund der Unterschiede zwischen den<br />

Geschlechtern eine differenzierte Behandlung<br />

gerechtfertigt werden kann. Es gibt außerdem<br />

eine Dialogzone, in der einerseits<br />

vor dem Spiel Fairplay-Regeln ausgemacht<br />

werden und in der andererseits nach dem<br />

Spiel die Umset<strong>zu</strong>ng dieser Regeln reflektiert<br />

wird (vgl. Jäger, 2006, 4-7).<br />

Es liegt demnach ein durchdachtes Konzept<br />

vor, das - ursprünglich aus Kolumbien<br />

stammend – international umgesetzt wird.<br />

Wobei hier an<strong>zu</strong>merken ist, dass die<br />

Schwerpunktset<strong>zu</strong>ng dieses Artikels die<br />

Projektumset<strong>zu</strong>ng in Deutschland betrifft<br />

und da<strong>zu</strong> noch keine wissenschaftlichen<br />

Auswertungen über die Effektivität des Projekts<br />

vorliegen. Trotzdem ist die Intention<br />

von „Kick forward“ eine, die neugierig<br />

macht, weitere Betrachtungen vor<strong>zu</strong>nehmen<br />

und tiefer ein<strong>zu</strong>tauchen (vgl. Jäger,<br />

2006, 2).<br />

Aus diesem Grund wird in diesem Artikel<br />

<strong>zu</strong>nächst auf den geschichtlichen „Ursprung“<br />

des Projekts und dessen Weiterentwicklung<br />

eingegangen. Danach folgt eine<br />

szenische Darstellung des Ablaufs eines<br />

Spieles und schlussendlich wird der Frage<br />

nachgegangen, welche Parallelen sich zwischen<br />

„Straßenfußball für Toleranz“ und <strong>Inklusion</strong><br />

in Be<strong>zu</strong>g auf Rahmenbedingungen<br />

und bestehen.<br />

2. Geschichte und aktuelle Situation<br />

Inmitten der verfeindeten Viertel von Kolumbien,<br />

wo es rau <strong>zu</strong>geht, wo jemand, der<br />

nicht still hält, einfach getötet wird, wird<br />

zwischen Baracken und kaputten Autos auf<br />

roter Erde und mithilfe geflickter Tornetze<br />

Fußball gespielt. Aber nicht irgendein Fußball,<br />

sondern Fußball für den Frieden. Dem<br />

39-jährigen Soziologen und Sportwissenschaftler<br />

Jürgen G. gelang es, genau dort ein<br />

Fußballspiel nach Regeln der Toleranz <strong>zu</strong><br />

etablieren. Nicht nur das Töten, sondern<br />

auch Beschimpfungen, Drohungen und<br />

Fouls hat er damit abgefangen. Er plädiert<br />

für Trost, gegenseitige Unterstüt<strong>zu</strong>ng und<br />

faires Verhalten. Wie gelang ihm das (vgl.<br />

Jäger, 2006, 6)?<br />

Jürgen G. aus Deutschland reist 1993 für ein<br />

Sportforschungsprojekt nach Kolumbien.<br />

Dort wird er <strong>zu</strong>m Beobachter von starken<br />

Emotionen, die durch ein Fußballspiel ausgelöst<br />

werden können: Ein Spieler schießt<br />

ein Eigentor, er wird auf offener Straße erschossen;<br />

Eine Frau erschießt sich nach einer<br />

Niederlage der Mannschaft selbst. Um<br />

das auf<strong>zu</strong>halten und die heftigen Emotionen<br />

in positive Bahnen <strong>zu</strong> lenken, entwickelt er<br />

Regeln für ein friedlicheres Miteinander der<br />

verfeindeten Viertel. Er bindet verstärkt die<br />

Mädchen und Frauen in das Spiel ein. Die<br />

Anschauung, dass für einen Sieg neben<br />

möglichst vielen Toren auch Fairness notwendig<br />

ist, versucht er um<strong>zu</strong>setzen und lebbar<br />

<strong>zu</strong> machen. Beim ersten Versuchsspiel<br />

gab es Drohungen und Steinwürfe, aber völlig<br />

überraschend endete der Versuch dann<br />

doch positiv, da sich der Bandenchef spontan<br />

auf die Seite von Jürgen G. stellte (vgl.<br />

