Materialsammlung - Theater Marburg
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Mamma Medea<br />
von Tom Lanyoe<br />
<strong>Materialsammlung</strong><br />
Spielzeit 2012/13<br />
1
INHALT<br />
1. ZUM AUTOR<br />
Die Menschen werden immer an Orten leben, und sie<br />
werden sich immer lieben, aber das ändert nichts<br />
daran, dass Leben und Lieben höchst variable kulturelle<br />
Formen sind.<br />
Joshua Meyrowitz<br />
Tom Emiel Geradine Aloïs Lanoye 3<br />
2. DER MEDEA MYTHOS<br />
a) Hintergründe zum Medea Mythos<br />
• Michael Grant, John Warte (2009): Die Argonauten 4<br />
b) Die Rezeption des Medea Mythos<br />
• Ernst Schumacher (1997): Medea kann nicht Sterben 10<br />
• H. A. Glaser (2001): War Euripides bestechlich? 13<br />
c) Bearbeitungen des Medea-Stoffes<br />
• Friedrich Nietzsche (1858): Iason und Medea 14<br />
• Bertold Brecht (1934): Die Medea von Lodz 16<br />
• Helga Novak (1985): Brief an Medea 17<br />
3. WEITERFÜHRENDE TEXTE<br />
a) Bunraku<br />
• Heinz-Dieter Reese (1983): Musikalische Vortragsgestaltung im<br />
japanischen Puppentheater Bunraku 18<br />
b) Mütter als Mörderinnen<br />
• Merle Hilbk (1999): Da hauste ein Monster in mir 21<br />
c) Patchworkfamilien<br />
• Petra Stinberger (2010): Die Liebeslüge – Die Probleme von Patchworkfamilien 26<br />
d) Der/Die/Das Fremde<br />
• Karl Valentin (1940): Die Fremden 29<br />
INSZENIERUNGSFOTOS: Ramon Haindl<br />
Titel: Martin Maecker; S. 4: Shan-Li Peng, Serena Nüsing, Charles Toulouse, Martin Maecker, Ogün Derendeli (v.l.n.r.);<br />
S. 9: Sonka Vogt, Martin Maecker; S. 13: Ogün Derendeli, Sonka Vogt, Charles Toulouse; S. 18: Lea Spahn, Lena Milch,<br />
Charles Toulouse, Martin Maecker, Ogün Derendeli (v.l.n.r.); S.21: Martin Maecker, Shawn Lange, Sonka Vogt; S. 29:<br />
Ogün Derendeli, Martin Maecker, Charles Toulouse<br />
2
1. ZUM AUTOR<br />
Tom Emiel Geradine Aloïs Lanoye<br />
(*Sint-Niklaas, 27. August 1958) ist ein flämischer Schriftsteller. Er lebt und arbeitet in Antwerpen<br />
und Kapstadt. Er zählt zu den vielseitigsten und am häufigsten ausgezeichneten Autoren seiner<br />
Generation, auch außerhalb des flämischen Sprachgebiets. Es besteht kaum ein Genre, in dem er<br />
nicht wenigstens ein bedeutendes Werk geschrieben hat, ob es sich nun um Romane, Poesie,<br />
Kolumnen, Essays, Kurzgeschichten oder <strong>Theater</strong> handeln möge.<br />
1985 erschien sein Prosadebüt Een slagerszoon met een brilletje (Metzgersohn mit schriller Brille).<br />
Andere Höhepunkte seines Oeuvres sind der melancholische Roman Kartonnen dozen (1991,<br />
Pappschachteln), sowie Het Goddelijke Monster (1997, Das göttliche Monster), das gemeinsam mit<br />
Zwarte tranen (1999, Schwarze Tränen) und Boze tongen (2002, Böse Zungen) die letzte Trilogie<br />
über das zerfallende Herz von Europa – Belgien – bildet. Diese Trilogie wird in Kürze vom flämischen<br />
öffentlichen Sender Eén als zehnteilige Fernsehserie verfilmt. 2007 wurde er für seinen Roman Het<br />
derde huwelijk (Die dritte Ehe) für De Gouden Uil und den Libris Literatuur Prijs nominiert. Im<br />
gleichen Jahr gewann er in den Niederlanden die Gouden Ganzenveer für sein Oeuvre.<br />
Ende 2009 erschien sein seit langem erwartete Roman Sprakeloos (Sprachlos), der vom Tod seiner<br />
Mutter - einer Amateurschauspielerin – handelt, die nach einem Schlaganfall die Sprache verliert.<br />
Sprakeloos lässt sich als unerwartete Fortsetzung – achtzehn Jahre danach – der ebenfalls<br />
autobiografischen Kartonnen dozen lesen. Der Roman wurde mit viel Lob aufgenommen. Laut<br />
Tageszeitung De Standaard ist Lanoye ein Schriftsteller »auf dem Gipfel seines Könnens«, De<br />
Morgen spricht von einem »herzzerreißenden und heiteren« Buch, während De Tijd den Roman<br />
»mühelos neben die besten von Claus und Boon« stellt. Sprakeloos ist nominiert für De Gouden Uil<br />
und den Libris Literatuur Prijs.<br />
Nach dem Erfolg von Ten Oorlog! (1997, Schlachten!) – eine zwölf Stunden dauernde Bearbeitung in<br />
Versen von acht Shakespeare-Stücken – wuchs er auch in Deutschland zu einem der meistgefragten<br />
Autoren des modernen Dramas heran. Seine Arbeiten wurden in mehr als zehn Sprachen<br />
veröffentlicht und aufgeführt; international mehrfach inszenierten Bühnenstücken wie Fort Europa,<br />
Mamma Medea (frei nach Euripides), Mefisto for ever (frei nach Klaus Mann) und Atropa. De wraak<br />
van de vrede (Atropa. Die Rache des Friedens, frei nach Euripides, Aischylos, George Bush, Donald<br />
Rumsfeld und Curzio Malaparte). Die beiden letzten Stücke bilden den Beginn und den Abschluss<br />
von De triptiek van de macht (Tryptichon der Macht) des Regisseurs Guy Cassiers. Sie wurden in<br />
