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Credit Suisse bulletin, 2001/01
Credit Suisse bulletin, 2001/01
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AMERIKA<br />
Gertrude Himmelfarb, US-Historikerin<br />
kitzelte die Begehrlichkeiten ihrer Leserinnen mit Reportagen<br />
über schicke US-Reisen und US-Lifestyle. Und wer sich den Flug<br />
nach New York oder Kalifornien nicht leisten konnte, katapultierte<br />
wenigstens das Sofa mit Sitzgarnitur auf den Müll und stellte<br />
eine Couch mit frei stehenden Sesseln in den Living Room.<br />
Helvetisches Interieur wurde auch in den Sechzigern von<br />
<strong>Amerika</strong> geprägt. Der Knoll-Look, Marmor, Teakholz, Chrom und<br />
wuchtiges schwarzes Leder, verdüsterte unsere Vorstandsetagen<br />
und die Salons wohlbetuchter Bürgerinnen und Bürger.<br />
Die Teenager stürzten sich auf Cola, das seit 1939 in der<br />
Schweiz abgefüllt wird, und nervten ihre Eltern mit Auftritten in<br />
hautengen Jeans. Und während die Schweizer Erziehungsberechtigten<br />
wider die Denim-Unsitte und die Konsumation amerikanischer<br />
Filme wetterten, demonstrierten die Saturierten unter<br />
ihnen ihre Distanz zur USA durch den Besitz amerikanischer<br />
Schlitten.<br />
Die Schweizerinnen, die ihr erstes Fernseherlebnis genossen,<br />
legten die Nachkriegs-Schnittmuster von Aenne Burda zum Altpapier.<br />
Sie orientierten sich am « amerikanischen » Outfit der<br />
Präsidentengattin Jacqueline Kennedy oder kopierten Hollywood-<br />
Schönheiten. Auch ihre Töchter blieben nicht unversehrt: Von<br />
Zürich bis Altdorf schüttelte Barbie ihr Blondhaar in den Regalen<br />
der Spielzeuggeschäfte. Mit höllischer Eleganz, einem unübersehbaren<br />
Busen und einem klitzekleinen Set rosaroter Carving<br />
Curlers wies die Plastik-<strong>Amerika</strong>nerin im Taschenformat<br />
unzähligen kleinen Schweizerinnen den Weg ins Land der Erwachsenen,<br />
propagierte Denver und Dallas einfach.<br />
Nachdem <strong>Amerika</strong> die helvetischen Bleiben, Dresscode und<br />
Lifestyle unserer Mädchen und Frauen besetzt hatte, arbeitete<br />
sich die US-Kultur weiter vor. Die Gärten in den Villenquartieren<br />
wurden durch einen Swimmingpool bereichert. Man traf sich<br />
nicht mehr länger zum Grillabend, sondern zum Barbecue, und die<br />
Kader der Wirtschaft tätigten ihre Geschäfte im Steak House.<br />
Und die US-Delikatessen wurden prompt demokratisiert: In<br />
den Siebziger- und Achtzigerjahren machte McDonald’s die amerikanische<br />
Esskultur für alle zugänglich. Gleichzeitig stellten die<br />
Computer, in <strong>Amerika</strong> entwickelt, die Arbeitswelt auf den Kopf<br />
und boten peu à peu Möglichkeiten zur privaten Nutzung. <strong>Amerika</strong><br />
ging ans Netz, und praktisch alle alpenländischen Berufsgruppen<br />
zogen mit. Das Internet prägt nicht nur unsern Arbeitsalltag,<br />
es ist Bestandteil unseres Privatlebens geworden. Im<br />
Netz holen sich Zehnjährige die erste Lektion Frühenglisch,<br />
während die Politik Grundsätzliches debattiert. Im Netz werden<br />
Blind Dates ausgemacht und Surfbretter geordert.<br />
Klar, dass helvetische Kulturmenschen die totale <strong>Amerika</strong>nisierung<br />
der Freizeit befürchten. A.K. klagt am 8. August des letzten<br />
