heimat w 3828 fx - Hohenzollerischer Geschichtsverein eV
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den Horizont des Dorfes hinaus. Denn zwar konnte er den<br />
Leuten auf dem Dorf kleine alltägliche Dinge herstellen, aber<br />
was er eigentlich produzieren wollte, waren große, komplizierte<br />
und teure Geräte, wie Turmuhren oder Waagen. Dazu<br />
benötigte er zunächst einmal Geld, um die Rohstoffe und<br />
spezielle Maschinen anschaffen zu können. Er hatte Glück,<br />
denn Jungingen war gerade kurz zuvor preußisch geworden<br />
(1851), und die preußische Regierung versuchte die Armut<br />
der Bevölkerung im neuen Landesteil durch »Industrialisierung<br />
von oben« vergeblich zu lindern. Da kam dann die<br />
Eigeninitiative eines einheimischen Handwerkers mit<br />
zukunftsträchtigem Beruf gerade recht. Zweimal - 1856 und<br />
1866 - erhielten Ludwig Bosch und seine Brüder staatliche<br />
Finanzspritzen, so daß die Produktion in Schwung kam.<br />
Noch haben wir es mit einem Handwerksbetrieb zu tun;<br />
zwar sind schon manufakturartig mehrere Arbeiter beschäftigt,<br />
aber die eigentliche Stufe der industriellen Produktion ist<br />
erst erreicht, als 1882 Dampfkraft die Maschinen antreibt und<br />
so Serienproduktion für den Markt möglich wird.<br />
Wir finden in dieser Geschichte viele Bedingungen: neue<br />
technische Fertigkeiten, Initiative, Kapital, Arbeitskräfte, die<br />
gern bereit sind, den neuen Weg mitzugehen, Maschinenkraft,<br />
nicht zuletzt aber günstige politische und wirtschaftliche<br />
Rahmenbedingungen - erst dies alles zusammen<br />
genommen ergibt etwas nie zuvor in der Geschichte Dagewesenes:<br />
Industrie.<br />
Hinzu kommt bei den ersten Betriebsgründern wohl ein<br />
Blick über die Grenzen des Dorfes und über die Gegenwart<br />
hinaus. Ludwig Bosch hätte auch wie der Vater Schmied<br />
werden können, er hat aber wohl gespürt, daß darin keine<br />
Zukunft liegt. Oder, wenn wir an einen anderen Fabrikanten<br />
denken, Meinrad Bumiller, der 1873 die erste hohenzollerische<br />
Peitschenfabrik gründete, so ist es nicht unerheblich,<br />
daß er die Erfahrung industrieller Produktionsweise aus Prag<br />
mitbrachte: er hatte die Welt gesehen. Insgesamt mußte ein<br />
Denken entwickelt sein, das Max Weber den »Geist des<br />
Kapitalismus« genannt hat, d. h. ein Planen über den morgigen<br />
Tag hinaus, ein Denken in Kategorien von Einsatz und<br />
Gewinn, von Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Genauigkeit<br />
und ähnlichen bürgerlichen Tugenden.<br />
Nicht alle Menschen kamen mit diesem Denken einer neuen<br />
Zeit zurecht. Nach glaubhaften Erzählungen sind den Junginger<br />
Hausierern nach dem Ersten Weltkrieg Hunderttausende<br />
von Reichsmark in der Inflation kaputtgegangen. Diese<br />
Menschen lebten ein Lebenlang nach außen hin ärmlich,<br />
arbeitsam und bescheiden. Ihre Handelsgewinne, die sie von<br />
jeder Reise mitbrachten, ließen sie auf der Bank ruhen.<br />
Keiner kam auf die Idee, mit den anwachsenden Geldsummen<br />
etwa ein Handelshaus aufzubauen. Daß Geld >arbeiten<<br />
soll - so wie es Menschen tun -, war ihnen eine fremdartige<br />
Vorstellung. Und hunderttausend Mark im Sparstrumpf ist<br />
noch kein Kapital...<br />
Nicht nur die Hausierer, auch viele Handwerker waren nicht<br />
in der Lage, den Schritt in die neue Zeit mitzutun. Das<br />
Holzhandwerk gehörte zwar zum ältesten und breitgegliedersten<br />
im Dorf, aber dies scheint schon zu den Gründen zu<br />
zählen, weshalb von dieser Seite nicht viel zu erwarten war.<br />
Die Bumiller saßen seit 400 Jahren auf einer Sägemühle, die<br />
Speidel bereits mehr als 200 Jahre, und man erhält das Gefühl<br />
von einer gewissen Müdigkeit. Auch wenn auf der unteren<br />
Säge um die Jahrhundertwende noch ein Motor installiert<br />
wurde, einen Industriebetrieb wollten der Sägerseppel und<br />
der Spuntmattheis nicht errichten. Da hatte die »Dampfe«<br />
(Gebr. Riester, Möbelfabrik 1907), die aus einer jungen<br />
Schreinerei hervorging, doch etwas mehr Schwung. Oder<br />
denken wir an die Peitschenfabriken, so stellten sie zwar im<br />
ersten Drittel unseres Jahrhunderts einen auch überregional<br />