Jäger, 2006, 6).<br />

Jürgen G. rekrutierte <strong>zu</strong> Beginn siebzig<br />

Sportler und konnte einen sprunghaften Anstieg<br />

innerhalb der nächsten Monate ver-<br />

40 38


PROJEKT „KICK FORWARD“<br />

zeichnen. Es entstand "Fußball für den Frieden"<br />

und dieser zog vor allem jugendliche<br />

Spieler*innen an, welche die vorgegebenen<br />

Regeln akzeptierten. Jeder, der die Regeln<br />

annahm, durfte mitspielen, unabhängig von<br />

Status oder Vergangenheit. Dies ist vor allem<br />

in einer Gegend, wo Alkohol, Drogenkonsum<br />

und Diebstahl an der Tagesordnung<br />

stehen, ein enorm wichtiger Aspekt (vgl. Jäger,<br />

2006, 6).<br />

Auch in Deutschland konnte diese Initiative<br />

<strong>zu</strong>erst in Brandenburg, dann landesweit unter<br />

dem Motto "fair play for fair life" in den<br />

Schulen umgesetzt werden. Neben der Vermittlung<br />

von sozialen Kompetenzen galt als<br />

Ziel, schulisches und außerschulisches Lernen<br />

miteinander <strong>zu</strong> verbinden. Nach und<br />

nach wurden landesweit faire Turniere ausgetragen,<br />

vor allem <strong>zu</strong>gunsten der Förderung<br />

von Jugendlichen, welche sozial benachteiligt<br />

sind. 2006 konnte sogar eine<br />

Weltmeisterschaft in Baden- Württemberg<br />

veranstaltet werden, an welcher 2000 Kinder<br />

und Jugendliche teilnahmen (vgl. Jäger,<br />

2006, 3).<br />

In Deutschland konnte das Modell erfolgreich<br />

implementiert werden; auch in Österreich<br />

können inner- und außerschulische<br />

Modelle des "fair play" Ein<strong>zu</strong>g finden. Das<br />

Fußballspiel als "kick forward Variante"<br />

könnte Schüler*innen verschiedenster Herkunft<br />

in simpler Art <strong>zu</strong>sammenbringen und<br />

das Kennenlernen untereinander fördern.<br />

Kinder und Jugendliche würden lernen, wie<br />

sie gemeinsame Regeln vereinbaren, Konflikte<br />

und Krisen lösen und Spannungen<br />

überwinden können. Außerdem würde<br />

sportliche Betätigung die körperliche Gesundheit<br />

fördern und das Selbstvertrauen<br />

erhöhen. Darüber hinaus ist dies ein Weg<br />

<strong>zu</strong>r Förderung des Teambewusstseins.<br />

Durch die Initiative Fairplay für Vielfalt<br />

und Antidiskriminierung mit ihrem Sitz in<br />

Wien wurden bereits erste Schritte in diese<br />

Richtung gesetzt. Die Initiative wurde 2012<br />

durch Unterstüt<strong>zu</strong>ng des Sportministeriums<br />

ins Leben gerufen und bietet Beratung für<br />

Flüchtlingsinitiativen im Bereich des Sports<br />

an. Jede Gruppe, welche Camps oder Trainings<br />

für Flüchtlinge öffnen oder initiieren<br />

möchte, bekommt Hilfestellung in organisatorischen,<br />

rechtlichen oder infrastrukturellen<br />

Fragestellungen. Mit "Kicken ohne<br />

Grenzen" konnten offene Trainingseinheiten<br />

für Jugendliche geschaffen werden und<br />

darüber hinaus werden auch Mädchen- und<br />

Frauenfußballinitiativen verstärkt gefördert.<br />

In dieser Form kann Fußball die soziale<br />

Entwicklung nachhaltig positiv beeinflussen<br />

(vgl. Fairplay).<br />

3. Szene<br />

Wir befinden uns auf dem Fußballfeld in Tübingen.<br />

Hier findet heute kein gewöhnliches<br />

Fußballspiel statt, es wird nämlich nach<br />

„Fairplay Regeln“ gespielt. Was dieses<br />

Spiel so bedeutend macht? Jeder kann mitmachen,<br />

solange die Regeln eingehalten<br />

werden.<br />

Lena ist 13 Jahre alt und spielt seit rund einem<br />