dessen Inszenierung beide zum Festival d’Avignon eingeladen, wo sie zu den Aufmachern zählten.<br />
Lanoye ist auch bekannt für die lebendige und theatralische Art, in der er sein eigenes Schaffen<br />
‘performt’, indem er mit seinen ‘literarischen Shows’ von <strong>Theater</strong> zu <strong>Theater</strong> tourt, als ginge es eher<br />
um <strong>Theater</strong>monologe als um Lesungen.<br />
2005 endete er als Nr. 84 in der flämischen Fassung von ‚De Grootste Belg‘ („der größte Belgier“).<br />
Tom Lanoye wuchs vom enfant terrible zum festen Wert heran für alle Formen von Texten und<br />
Schriften, sowohl von Büchern, Zeitungen, Zeitschriften und anderen Druckschriften, für<br />
<strong>Theater</strong>aufführungen, Kabarett- und Gesangsvorstellungen, dies alles in unzähligen Formen und<br />
im weitesten Sinne des Wortes (Zitat aus der Satzung der 1992 gegründeten Aktiengesellschaft<br />
L.A.N.O.Y.E.).<br />
http://www.lanoye.be/tom/bio-d Stand 10.10.2012<br />
3
2. DER MEDEA MYTHOS<br />
a) Hintergründe zum Medea Mythos<br />
Michael Grant, John Warte (2009)<br />
Die Argonauten<br />
Auszug aus: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. Berlin: Ullstein Buchverlag.<br />
Gruppe von Helden, die an Jasons Suche nach dem Goldenen Vlies auf der >Argo< teilnahmen. Das<br />
Unternehmen, über das es viele verschiedene Berichte gibt, ist in der Darstellung des griechischen<br />
Dichters Apollonios von Rhodos am bekanntesten, doch gibt es auch noch Überlieferungen von<br />
Homer und Pindar. Jasons Vater Aison war rechtmäßiger König über Iolkos in Thessalien, doch<br />
wurde ihm der Thron von seinem Halbbruder Pelias geraubt. Er lebte weiter im Lande, schickte aber<br />
- nach einem Scheinbegräbnis - seinen kleinen Sohn dem Kentauren Chiron zur Erziehung, weil er<br />
fürchtete, Pelias könnte ihm nach dem Leben trachten. Pelias war geweissagt worden, er würde von<br />
jenem Nachkommen des Aiolos getötet, der nur mit einer Sandale zu ihm kommen werde. Als<br />
Jason in das Mannesalter gekommen war, beschloß er, nach Iolkos zu gehen und den Thron<br />
zurückzufordern. Er kam an, als Pelias gerade seinem Vater Poseidon opferte. Nun hegte Hera Groll<br />
gegen Pelias, und so stellte sie Jason auf seinem Weg nach Iolkos auf die Probe, indem sie ihm als<br />
altes Weib erschien, das über einen reißenden Fluß getragen werden wollte. Obwohl er es eilig<br />
hatte, um rechtzeitig zum Opfer in Iolkos zu sein, war Jason dazu bereit und verlor im Strom eine<br />
Sandale. Nachdem er sie am anderen Ufer abgesetzt hatte, sah Jason die Alte nie wieder und<br />
erfuhr nicht, daß es Hera gewesen war.<br />
In Iolkos kam er auf dem Marktplatz an und fragte nach Pelias. Man meldete dem König, daß ein<br />
Jüngling mit einem bloßen Fuß ihn zu sehen wünsche. Pelias fuhr zum Marktplatz und erkannte,<br />
4
daß das Orakel in Erfüllung gegangen war - Jason sagte ihm sogar ganz offen, wer er war und<br />
warum er gekommen sei. Da er das Fest nicht mit dem Blut seines Neffen entweihen wollte, lud<br />
Pelias Jason in den Palast und sagte, er würde den Thron bekommen, müßte aber zuerst<br />
versprechen, eine Aufgabe auszuführen. Jason willigte ein, und Pelias verlangte, er solle ihm das<br />
Goldene Vlies bringen; denn er glaubte, das sei ganz unmöglich und Jason würde dabei<br />
umkommen. Dieses Vlies war das Fell eines Widders, auf dem Phrixos, um den mörderischen<br />
Ränken seiner Stiefmutter Ino zu entgehen, aus dem böotischen Orchomenos nach Kolchis<br />
geflohen war.<br />
Nachdem Phrixos nach Kolchis gekommen war, einem Land am anderen Ende des Schwarzen<br />
Meeres, wurde das Vlies im Hain des Ares aufgehängt und von einer riesigen Schlange bewacht, die<br />
niemals schlief. Es gab eine Überlieferung, daß dem Aietes, dem grausamen König von Kolchis,<br />
prophezeit worden sei, er werde nur so lange regieren, wie das Vlies vorhanden sei, oder er werde<br />
von der Hand eines Fremden fallen; und so gab er zwar Phrixos seine Tochter zur Frau, brachte ihn<br />
aber später um.<br />
Jason jedoch befragte das Delphische Orakel über seine Erfolgsaussichten und erhielt eine<br />
günstige Antwort. Hera stand ihm während der ganzen Fahrt mit ihrer Hilfe bei und ermutigte eine<br />
stattliche Schar junger Männer, mit ihm zu gehen. Ursprünglich müssen die Helden Thessalier<br />
gewesen sein (Apollonios nennt sie »Minyer«, ein Name, der mit Orchomenos in Nordböotien<br />
verknüpft ist), doch die spätere Überlieferung nennt auch Herakles und andere Fremde. In Listen<br />
unterschiedlicher Lesart spiegelt sich das Bestreben verschiedener griechischer Städte wider, ihre<br />
