24.09.2017 Aufrufe

bull_01_01_Amerika

Credit Suisse bulletin, 2001/01

Credit Suisse bulletin, 2001/01

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

AMERIKA<br />

Gertrude Himmelfarb, US-Historikerin<br />

kitzelte die Begehrlichkeiten ihrer Leserinnen mit Reportagen<br />

über schicke US-Reisen und US-Lifestyle. Und wer sich den Flug<br />

nach New York oder Kalifornien nicht leisten konnte, katapultierte<br />

wenigstens das Sofa mit Sitzgarnitur auf den Müll und stellte<br />

eine Couch mit frei stehenden Sesseln in den Living Room.<br />

Helvetisches Interieur wurde auch in den Sechzigern von<br />

<strong>Amerika</strong> geprägt. Der Knoll-Look, Marmor, Teakholz, Chrom und<br />

wuchtiges schwarzes Leder, verdüsterte unsere Vorstandsetagen<br />

und die Salons wohlbetuchter Bürgerinnen und Bürger.<br />

Die Teenager stürzten sich auf Cola, das seit 1939 in der<br />

Schweiz abgefüllt wird, und nervten ihre Eltern mit Auftritten in<br />

hautengen Jeans. Und während die Schweizer Erziehungsberechtigten<br />

wider die Denim-Unsitte und die Konsumation amerikanischer<br />

Filme wetterten, demonstrierten die Saturierten unter<br />

ihnen ihre Distanz zur USA durch den Besitz amerikanischer<br />

Schlitten.<br />

Die Schweizerinnen, die ihr erstes Fernseherlebnis genossen,<br />

legten die Nachkriegs-Schnittmuster von Aenne Burda zum Altpapier.<br />

Sie orientierten sich am « amerikanischen » Outfit der<br />

Präsidentengattin Jacqueline Kennedy oder kopierten Hollywood-<br />

Schönheiten. Auch ihre Töchter blieben nicht unversehrt: Von<br />

Zürich bis Altdorf schüttelte Barbie ihr Blondhaar in den Regalen<br />

der Spielzeuggeschäfte. Mit höllischer Eleganz, einem unübersehbaren<br />

Busen und einem klitzekleinen Set rosaroter Carving<br />

Curlers wies die Plastik-<strong>Amerika</strong>nerin im Taschenformat<br />

unzähligen kleinen Schweizerinnen den Weg ins Land der Erwachsenen,<br />

propagierte Denver und Dallas einfach.<br />

Nachdem <strong>Amerika</strong> die helvetischen Bleiben, Dresscode und<br />

Lifestyle unserer Mädchen und Frauen besetzt hatte, arbeitete<br />

sich die US-Kultur weiter vor. Die Gärten in den Villenquartieren<br />

wurden durch einen Swimmingpool bereichert. Man traf sich<br />

nicht mehr länger zum Grillabend, sondern zum Barbecue, und die<br />

Kader der Wirtschaft tätigten ihre Geschäfte im Steak House.<br />

Und die US-Delikatessen wurden prompt demokratisiert: In<br />

den Siebziger- und Achtzigerjahren machte McDonald’s die amerikanische<br />

Esskultur für alle zugänglich. Gleichzeitig stellten die<br />

Computer, in <strong>Amerika</strong> entwickelt, die Arbeitswelt auf den Kopf<br />

und boten peu à peu Möglichkeiten zur privaten Nutzung. <strong>Amerika</strong><br />

ging ans Netz, und praktisch alle alpenländischen Berufsgruppen<br />

zogen mit. Das Internet prägt nicht nur unsern Arbeitsalltag,<br />

es ist Bestandteil unseres Privatlebens geworden. Im<br />

Netz holen sich Zehnjährige die erste Lektion Frühenglisch,<br />

während die Politik Grundsätzliches debattiert. Im Netz werden<br />

Blind Dates ausgemacht und Surfbretter geordert.<br />

Klar, dass helvetische Kulturmenschen die totale <strong>Amerika</strong>nisierung<br />