Jahr bei „Straßenfußball für Toleranz“<br />

mit. Vorher hat sie nur das „normale“<br />

Fußballspiel gekannt und wurde deshalb<br />

vor eine ungewohnte Situation gestellt.<br />

Der Sprung von einem Mädchenfußball-<br />

Team in ein gleichberechtigtes und auch inklusives<br />

Team, das durch Regeln die<br />

Gleichstellung sichert und die Vielfalt der<br />

Kinder und Jugendlichen als etwas Gutes<br />

sieht; von einem teilweise aggressivem<br />

Spielverhalten, <strong>zu</strong> einem gewaltfreiem<br />

Spielverhalten; und vom Leistungsdruck<br />

<strong>zu</strong>m Spaß am Spiel erlebte sie sehr positiv.<br />

Diese Art von Spiel war vielen Kindern<br />

nicht bekannt, erzählt Lena. Anfangs war<br />

sie das einzige Mädchen im Team, aber das<br />

hat sich bald geändert. Inzwischen sind einige<br />

Mädchen mit dabei. Dabei steigen die<br />

Chancen, dass ein Mädchen ein Tor schießt,<br />

3941


PROJEKT „KICK FORWARD“<br />

was wiederum dem Team einen Vorteil<br />

bringt. Die 13-jährige verbessert sich ständig<br />

und hat den Ball unter Kontrolle. Das<br />

hat ihr Jeremy, der dies selbst in seinem<br />

Heimatland Uganda gelernt hat, beigebracht.<br />

Heute will sie diese Tricks anwenden,<br />

um Tore mit ihrem Team <strong>zu</strong> schießen,<br />

vorher erzählt sie aber noch von ihrem ersten<br />

Spiel:<br />

Lenas erstes Fair Play Spiel lief anders als<br />

erwartet. Sie hatte viel trainiert und war<br />

noch mit dem ihr <strong>zu</strong>vor bekannten Spielverhalten<br />

verwachsen. Sie spielte sehr gut<br />

schoss zwei Tore, machte jedoch auch einige<br />

Fouls. Ihr war nicht bewusst, dass sie<br />

ein eher aggressives Spielverhalten an den<br />

Tag legte. Erst als die beiden Teams mit<br />

dem Teamer das Spiel reflektierten, wurde<br />

ihr durch die Vergabe der Fair-Play-<br />

Punkte klar, dass sie nicht fair gespielt<br />

hatte. Das andere Team hatte trotz weniger<br />

Tore das Spiel durch faires Verhalten für<br />

sich entscheiden können.<br />

Lena hat im Laufe des Jahres nicht nur gelernt<br />

was faires Miteinander ist, sondern<br />

hat durch das inklusive Team, Kolleg*innen<br />

aus unterschiedlichsten Nationalitäten und<br />

Kulturkreisen kennengelernt. Die Veränderung<br />

ihrer Einstellung gegenüber der Vielfalt<br />

der Teammitglieder hat sie erst nach einiger<br />

Zeit wahrgenommen. Für die 13-Jährige<br />

ist das Erleben anderer Kulturen und<br />

Einstellungen sehr spannend und sie<br />

möchte noch viel mehr davon erfahren.<br />

Deshalb macht Lena auch bei der nächsten<br />

Teamer*innen-Ausbildung mit und möchte<br />

so da<strong>zu</strong> beitragen, dass „Straßenfußball für<br />

Toleranz“ weiter gespielt und die Grundeinstellung<br />

des Spiels aktiv gelebt und umgesetzt<br />

wird.<br />

Lena muss sich noch schnell umziehen,<br />

denn es geht bald los. Der Teamer klärt mit<br />

allen Mitspielern nochmal die Regeln; Spaß<br />

und Freude stehen bei diesem Spiel im Vordergrund.<br />

Die Grundregeln sind festgelegt<br />

und die Aufbauregeln handeln beide Teams<br />

miteinander aus. Der Startpfiff erklingt und<br />

das faire Spiel kann starten.<br />

4. „Straßenfußball für Toleranz“ und <strong>Inklusion</strong><br />

„Der Sport wird gerne als die große Integrationsmaschine<br />

gesehen.“ (Lützenkirchen,<br />

2012, 32) Menschen unterschiedlicher Herkunft,<br />

mit vielfältigen sozialen und kulturellen<br />