Lokalheroen durch Einreihung unter die Argonauten aufzuwerten. Allgemein bekannte Namen sind<br />
der Sänger Orpheus, Zetes und Kalais (die geflügelten Söhne des Boreas) Peleus, Telamon, Kastor<br />
und Polydeukes (die Dioskuren), Idas, Lynkeus, der einen übermenschlich scharfen Blick hatte,<br />
Tiphys der Steuermann, Argos, der Erbauer des Schiffes, Admetos von Pherai, Augias und<br />
Periklymenos. Viele der Helden besaßen eine bestimmte Tugend oder Eigenschaft: Jason verstand<br />
es mit Frauen umzugehen, und die Zuneigung, die Medea zu ihm spürte, bewies es; das zweite<br />
Gesicht des Mopsos 1 half, die Göttin Kybele zu versöhnen; Herakles rettete sie mit seiner großen<br />
Kraft vor den Riesen von Arktonnesos (Bäreninsel); Polydeukcs schlug Amykos im Faustkampf; und<br />
Kaiais und Zetes vertrieben die Harpyien.<br />
Die »Argo« soll von Argos mit Hilfe Athenes gebaut worden sein, die Bugfigur war ein Zweig von der<br />
tönenden Eiche des Zeus in Dodona: ein prophetischer Balken als besonderes Geschenk Athenes.<br />
Das Schiff segelte mit einer Bemannung von sechsundvierzig Mann, von denen vierundvierzig<br />
paarweise ruderten, während Orpheus am Bug saß, die Wellen mit seinem Gesang besänftigte und<br />
den Ruderern den Takt angab, und Tiphys am Heck das Steuer führte. Apollon und Athene<br />
schützten das Fahrzeug, und vor der Ausfahrt opferte die Mannschaft dem Apollon. Im letzten<br />
Augenblick kam auch noch Pelias' Sohn Akastos zu ihnen.<br />
Zuerst landeten die Argonauten in Lemnos. Aphrodite hatte die Frauen der Insel mit einem<br />
abscheulichen Geruch geschlagen, so daß ihre Gatten geflohen waren. Die verlassenen Frauen<br />
hatten daraufhin die Männer ermordet, die bei ihnen übrig geblieben waren, und auch alles andere<br />
männlichen Geschlechts auf der Insel getötet. Ihre Königin Hypsipyle hieß Jason willkommen.<br />
Aphrodite heilte auf Fürsprache Hephaistos' die Frauen von ihrem Übel, und in der Folgezeit wurde<br />
Lemnos von den Nachfahren der Argonauten bevölkert; es heißt, die Argonauten seien dort ein<br />
volles Jahr geblieben. Nach dem Einlaufen in Samothrake segelten die Argonauten durch den<br />
Hellespont (der nach Phrixos' Schwester Helle benannt ist, die von dem Goldenen Widder<br />
herabgefallen war) in die Propontis oder das Marmarameer. Hier legten sie in Arktonnesos<br />
(Bäreninsel) an, das durch einen Isthmus mit dem Festland verbunden war. Der König der Dolionen,<br />
Kyzikos, nahm sie herzlich auf, doch griffen sechsarmige Erdgiganten, die Gegeneis (Erdgeborene)<br />
hießen, das Schiff an, während die Besatzung nicht anwesend war. Herakles jedoch verblieb auf der<br />
Wache, tötete die Riesen und schichtete sie am Strand übereinander auf.<br />
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Dann stachen die Argonauten wieder in See, nachdem ihnen Kyzikos Anweisungen über die weitere<br />
Reise gegeben hatte. Etwas später am selben Tag blies sie der Wind zurück. Sie setzten das Schiff<br />
am Strand auf und machten ein Lager; doch mußten sie während der Nacht einen Überfall der<br />
Einheimischen abwehren. Am Morgen entdeckten sie, daß es Dolionen waren, die sie angegriffen<br />
hatten, und daß Kyzikos unter den Gefallenen war! Sein Begräbnis wurde ehrenvoll begangen, doch<br />
seine Frau Kleite erhängte sich aus Gram. Stürme hinderten die >Argo< an der Weiterfahrt, und<br />
Mopsos, der über prophetische Gaben verfügte, sagte, die phrygische Gottheit Kybele, die auf dem<br />
Berg Dindymon wohnte, müsse erst versöhnt werden. Die Argonauten zogen zu ihrem Heiligtum,<br />
das unter freiem Himmel auf dem Berg stand, und umtanzten ihr Bild, wobei sie die Waffen<br />
gegeneinanderschlugen wie die Korybanten, die in Kybeles Gefolge waren.<br />
Als die »Argo« Bithynien erreichte, brach Herakles das Ruder, und die Argonauten landeten. Die<br />
Bevölkerung nahm sie freundlich auf. Während Herakles ein neues Ruder zimmerte, begab sich der<br />
junge Hylas, den er liebte, zum Wasserholen zu einem Brunnen; doch die Nymphen dieses<br />
Brunnens waren von seiner Schönheit so berückt, daß sie ihn ins Wasser zogen. Herakles war über<br />
den Verlust bestürzt und durchstreifte, nach Hylas rufend, die Wälder. Schließlich segelte die<br />
»Argo« ohne die beiden weiter.<br />
Als man feststellte, daß Herakles zurückgeblieben war, entstieg der Meeresgott Glaukos den<br />
Fluten, und verkündete, daß der Held nach Griechenland zurückkehren mußte, um seine Arbeiten<br />
zu vollenden. Auch Polyphemos war zurückgeblieben, weil er Hylas rufen gehört und ihm zu Hilfe<br />
geeilt war. Später gründete er an jener Stelle die Stadt Krios. Bevor Herakles fortging, trug er den<br />