bedeutenden Industriezweig der Gemeinde dar, aber ein<br />
Mann wie L. Bosch, der ja schon 50 Jahre früher nicht ohne<br />
Grund kein Schmied mehr geworden war, hätte den Peitschenfabrikanten<br />
sagen können, daß ihre Produkte bald keine<br />
Abnehmer mehr haben würden. So war die kurze Blüte der<br />
Junginger Holzindustrie nur noch die Krone auf einem<br />
Holzgewerbe mit alter Tradition, aber ohne Zukunft.<br />
Die Zukunft gehörte neben der Metallverarbeitung der Textilbranche.<br />
Zwar wurde der erste Textilbetrieb von einem<br />
Drechsler, Bernhard Schuler, gegründet (1878), aber er war<br />
in seiner Jugend in der von der preußischen Regierung<br />
eingerichteten Webschule gewesen und hatte dort neue Techniken<br />
erworben. Und wohl auch das Wissen, daß aus Frankreich<br />
eine hochmoderne Textiltechnologie zu uns gekommen<br />
war. Viele Jahre nach der Lehre besann er sich darauf, und<br />
ließ, nachdem er zunächst zweigleisig gefahren war, seine<br />
Holzprodukte fallen, um nur noch Wirkwaren herzustellen.<br />
Eine seiner ersten Nähmaschinen können wir hier im<br />
Museum bewundern.<br />
Gehen wir zum Ausgangspunkt der industriellen Entwicklung<br />
zurück, der Armut unserer Bevölkerung, und fragen<br />
uns, was die damals einsetzende Industriealisierung gebracht<br />
hat, so können wir dies in Zahlen - etwa in Einkommenstabellen<br />
- nicht darstellen. Bezeichnend ist aber, daß schon um<br />
die Jahrhundertwende »Wohlhäbigkeit« »aus allen Fenstern<br />
schaut«, wie der Dichter Heinrich Hansjakob nach seiner<br />
Fahrt durch Jungingen schrieb. Zu dieser Wohlhabenheit<br />
trugen neben den Fabriken nicht unerheblich die z. T. großen<br />
Geldmassen der Hausierer bei, die mit ihrem Geld wenigstens<br />
manchen Sohn Lehrer werden ließen. Im Gegensatz zu<br />
den großstädtischen Industriezentren die erst einmal eine<br />
ungeheure Verelendung unter den besitzlosen Massen<br />
erzeugten, begann die Industrialisierung bei uns die bestehende<br />
Armut abzubauen. Zwar wurden auch hier Hungerlöhne<br />
gezahlt 4 , aber jede Familie hatte eine kleine Landwirtschaft,<br />
und wenn noch jemand aus dem Haushalt auf den<br />
Hausierhandel ging, dann war das wirtschaftliche Auskommen<br />
mehrfach gesichert. Aus dieser »Wohlhäbigkeit« entwickelte<br />
sich in Jungingen um die Jahrhundertwende ein<br />
selbstbewußtes, weltgewandtes, z. T. wohl auch schrulliges<br />
Kleinbürgertum, das sich z.B. in einem Leseverein liberale<br />
bürgerliche Gedanken aneignete, sich aber auch den Spott<br />
und den Neid der umliegenden Gemeinden zuzog.<br />
Hier sind wir an einem Punkt angelangt, wo wir wieder auf<br />
den Heimatbegriff zurückkommen können. Diesr Wandel in<br />
den Lebensgrundlagen und Lebensformen zwischen etwa<br />
1870 und 1930, der dem allgemeinen Zivilisationssprung ins<br />
technische Zeitalter entsprach, ließ in vielen ein Heimatgefühl<br />
entstehen, das von Natursehnsucht ganz deutlich<br />
geprägt war. Und es gab einen unter den Dorfbewohnern, der<br />
diese Bedürfnisse ausdrucken und in Verse fassen konnte: den<br />
Gastwirt Casimir Bumiller (1861-1930), dessen unzählige<br />
Heimatgedichte aus der Zeit zwischen 1880 und 1930 stammen,<br />
also gerade aus dem hier behandelten Zeitraum gesellschaftlichen<br />
Wandels. Die zunehmende Verlagerung der<br />
Arbeitsplätze vom Feld, wo man beweglich und frei war, in<br />
geschlossene Räume, wo man zehn Stunden gebunden war,<br />
erforderte einen Ausgleich, in dem die freie Natur unter dem<br />
weiten Himmel zur eigentlichen Heimat wurde.<br />
Unser kleines Museum ist in erster Linie diesem Zeitraum des<br />
Übergangs vom vorindustriellen Handwerk zur Industrie<br />
gewidmet. Natürlich sind darüber die archäologischen und<br />
archivalischen Dokumente zur Junginger Geschichte bis ins<br />
frühe Mittelalter zurück nicht vergessen worden. Bedeutsam<br />
ist dabei, daß dieses Museum die Lebensformen der Großund<br />
Urgroßeltern nicht zur >guten alten Zeit< verklärt, sondern<br />
ganz unromantisch - was nicht heißt: ohne eine gewisse<br />
anregende Ästhetik - Lebensbedingungen darstellt und die<br />
spezielle Antwort, die die Junginger seit hundert Jahren<br />
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