Umfeldern und differenzierten Bildungsvorausset<strong>zu</strong>ngen<br />

kommen <strong>zu</strong>sammen<br />

und messen sich im sportlichen Wettbewerb,<br />

indem ein eigenes Regelwerk das<br />

sportliche Miteinander verbindet (vgl. Lützenkirchen,<br />

2012, 32).<br />

„Der Sport ist Teil der Gesellschaft und<br />

steht mit ihr in einem dauernden Wechselverhältnis.“<br />

(Lützenkirchen, 2012, 32) Im<br />

Netzwerk „Straßenfußball für Toleranz“<br />

werden Schwerpunkte an der Schnittstelle<br />

Fußball und Gesellschaft erarbeitet, um die<br />

Partizipations- und Integrationspotentiale<br />

von Kindern und Jugendlichen <strong>zu</strong> nutzen.<br />

Der Fußball führt sie als Team <strong>zu</strong>sammen<br />

und mit erfahrbaren sozialen Kompetenzen<br />

baut das Projekt Brücken, über die ein Weg<br />

in die Gesellschaft führt (vgl. Lützenkirchen,<br />

2012, 32).<br />

„Straßenfußball für Toleranz“ beruht auf einer<br />

Reihe von ethischen Grundprämissen,<br />

die Vorrauset<strong>zu</strong>ng für das Regelwerk und<br />

ebenso Lernarrangements der Beteiligten<br />

sind. Die zentralen Aspekte beinhalten Integration,<br />

Gewaltfreiheit, Gleichberechtigung<br />

sowie Spaß und Lebensfreude am<br />

Spiel. Durch die Übernahme von Verantwortung,<br />

die Kinder und Jugendliche für<br />

sich und andere im Spiel lernen, werden die<br />

Vorzüge von fairem, weltoffenem und tolerantem<br />

Verhalten spielerisch sichtbar und<br />

erfahrbar (vgl. Jäger, 2006, 4).<br />

42 40


PROJEKT „KICK FORWARD“<br />

Grundlage bilden engagierte Menschen in<br />

Schule, Verein und Gemeinde, die den Willen<br />

besitzen sich <strong>zu</strong> treffen und die Bereitschaft<br />

haben, sich auf einen gemeinsamen,<br />

langfristigen aber lohnenden Lernprozess<br />

ein<strong>zu</strong>lassen (vgl. Jäger, 2006, 5).<br />

Ein anderer Teilbereich ist die Teamer*innen-Ausbildung,<br />

bei der in hohem Maße<br />

Verantwortung und Organisationsgeschick<br />

in der Vorbereitung, Durchführung und<br />

Nachbereitung der Spiele erforderlich sind.<br />

Die Rolle der Teamer*innen geht über die<br />

traditionelle Rolle der Schiedsrichter*innen<br />

hinaus. Wie mit welcher Zusammenset<strong>zu</strong>ng<br />

der Teams und Teamer*innen gespielt wird,<br />

richtet sich nach den Spielregeln und kann<br />

während dem Spiel verändert werden. In der<br />

Dialogzone kommen die Teams vor dem<br />

Spiel <strong>zu</strong>sammen und definieren für sich <strong>zu</strong>sätzliche<br />

Regeln im Sinne des Fair-Plays,<br />

die nach dem Spiel <strong>zu</strong>sammen diskutiert<br />

und mittels beobachteten Spielsituationen<br />

der Teamer*innen anhand eines Punktesystems<br />

analysiert werden. In dem Projekt<br />

„Straßenfußball für Toleranz“ sollten die<br />

Teams geschlechtlich gemischt sein. Im<br />

Sinne der Gerechtigkeit zwischen den körperlichen<br />

Unterschiedlichkeiten, ist <strong>zu</strong>mindest<br />

ein Tor eines Mädchens im Regelwerk<br />

eingebunden. Die gemischte Mannschaft<br />

die am meisten Tore erzielt, erhält drei<br />

Punkte und bei einem Unentschieden erhalten<br />

beide Teams jeweils zwei Punkte. Verlierer<br />

erhalten immerhin noch einen Punkt.<br />

Das Besondere an diesem Spiel liegt in der<br />

erweiterten Punkteverteilung. Beide Teams<br />

können <strong>zu</strong>sätzlich noch bis <strong>zu</strong> drei Fair-Play<br />