Einheimischen auf, die Suche nach Hylas auch nach seiner Abreise fortzusetzen.<br />
Als nächstes legte die »Argo« bei den Bebrykern an, deren König Amykos alle Fremden zu einem<br />
Faustkampf aufzufordern und dabei zu töten pflegte. Die Argonauten waren über diese Gewohnheit<br />
empört, und der Faustkämpfer Polydeukes zerschmetterte Amykos' Schädel mit einem Schlag<br />
hinter das Ohr. Als die Bebryker ihren toten König erblickten, stürzten sie sich auf die Argonauten,<br />
wurden aber ohne Mühe zurückgeschlagen.<br />
Dann kamen die Argonauten nach Salmydessos, der Hauptstadt Thyniens in Thrakien, wo König<br />
Phineus, der prophetische Gaben besaß, von den Harpyien geplagt wurde, weil er die geheimen<br />
Pläne Zeus' mit dem Menschengeschlecht verraten hatte. Er war geblendet worden, außerdem<br />
stahlen ihm die Harpyien das Essen vom Tisch und beschmutzten ihn mit ihrem Unrat. Er nahm die<br />
Argonauten freundlich auf, weissagte ihnen die weitere Fahrt und flehte sie um Hilfe an; denn er<br />
wußte, daß zwei von ihnen, seine beflügelten Schwäger Kaiais und Zetes, die Harpyien verjagen<br />
konnten. Ein Festmahl wurde vorbereitet, und als die Harpyien kamen, verfolgten Kaiais und Zetes<br />
sie bis nach Akarnanien, wo ihnen Isis eine Botschaft des Zeus überbrachte: die Harpyien seien zu<br />
schonen, denn sie seien seine Diener; aber sie würden Phineus nicht mehr belästigen.<br />
Die Argonauten segelten nun weiter zum Bosporus; sie wußten, daß ihre Fahrt glücklich ausgehen<br />
würde, wenn es ihnen gelänge, durch die Symplegaden zu segeln (wandernde Felseninseln am<br />
Ausgang der Meerenge, die bei starkem Wind oft heftig gegeneinander stießen). Phineus hatte sie<br />
gelehrt, mit dieser Gefahr fertig zu werden: Euphemos, ein Sohn des Poseidon, der auf dem Wasser<br />
gehen konnte, ohne sich die Füße zu benetzen, ließ eine Taube frei, die zwischen den Felsen<br />
hindurchflog. Die Felsen schlugen hinter ihr zusammen, doch wurde nur ihre Schwanzspitze<br />
eingeklemmt. Die Ruderer der »Argo« beeilten sich, die Stelle zu passieren, während sich die Felsen<br />
wieder teilten; doch hielt sie eine mächtige Welle gerade dort fest, wo die Felsen aufeinander<br />
trafen. Athene jedoch verließ nicht das Schiff, das sie erbaut hatte; sie versetzte ihm einen Stoß,<br />
und die Felsen erreichten nur die Spitze des Heckruders. Von dieser Zeit an blieb die Meerenge<br />
offen, und die Schiffer brauchten sich nicht mehr vor den Symplegaden zu fürchten. Ihre<br />
Weiterreise nach Kolchis wurde zu einer ruhigen Fahrt, und die Argonauten opferten dem Apollon<br />
auf einer einsamen Insel vor der Küste Thyniens. König Lykos von den Mariandynen hieß sie<br />
willkommen, doch wurde in seinem Reich der Seher Idmon (wie er es selbst vorhergesehen hatte)<br />
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von einem Eber getötet, und der Steuermann Tiphys erlag einer Krankheit. Ankaios übernahm nun<br />
das Steuer, und Daskylos, der Sohn des Lykos, wurde in die Mannschaft aufgenommen. In Sinope<br />
gesellten sich drei junge Thessalier zu ihnen, die Herakles in seinem Kampf gegen die Amazonen<br />
beigestanden hatten; den Argonauten gelang es jedoch, den Amazonen auszuweichen, als sie an<br />
Themiskyra vorübersegelten. Schließlich gelangten sie zu der sagenhaften Insel des Ares, wo sie<br />
auf eine Schar Vögel stießen, die mit mit Bronzespitzen versehenen Federpfeilen auf Fremdlinge<br />
schössen. Die Argonauten schützten ihre Köpfe mit den Schilden und machten einen<br />
fürchterlichen Lärm, um die Vögel zuverscheuchen. Hier stießen auch die vier Söhne des Phrixos<br />
zu ihnen, die es auf der Flucht vor König Aietes von Kolchis (der ihren Vater tötete) auf diese Insel<br />
verschlagen hatte. Argos, der Älteste, berichtete Jason von den Schwierigkeiten, die ihn in Kolchis<br />
erwarten würden.<br />
Die Argonauten segelten nun den Phasis hinauf und gingen bei der Hauptstadt Aia vor Anker. Jason<br />
begab sich an Land und ging, begleitet von Telamon und Augias, zu Aietes' Palast. Hera hüllte sie in<br />
Nebel, um sie unsichtbar zu machen, doch Medea, die zweite Tochter Aietes` und eine große<br />
Zauberin, erkannte sie sofort. Durch die List der Aphrodite, die Hera für die Durchführung ihres<br />
Planes gewonnen hatte, verliebte sich Medea in Jason. Aietes dagegen blieb den Griechen<br />
unversöhnlich feindlich gesonnen, weil er glaubte, sie seien gekommen, um ihn zu vernichten und<br />
ihm seinen Thron zu nehmen. Zunächst hielt er aber seinen Haß geheim. Jason versicherte dem<br />
König, daß der einzige Zweck seiner Reise sei, das Goldene Vlies zu erwerben. Aietes heuchelte<br />