der Freizeit befürchten. A.K. klagt am 8. August des letzten<br />

Jahres in den Leserbriefspalten der « NZZ »: « Immer mehr<br />

Menschen ergeben sich nach getaner Arbeit dem teuren Spiel<br />

der wohl organisierten Selbst- und Masseninszenierung – statt<br />

über Gott und die Welt zu räsonieren, Politik zu betreiben,<br />

Bücher zu lesen oder Freundschaften zu pflegen.» Eine neue<br />

« <strong>Amerika</strong> hat Erfolg,<br />

weil es sittsamer als Europa ist.»<br />

Brille kaufen, A.K. We have no cola-colonization. Im Gegenteil:<br />

Es mag sein, dass sich unsere Mütter und Grossmütter die Nylons<br />

nicht immer merkantil korrekt erstanden haben. Aber die<br />

wenigsten von ihnen sind den USA anheimgefallen.<br />

Sie haben die Nylons eingeheimst, und heute steht jede<br />

Trachtenfrau und AUNS-Aktivistin in Nylons fest auf Heimatboden.<br />

Wir tragen Jeans und kaufen trotzdem bei Armani und<br />

Charles Vögele. Und Barbie hat keine einzige Schweizerin davon<br />

abgehalten, für gleiche Rechte auf die Strasse zu gehen.<br />

Wir hören Jazz und Rock und haben weder Bach noch Alphorntöne<br />

aufgegeben.<br />

In den helvetischen Kühlschränken steht die Cola neben der<br />

biologischen Milch. Wer heute Burger isst, geht am nächsten Tag<br />

an den Bratwurststand.<br />

Während ein Teil der Schweizerinnen und Schweizer in den<br />

Ferien Disneyland geniessen, erwandern sich andere ohne Imageeinbusse<br />

das Tessin.<br />

Wenn schweizerische Grosskonzerne englische Kommunikation<br />

verordnen, geht dadurch die deutsche Kultursprache noch<br />

lange nicht unter.<br />

Und wer Hast, Hektik, Ellbögeleien und den Triumph des Trivialen<br />

auf helvetischem Terrain dem grossen Bruder hinter dem<br />

grossen Teich in die Schuhe schieben will, entzieht sich feige der<br />

Realität im schweizerischen Hier und Jetzt. Seit dem Zweiten<br />

Weltkrieg hat sich die Welt auf phänomenale Weise für breite<br />

Bevölkerungsschichten eröffnet, und vieles ist bedrohlich<br />

zugänglich, bedrohlich unsinnlich und bedrohlich schneller geworden.<br />

Die Warnerinnen und Warner, die uns zurück zu Scholle und<br />

heimischer Kultur peitschen wollen, haben durchaus ihr Pendant<br />

im « Land der unbegrenzten Möglichkeiten ». Richard Pells, Historiker<br />

an der University of Texas, erläutert in seinem Buch « Not<br />

Like Us », wie <strong>Amerika</strong> seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />

von westeuropäischer Hinwendung und Antiamerikanismus<br />

geprägt worden sei. Während die amerikanische Kultur kaum<br />

Spuren in Westeuropa setze, argumentiert Pells, werde sie nicht<br />

nur von ihren eigenen europäischen Ursprüngen eingeholt, sie<br />

werde im Innern wie im Ausland auch nach abendländischen<br />

Kriterien beurteilt. Während Richard Pells auf gesetzte Weise<br />

seine These vorlegt, verschreiben sich andere Autorinnen und<br />

Autoren ungebremster Polemik. Die Historikerin Gertrude Himmelfarb<br />

etwa verschreit unter dem Titel « One Nation, Two Cultures<br />

» die europäische Sexualmoral, sprich Promiskuität. <strong>Amerika</strong>s<br />

Erfolg beruhe darauf, argumentiert Himmelfarb, sittsamer<br />

als Europa zu sein, und warnt vehement vor dem zersetzenden<br />

Einfluss europäischer Kolonialisierung.<br />

30 Credit Suisse Bulletin 1|<strong>01</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!