Jahres in den Leserbriefspalten der « NZZ »: « Immer mehr<br />
Menschen ergeben sich nach getaner Arbeit dem teuren Spiel<br />
der wohl organisierten Selbst- und Masseninszenierung – statt<br />
über Gott und die Welt zu räsonieren, Politik zu betreiben,<br />
Bücher zu lesen oder Freundschaften zu pflegen.» Eine neue<br />
« <strong>Amerika</strong> hat Erfolg,<br />
weil es sittsamer als Europa ist.»<br />
Brille kaufen, A.K. We have no cola-colonization. Im Gegenteil:<br />
Es mag sein, dass sich unsere Mütter und Grossmütter die Nylons<br />
nicht immer merkantil korrekt erstanden haben. Aber die<br />
wenigsten von ihnen sind den USA anheimgefallen.<br />
Sie haben die Nylons eingeheimst, und heute steht jede<br />
Trachtenfrau und AUNS-Aktivistin in Nylons fest auf Heimatboden.<br />
Wir tragen Jeans und kaufen trotzdem bei Armani und<br />
Charles Vögele. Und Barbie hat keine einzige Schweizerin davon<br />
abgehalten, für gleiche Rechte auf die Strasse zu gehen.<br />
Wir hören Jazz und Rock und haben weder Bach noch Alphorntöne<br />
aufgegeben.<br />
In den helvetischen Kühlschränken steht die Cola neben der<br />
biologischen Milch. Wer heute Burger isst, geht am nächsten Tag<br />
an den Bratwurststand.<br />
Während ein Teil der Schweizerinnen und Schweizer in den<br />
Ferien Disneyland geniessen, erwandern sich andere ohne Imageeinbusse<br />
das Tessin.<br />
Wenn schweizerische Grosskonzerne englische Kommunikation<br />
verordnen, geht dadurch die deutsche Kultursprache noch<br />
lange nicht unter.<br />
Und wer Hast, Hektik, Ellbögeleien und den Triumph des Trivialen<br />
auf helvetischem Terrain dem grossen Bruder hinter dem<br />
grossen Teich in die Schuhe schieben will, entzieht sich feige der<br />
Realität im schweizerischen Hier und Jetzt. Seit dem Zweiten<br />
Weltkrieg hat sich die Welt auf phänomenale Weise für breite<br />
Bevölkerungsschichten eröffnet, und vieles ist bedrohlich<br />
zugänglich, bedrohlich unsinnlich und bedrohlich schneller geworden.<br />
Die Warnerinnen und Warner, die uns zurück zu Scholle und<br />
heimischer Kultur peitschen wollen, haben durchaus ihr Pendant<br />
im « Land der unbegrenzten Möglichkeiten ». Richard Pells, Historiker<br />
an der University of Texas, erläutert in seinem Buch « Not<br />
Like Us », wie <strong>Amerika</strong> seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />
von westeuropäischer Hinwendung und Antiamerikanismus<br />
geprägt worden sei. Während die amerikanische Kultur kaum<br />
Spuren in Westeuropa setze, argumentiert Pells, werde sie nicht<br />
nur von ihren eigenen europäischen Ursprüngen eingeholt, sie<br />
werde im Innern wie im Ausland auch nach abendländischen<br />
Kriterien beurteilt. Während Richard Pells auf gesetzte Weise<br />
seine These vorlegt, verschreiben sich andere Autorinnen und<br />
Autoren ungebremster Polemik. Die Historikerin Gertrude Himmelfarb<br />
etwa verschreit unter dem Titel « One Nation, Two Cultures<br />
» die europäische Sexualmoral, sprich Promiskuität. <strong>Amerika</strong>s<br />
Erfolg beruhe darauf, argumentiert Himmelfarb, sittsamer<br />
als Europa zu sein, und warnt vehement vor dem zersetzenden<br />
Einfluss europäischer Kolonialisierung.<br />
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