Einverständnis und stellte seine Bedingungen – es handelte sich um eine Geschicklichkeits- und<br />
Kraftprobe, die nach seiner Überzeugung Jasons Leben schnell beenden würde: er sollte ein paar<br />
feuerspeiende Stiere vor einen Pflug spannen, ein Feld pflügen, es mit Drachenzähnen besäen und<br />
dann eine Schar Bewaffneter töten, die aber so gleich wieder aus der Erde wachsen würden. Argos<br />
bat seine Mutter Chalkiope, eine Tochter Aietes', um Hilfe und sie überredete Medea mit geringer<br />
Mühe, ihre magische Kunst zu gebrauchen. Früh am nächsten Tag führte er Jason zu einem<br />
geheimen Treffen mit Medea vor die Mauern Aias in den Tempel der Hekate, der Göttin der<br />
Zauberinnen. Jason versprach, sie mit nach Griechenland zu nehmen und ihr dort eine ehrenvolle<br />
Stellung zu verschaffen; sie gab ihm dafür ein Zaubermittel und erklärte ihm, wie er die Hilfe<br />
Hekates herbeirufen könnte. Danach holte sich Jason die Drachenzähne von Aietes und ließ sich<br />
genaue Anweisungen geben. In der Nacht opferte er, getreu Medeas Vorschriften, der Hekate, die<br />
auch kam und das Opfer annahm. Am Morgen rieb er sich das Zaubermittel in die Haut. Nachdem<br />
Hekate ihn noch durch Zaubergesänge gestärkt hatte, vollbrachte er die drei Aufgaben erfolgreich.<br />
Durch das Zaubermittel vor den Flammen der Stiere geschützt, spannte er sie erfolgreich unters<br />
Joch und vor den Pflug, die Zähne säte er hinter sich aus und die Bewaffneten wuchsen rasch und<br />
waren gegen Nachmittag erwachsen. Als sie auf ihn losgingen, warf er einen Felsblock zwischen<br />
sie; da begannen sie, gegeneinander zu kämpfen, und hauten sich selber in Stücke. Die letzten<br />
Überlebenden machte Jason nieder, und gegen Sonnenuntergang war der Kampf aus.<br />
Aietes aber brach sein Versprechen und gab das Goldene Vlies nicht heraus. Stattdessen begann er<br />
die Vernichtung der Griechen zu planen, vor denen er nun große Angst hatte. Medea fürchtete, daß<br />
ihr Vater von ihrer Hilfe für Jason wußte, deshalb verließ sie zu nächtlicher Stünde die Wohnung<br />
und begab sich auf die »Argo«, wo die Argonauten gerade Jasons Sieg feierten. Sie erklärte ihre<br />
Befürchtungen, und er rief Hera als Zeugin für sein Heiratsversprechen an. Darauf führte sie Jason<br />
zum Ares-Hain, wo das Vlies von der niemals schlafenden Schlange gehütet wurde. Dank ihrer<br />
Zauberkraft versetzte sie das Tier in Schlaf, und Jason stieg über die zusammengerollte Schlange<br />
und holte das Vlies. Dann flohen sie zurück auf die »Argo«, machten das Schiff in aller Eile startklar<br />
und ruderten mit voller Kraft aus dem Phasis hinaus. Bei Anbruch des nächsten Tages verfolgte<br />
Aietes' Flotte sie bereits. Über die Rückreise der Argonauten aus Kolchis gibt es mehrere<br />
widersprüchliche Berichte. Die älteste erhaltene Darstellung bei Pindar besagt, daß das Schiff auf<br />
den äußeren »Ozean« hinaussegelte, also wohl den Phasis hinauf- und nicht hinabfuhr. Auf dem<br />
7
Ozean fuhr man dann um Asien und Afrika herum, um entweder durch die Straße von Gibraltar oder<br />
durch das Rote Meer in das Mittelmeer zu gelangen. Eine andere überlieferte Route führt durch<br />
Europa: das Schiff soll den Don hinaufgesegelt sein, dann durch einen anderen Fluß in das<br />
Baltische Meer, und um Westeuropa herum wieder durch die Straße von Gibraltar das Mittelmeer<br />
erreicht haben. Ovid hält sich an eine Überlieferung, wo nach die Argonauten auf demselben Weg<br />
heimsegelten, den sie gekommen waren, nach dem sie des Königs kleinen Sohn Apsyrtos noch aus<br />
Aia entführt hatten. Als dann bei der Fahrt durch das Schwarze Meer Aietes' Verfolgungsflotte in<br />
Sicht kam, erdolchte Medea ihren Bruder Apsyrtos, zerschnitt die Leiche und streute die Teile<br />
entweder ins Wasser oder legte sie an deutlich sichtbarer Stelle ans Ufer. Dadurch hielt sie den<br />
Vater auf, der die Leichenteile einsammelte und das Begräbnis durchführte, während die »Argo«<br />
inzwischen entkam.<br />
Nach Apolionios dagegen betraute Aietes seinen schon erwachsenen Sohn Apsyrtos mit der<br />
Verfolgung der Argonauten. Apsyrtos blockierte alle Ausgänge des Schwarzen Meeres,<br />
einschließlich des Bosporus und aller Mündungsarme des Ister (Donau) mit Ausnahme des<br />
nördlichsten. Durch diesen entkamen die Argonauten und folgten dann dem gesamten Lauf des<br />
Ister, bis sie durch einen anderen Fluß das Adriatische Meer erreichten. Apsyrtos jedoch war ihnen<br />
zuvorgekommen, denn er hatte den Ausgang dieses Flusses gesperrt und erwartete sie. Die<br />
Argonauten landeten auf einer der Artemis geweihten Insel, und Jason verhandelte mit Apsyrtos.<br />
Dieser überließ ihm das Goldene Vlies und wollte ihn weiterfahren lassen, bestand aber auf der<br />