Punkte bekommen, wenn besondere positive<br />

Verhaltensweisen in die Gruppendynamik<br />

mit einfließen (vgl. Jäger, 2006, 7).<br />

„Straßenfußball für Toleranz“ bietet einen<br />

Ansatz, bei dem allgemeingültige Regeln<br />

hinterfragt und verändert werden. Ein wichtiges<br />

Lernziel für Kinder und Jugendliche<br />

ist ihre individuelle Weiterbildung <strong>zu</strong> einem<br />

selbstbestimmten Leben, das Menschen mit<br />

unterschiedlichen Meinungen, Charakterzügen<br />

oder Lebenseinstellungen auf respektvoller<br />

und wertschätzender Weise die<br />

Teilhabe in der Gesellschaft ermöglicht.<br />

Schüler*innen erleben im Fußballspiel einen<br />

Mehrwert für ihre Persönlichkeitsentwicklung,<br />

indem sie aktive und partizipierende<br />

Rollen einnehmen und den Fair-Play-<br />

Gedanken verinnerlichen. Grundgedanke<br />

dieser Methode ist, dass die Teilnehmenden<br />

die Regeln, nach denen sie spielen, selbst<br />

verabreden und Settings gemeinsam mit<br />

den Teamer*innen definieren. Im Spiel gibt<br />

es wie bereits erwähnt keine Schiedsrichter*innen.<br />

Stattdessen fungieren Teamer*innen<br />

als Vorbilder, mit Kommunikationskompetenzen,<br />

einer reflektierten Spielbeobachtung<br />

und Aufgaben der Streitschlichtung<br />

(vgl. Jäger, 2006, 8).<br />

Insgesamt zielt das Teamer*innen-Programm<br />

darauf ab, Lernerfahrungen in den<br />

Bereichen Toleranz, Respekt, interkulturelles<br />

Verständnis, Dialogfähigkeit, Konfliktfähigkeit,<br />

Teilhabe und die Übernahme von<br />

Verantwortung <strong>zu</strong> ermöglichen. Um die<br />

Rolle der Teamer*innen in die Gesellschaft<br />

<strong>zu</strong> übertragen und ein Umdenken in den<br />

Köpfen der vielfältigen Bevölkerungsgruppen<br />

<strong>zu</strong> bewirken, benötigt es <strong>zu</strong> allererst die<br />

Berücksichtigung und das Bewusstmachen<br />

der Rechte von Menschen, wertschätzende<br />

Ressourcenpflege und einen aufrichtigen,<br />

sozialen Rückhalt (vgl. Jäger, 2006, 4).<br />

5. Fazit<br />

Im Kontext des Fair Play Gedankens werden<br />

entscheidende Diversity & Disability<br />

Elemente auf die täglichen persönlichen<br />

und situationsbedingten Interaktionen be-<br />

4143


PROJEKT „KICK FORWARD“<br />

ziehungsorientiert erweitert. <strong>Inklusion</strong> benötigt<br />

Empathie und Nächstenliebe, sowie<br />

das Wohlwollen der Gesellschaft sich auf<br />

verantwortungsvolle und nachhaltige Weise<br />

im Leben <strong>zu</strong> begegnen. Erlebbar vermittelte<br />

spürbare Wahrnehmungen wie etwa Gesten,<br />

Berührungen oder die Begegnung der<br />

Blicke von Menschen, bringen eine tiefe,<br />

reichhaltige Innerlichkeit <strong>zu</strong>m Ausdruck,<br />

die im Gegensatz etwa <strong>zu</strong>r Sprache, höchstwahrscheinlich<br />

von jedem Menschen auf<br />

seine Weise wahrgenommen wird (vgl.<br />

Wolf, 2015, 4).<br />

„Die tragende Beziehung ist nicht leistungsorientiert<br />

und verlangt dem Einzelnen<br />

nicht Unmenschliches ab, sondern ist ganz<br />

im Gegenteil begründet im ureigensten<br />

Menschsein und dem Bedürfnis nach Bindung.“<br />

(Wolf, 2015, 4)<br />

Die Parallelen zwischen dem sozialen Projekt<br />

„Straßenfußball für Toleranz“ und der<br />

Disability & Diversity Studies zeigen sich<br />

in der Zielset<strong>zu</strong>ngen des Projektes und der<br />

Ausrichtung des Faches selbst. Ziel ist die<br />

<strong>Inklusion</strong> und die Teilhabe aller Menschen<br />

in der Gesellschaft, unabhängig von Geschlecht,<br />

Herkunft oder anderen Dimensionen<br />

von Diversität. Ein erster Schritt in<br />

diese Richtung wird – neben anderen Projekten<br />

– durch „Straßenfußball für Toleranz“<br />

gesetzt<br />

Quellen:<br />

Fairplay – Initiative für Vielfalt und Antidiskriminierung. Zugriff am 9.12.2016 unter http://www.fairplay.or.at/.<br />

Jäger, Uli (2006). KICK FORWARD. Straßenfußball für Toleranz. Handreichung für Jugendarbeit,<br />

Schule und Verein. Tübingen: Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V.<br />

Lützenkirchen, Hans Georg (2012). Teilhabe und Partizipation. Spielen und Verantwortung: Fußball für<br />

Toleranz. Vom Spiel <strong>zu</strong>r Teilhabe: Der Generationendialog. Zwei Modelle. Köln: Rheinflanke gGmbH.<br />

Wolf, Janine (2015). „<strong>Inklusion</strong> braucht tragende Beziehungen“ Die Bedeutung von <strong>Inklusion</strong> für die<br />

Kirchliche Arbeit. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Behinderung ohne Behinderte?! Perspektiven<br />

der Disability Studies“. Universität Hamburg. http://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/wolf19012015.pdf.<br />

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