Materialsammlung - Theater Marburg
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auswischte. Den Kripobeamten, die sie später verhörten, sagte sie: »Ja, wahrscheinlich war ich<br />
das« und konnte es doch nicht fassen.<br />
Als das Gericht Nicole Westermann einige Monate später wegen Kindestötung zu viereinhalb<br />
Jahren Haft verurteilte, ging ein Murren durch die Zuschauerreihen. »Mit der sollte man das<br />
machen, was sie mit ihrem Kind tat«, flüsterte eine ältere Frau, und ein Mann auf dem Gerichtsflur<br />
forderte, endlich härter gegen »Mördermütter« durchzugreifen. Reaktionen, die bei Kindestötungsprozessen<br />
keine Seltenheit sind.<br />
Kaum eine Straftat schürt den Zorn der Bürger mehr als das Verbrechen, das im Volksmund<br />
»Kindesmord« genannt wird, und nach jedem spektakulären Fall wird der Ruf nach Vergeltung<br />
lauter. Das Meinungsforschungsinstitut Emnid ermittelte, dass 55 Prozent der Deutschen für<br />
Kindesmörder die Todesstrafe wieder einführen wollen. [...]<br />
Warum töten in diesem Land immer noch Mütter ihre Kinder. Denn mit dem Ausbau des<br />
Sozialstaates und der Liberalisierung der Gesellschaft sind die Gründe weggefallen, die Mütter<br />
jahrhundertelang zur Tötung ihres Nachwuchses veranlassten: Schande und Verarmung.<br />
Und dennoch geschieht es wie ehedem. Es gibt Mütter, die ihre Kinder zu Tode stechen, würgen,<br />
vernachlässigen oder prügeln. Warum?<br />
»Was sich nicht erklären lässt, wird in der Bevölkerung umso größeren Schrecken auslösen«,<br />
fürchteten Kriminologen in den Sechzigern, und so begann die Wissenschaft, nach den Motiven der<br />
»neuen Kindesmörderinnen« zu suchen. […] Zumindest eine Erkenntnis einte die Experten: dass<br />
die meisten Täterinnen nicht egoistisch und planvoll handelten und dass nur selten »niedrige<br />
Beweggründe«, also Habgier, Grausamkeit oder Heimtücke, die eine Kindestötung zum Mord<br />
machen würden, eine Rolle spielten. Fast alle befänden sich in einer psychischen Notlage. Und so<br />
geschah es, dass die Frauen, die zuvor als grausame Verbrecherinnen verdammt wurden, mehr und<br />
mehr als Opfer erschienen. Richter erkannten den Frauen regelmäßig verminderte Schuldfähigkeit<br />
zu, verurteilten fast nie wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags oder Körperverletzung mit<br />
Todesfolge - und schickten kaum eine Täterin länger als fünf Jahre hinter Gitter. [...]<br />
Das Verständnis freilich wuchs schneller als das Verstehen. Zu unübersichtlich, zu vielschichtig<br />
waren die gesellschaftlichen Verhältnisse geworden, als dass sich aus ihnen, wie zu Zeiten der<br />
Klassengesellschaft, eine alles erklärende These für die Kindestötung herausdestillieren ließe. Die<br />
Täterinnen, so zeigten bald empirische Studien, kamen aus allen gesellschaftlichen Gruppen und<br />
Schichten. So unterschiedlich wie ihr soziales Umfeld schienen auch ihre Motive zu sein.<br />
Und doch glauben Kriminologen und Forensiker heute mit einiger Wahrscheinlichkeit einschätzen<br />
zu können, warum eine Frau ihr Kind getötet hat - zumindest dann, wenn sie die Art der<br />
Tatausführung kennen. Denn Langzeitstudien ergaben: Täterinnen, deren Art der Tatausführung<br />
sich gleicht, haben jeweils auch eine ähnliche Vorgeschichte und plagen sich mit ähnlichen<br />
Defiziten und Problemen. Sie töten aus einer ähnlichen Veranlassung heraus.<br />
Wer aber sind diese Frauen? Was treibt sie dazu, das Geschöpf, das ihnen näher sein müsste als<br />
jedes andere auf der Welt, zu töten? Wie kann eine 21-Jährige nicht erkennen, dass sie schwanger<br />
ist, und ihr Baby dann mit einem Schlauch erdrosseln? Wie kann eine Frau, die geliebt wird von<br />
ihrem Mann, ihren zweijährigen Sohn erstechen? Wie kann eine Mutter, umgeben von Sozialämtern,<br />
ihren fünf Monate alten Sohn in seinem Bett verhungern lassen?<br />
Wer diese Frauen besucht in ihren Gefängnissen und zuhört, wie sie von der Tat erzählen, findet<br />
nicht die Monster, als die Schlagzeilenmacher sie abbilden. Stattdessen Mütter, die selber noch<br />
versuchen, die Person zu entschlüsseln, als die sie in den Akten vermerkt sind.<br />
Der Säugling, auf dessen Grabstein »Dominik Westermann« steht, wurde etwa 20 Minuten alt. Als er<br />
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