Rückgabe Medeas. Als Medea von dieser Abmachung erfuhr, wurde sie wütend auf Jason, der<br />
jedoch dann behauptete, sein Gespräch mit Apsyrtos sei nur eine List gewesen. Medea war bereit,<br />
ihren Bruder töten zu lassen, und so half sie Jason, ihn zu einem zweiten Treffen zu locken. Dabei<br />
gab sie vor, daß sie von Jason, der sie entführt habe, befreit sein wolle; Jason erschien und erstach<br />
ihn. Nach diesem gottlosen Akt kamen die Argonauten nicht weiter voran, um in das Adriatische<br />
Meer zu segeln, sondern sie wurden zurückgetrieben; denn wie ihnen das Bugsegel zeigte, hatte<br />
Zeus geboten, daß sich Jason und Medea von Medeas Tante Kirke reinigen lassen müßten, die auf<br />
einer Insel vor der Westküste Italiens lebte. Das Schiff hatte deshalb den Eridanos (Po) hinauf, und<br />
dann die Rhone hinab in das Tyrrhenische Meer zu segeln. Hera bewahrte sie vor weiteren<br />
Irrfahrten.<br />
Als die »Argo« Aiaia, die Insel Kirkes, erreicht hatte, gingen Jason und Medea allein an Land und sie<br />
wurden von der Zauberin mit Schweineblut und Versöhnungsopfern für Zeus und die Furien<br />
gereinigt. Dann fragte Kirke sie, wer sie seien und was sie begangen hätten. Sie war über ihre<br />
Geschichte so entsetzt, daß sie den beiden, obwohl Medea ihre Nichte war, keine Gastfreundschaft<br />
gewährte, sondern sie fortschickte; doch war die von Zeus verlangte Reinigung vollzogen.<br />
Unter dem Beistand von Hera, Thetis und den Nereiden segelte die »Argo« mit großer<br />
Geschwindigkeit nach Süden, vorüber an den Sirenen Skylla und Charybdis, und den »Wandernden<br />
Felsen«. Als man die Phäakeninsel Scheria erreichte, wartete dort bereits eine kolchische Flotte<br />
und verlangte die Auslieferung Medeas. Arete, die Frau des Phäakenkönigs Alkinoos, riet ihrem<br />
Gatten, Medea den Kolchern nur herauszugeben, wenn ihre Ehe mit Jason noch nicht vollzogen<br />
worden sei; sonst solle sie bei ihrem Mann bleiben. Die beiden hatten aber ihre Vereinigung noch<br />
nicht vollzogen, und so sorgte Arete, die ihnen wohl wollte, in größter Eile dafür, daß die Ehe noch<br />
während der Nacht in einer Höhle vollzogen wurde. So mußten die Kolcher mit leeren Händen<br />
abziehen. Sie siedelten sich in Korkyra an, um nicht dem zornigen Aietes unter die Augen treten zu<br />
müssen.<br />
Nachdem sie weitergesegelt waren und schon fast Griechenland erreicht hatten, wurden die<br />
Argonauten vom Wind über das Meer nach Libyen getrieben. Eine riesige Welle erfaßte sie und sie<br />
kenterten an einer Wüste. Als sie vor Durst fast umkamen, erschienen dem Jason drei in<br />
Ziegenhäute gehüllte Nymphen und verkündeten ihm, wenn Amphitrite den Wagen ihres Gatten<br />
Poseidon ausspanne, würden sie ihre Mutter für die Mühe belohnen, die sie hatte, als sie sie im<br />
8
Schöße trug. Peleus deutete das Orakel, und ein großes weißes Pferd, das man jetzt erblickte,<br />
wurde als eines der Pferde Poseidons wiedererkannt; ihre Mutter war offensichtlich die »Argo«<br />
selber, die sie nun neun Tage lang auf ihren Schultern trugen, bis sie zu dem See Tritonis kamen.<br />
Dieser See lag unweit des Gartens der Hesperiden, und kurz vor ihrer Ankunft war Herakles dort<br />
gewesen, hatte die Schlange getötet und die Äpfel geholt. Er hatte auch aus einem Felsen eine<br />
Quelle sprudeln lassen, und hier konnten die Argonauten endlich ihren Durst löschen.<br />
Sie brachten ihr Fahrzeug in den See Tritonis, konnten aber keinen Ausgang ins Meer entdecken.<br />
Auf Anregung Orpheus' opferten sie den Göttern des Ortes einen heiligen Schemel aus Delphi. Ihre<br />
Gebete wurden von Triton erhört, der sich als ein gewisser Eurypylos verkleidete; nachdem er<br />
Euphemos ein Stück Erde zum Zeichen der Freundschaft gegeben hatte, schob er die »Argo« auf<br />
einem Fluß bis zum Meer hinunter. Sie segelten nun an der libyschen Küste entlang, bis sie nach<br />
Kreta kamen, wo der eherne Riese Talos, der auf Geheiß des Minos die Insel bewachte und dreimal<br />
am Tag um sie herumlief, mit Felssteinen nach ihnen warf. Medea aber sprach einen Zauber über<br />
ihn, so daß der Nagel, der das Blut in seiner einzigen Vene hielt, ihm aus der Ferse fiel und er starb.<br />
Der Erdklumpen Tritons fiel nördlich von Kreta ins Meer und wurde zur Insel Thera, wo sich die<br />
Nachkommen Euphemos' in Erfüllung eines Traumes später niederließen.<br />
Danach wurde die »Argo« in tiefe Finsternis gehüllt, so daß es unmöglich war zu steuern. Jason<br />
betete zu Apollon, der einen flammenden Pfeil in die Nähe des Schiffes schoß; in seinem Licht<br />
sahen sie eine nahegelegene Insel, die sie Anaphe (Offenbarung) nannten. Sie landeten und<br />
opferten Apollon alles, was sie hatten. Schließlich kehrte das Tageslicht wieder, und das Schiff<br />
vollendete seine Fahrt nach Iolkos, wo Jason dem Pelias das Vlies übergab. Er wurde aber niemals<br />
König über Iolkos und verließ auch Medea, die ihm so nachhaltig geholfen hatte. Die Tage der<br />
»Argo« waren in Korinth zu Ende; ironischerweise fand Jason den Tod, als er unter dem<br />
verrottenden, abgetakelten Schiff saß: der Bug stürzte herab und erschlug ihn. Sein Gefährte, der<br />
Peliassohn Akastos, wurde König von Iolkos. Die Götter aber erhoben das Schiff als Sternbild an den<br />
Himmel.<br />
9
) Die Rezeption des Medea Mythos<br />
Ernst Schumacher<br />
Medea kann nicht sterben. Medea-Dichtungen von Euripides bis Heiner Müller<br />
Erschienen in: »Freitag«, Ausgabe 28, 04.07.1997<br />
Der Mythos der Medea stammt aus der Zeit der Kolonisierung der Länder um das Schwarze Meer<br />
durch griechische Städte und Gemeinschaften um 800 v. Chr. In der Argonautensage gelangt der<br />
griechische Königssohn Jason mit seinen Gefährten nach Kolchis (das heutige Georgien), um sich<br />
des legendären Goldenen Vlieses zu bemächtigen, das sich im Besitz von König Aietes befindet.<br />
Jason kann die Tat nur mit Hilfe Medeas, der Tochter des Aietes, erfolgreich ausführen, die, auf<br />
Geheiß der Aphrodite von Eros Pfeil getroffen, in blinde Liebe zu dem herrlichen Fremden verfallen<br />
ist. Nachdem ihr Jason bei Zeus und Hera geschworen hat, sie mit nach Griechenland zu nehmen<br />
und zu seiner Frau zu machen, flieht Medea mit den Argonauten. Um den Vater von Verfolgung<br />
abzuhalten, tötet sie dabei den eigenen Bruder und beseitigt auch Jasons Onkel Pelias, der dessen<br />
Thron in Jolkos usurpiert hat. Jason und Medea finden bei König Kreon in Korinth Asyl.<br />
Medea gebiert Jason zwei Söhne. Aber nach zehn Jahren will Jason Kreons Tochter Kreusa<br />
heiraten und beansprucht das Sorgerecht für die Söhne, während Medea aus dem Asyl abgeschoben<br />
werden soll. Medea rächt sich, indem sie Kreusa und Kreon an vergifteten Geschenken<br />
zugrundegehen lässt. In einer älteren Überlieferung kann Medea auf einem Drachenwagen entfliehen,<br />
den ihr ihr Großvater, der Sonnengott Helios, geschickt hat, während die beiden Söhne von<br />
den Korinthern zur Sühne erschlagen werden. Es war Euripides, der in seiner 431 v. Chr. in Athen<br />
uraufgeführten Tragödie Medeia die Heroin nicht nur zur Rächerin an der Nebenbuhlerin und deren<br />
Vater machte, die das Gastrecht gebrochen haben, sondern zur Mörderin ihrer Söhne, mit deren Tod<br />
sie Jasons Stamm ausrottet. Er steigerte damit den Konflikt der verlassenen Frau um den Konflikt<br />
der Mutter, die zur Vernichterin der eigenen Kinder wird. Aber Euripides war es auch, der den<br />
individuellen Erregungszustand der Heroin aus der grundsätzlichen Lage der Frau im Patriarchat<br />
hervorgehen ließ: Die Frau wird durch die Ehe wie eine Sklavin zum Eigentum des Mannes und hat<br />
kein Recht über die Kinder. »Du teilst das Los mit vielen«, versucht der Chor Medea zu trösten, »du<br />
bist nicht die einzige Frau, der man die Kinder nimmt.« Hinzu kommt bei Euripides ein unglaublich<br />
klarer Blick auf die besondere gesellschaftliche Lage Medeas: Sie ist »Barbarin« geblieben, ohne<br />
Staatsbürgerrechte, die, wenn ihr das Asylrecht entzogen wird, zur Heimatlosen wird. Medea ist bei<br />
Euripides erstmalig Frau in dreifachem Elend: Als verlassene Ehefrau, als Mutter, der die Kinder<br />
genommen werden, und als Asylantin, die ins Ausland abgeschoben werden soll. Diese ungeheuere<br />
Ver-Dichtung des Schicksals Medeas konnte immer nur variiert, nie übertroffen werden.<br />
Die Adaption des Medea-Mythos in der europäischen Neuzeit war jedoch zunächst stärker durch<br />
die Tragödie Medea des römischen Philosophen und Dichters Seneca bestimmt. Er machte Medea<br />
zur »Medea furens«, zur »rasenden Medea«, die auf »todesvolle Rache« sinnt. Während bei<br />
Euripides die Kinder »ob scenae« getötet werden, bringt die Medea des Seneca die Kinder auf<br />
offener Szene um und wirft sie Jason vom Drachenwagen aus vor die Füße. Dieses Medea-Bild<br />
eines »<strong>Theater</strong>s der Grausamkeit« wirkte weit in die feudalbourgeoisen (Männer-)Gesellschaften<br />
nach.<br />
Einen wesentlich neuen Gesichtspunkt in die Medea-Problematik brachte Pierre Corneille 1635 in<br />
seiner Tragödie Médée ein: Jason ist selbst entschlossen, seine Söhne zu töten, um sie dafür zu<br />
bestrafen, dass sie im Auftrag der Mutter die vergifteten Geschenke an Kreusa und Kreon<br />
überbracht haben. Medea kommt ihm aber darin zuvor, Jason bleibt nur, sich selbst zu verurteilen,<br />
10
indem er sich entleibt. Damit sind im Medea-Mythos die Kinder erstmalig als Mittel der Rache auch<br />
durch den Vater instrumentalisiert. Aus der Tragödie der Frau und Mutter wird potentiell eine<br />
»Familientragödie«.<br />
Es kann hier nur apostrophiert werden, dass der Medea-Mythos naturgemäß im Sturm und Drang<br />
erneut Interesse finden musste. Der wesentlich neue Aspekt, den Friedrich Wilhelm Gotter in seiner<br />
monodramatischen Tragödie Medea 1775 aufgriff und ausweitete, war der, den schon der<br />
französische Dramatiker Longepierre 1694 entwickelt hatte: Die Kinder selbst fühlten sich von der<br />
Mutter Medea abgestoßen und zu Kreusa hingezogen. Damit fühlt sich Medea nicht mehr nur als<br />
Frau durch den Mann, sondern auch als Mutter durch die eigenen Kinder verraten.<br />
Das postrevolutionäre Bildungsbürgerrum des 19. Jahrhunderts wusste mit der Medea-Problematik<br />
wenig anzufangen. Ein neues Gefühl, eine neue Sinngebung für den Medea-Stoff erwuchsen erst<br />
wieder in unserem Jahrhundert aus dem Zusammenbruch des humanistischen Fortschrittglaubens:<br />
Das Bewusstwerden angewandter Barbarei von der Kolonialisierung der Welt bis zum<br />
Genozid, die heutige Entmenschlichung bei ethnischen, ideologisch verbrämten Konflikten ließen<br />
Medea und ihr Schicksal wieder auf vielfältige Weise lebendig werden. Am exzessivsten und<br />
expressivsten ging in der Nach- und Neugestaltung bereits 1920 Hans Henny Jahnn auf diese<br />
neuen Bezüge ein. Seine Tragödie Medea war in ein pansexualistisches Weltbild eingebettet. Der<br />
Konflikt zwischen Jason und Medea wird aber gerade durch die rassische Andersartigkeit der<br />
Medea verschärft: Sie ist eine »Negerin«, ihre Kinder sind in den Augen Kreons »Bastarde«, denen<br />
er seine Tochter nie zur Frau geben würde, Jason ein edler Grieche, dem die Ehe mit diesem<br />
»fetten, schwärzlich grauen Weib« nicht länger zugemutet werden kann. Die Medea Jahnns erlöst<br />
die Söhne selbst aus der fleischlichen Indignität und Verfallenheit und ruft den Sklaven zu: »Dumm<br />
seid ihr! Ist sterben doch leicht,/ Schwerer zu leben.«<br />
Ohne hier auf die Medea-Adaptionen von Jean Anouilh, Robinson Jeffers, Matthias Braun aus dem<br />
ersten Nachkriegsjahrzehnt näher eingehen zu können, ist ihnen doch allen ein Bewusstsein<br />
innewohnend, dass die persönliche Tragödie Medeas in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen<br />
Widersprüchen zu sehen ist. Heiner Müller stellte 1982 seinem fragmentarischen, monodramatisch<br />
strukturierten Medeamaterial den Prosatext Verkommenes Ufer voran und ergänzte es durch<br />
Landschaft mit Argonauten. Zwischen mythischer Vorzeit und utopischer Endzeit ist Verkommenes<br />
Ufer unser eigener historischer Ort: Produktion letztlich von Abfall auf Kosten der Natur,<br />
Reproduktion von Leben auf Kosten der Frau: »Auf dem Grund aber Medea den zerstückten /<br />
Bruder im Arm Die Kennerin / Der Gifte«. Im monologischen Medeamaterial stehen Medea und<br />
Jason für die Konfrontation von Eigenem und Fremden wie für die Antinomie der Geschlechter.<br />
Müller ist von allem besessen vom Verrat zwischen Mann und Frau, aus dem der Verrat auch der<br />
Kinder erwächst: Seine Medea wird nicht gerettet, sie wird nach dem Mord an den Kindern »wohnen<br />
in der leeren Mitte Ich / Kein Weib kein Mann«. Sie hat sich befreit, aber auch zerstört. Man könnte<br />
den Text als den feministischen bezeichnen, den Müller geschrieben hat: große Wut, großer Mut<br />
der Frau in dreifachem Elend – als Frau, als Mutter, als ausgewiesene Asylantin, aber eben sich<br />
erschöpfend in einem anarchischen Akt der Selbstbefreiung.<br />
Aus keiner der dramatischen Medea-Adaptionen seit Euripides ist eine überzeugte Rechtfertigung<br />
des treulosen Jason herauszulesen. Schwankender ist das Charakterbild der Medea selbst. Wenn<br />
ihr Mythos sich aus der Ablösung eines angenommenen, durch die prähistorische Forschung<br />
jedoch nicht eindeutig nachgewiesenen Matriarchats durch das Patriarchat ableiten lässt – seine<br />
historisch konkrete, gesellschaftlich wirksame Form gewann er erst mit der Herausbildung der<br />
Familie, des Privateigentums und des Staates. Dieser Prozess war identisch mit fortschreitender<br />
11
Arbeitsteilung, der Beschränkung der Frau auf häusliche Tätigkeiten, Kindergebären und -aufzucht,<br />
der rechtlichen Ungleichstellung der Frau, ihrer Verwandlung in das faktische oder sogar rechtliche<br />
Eigentum des Mannes durch ein entsprechendes Erbfolgerecht. Wenn sich so auch das<br />
Familienwesen in ein Eigentumsverhältnis verwandelt, ist es nur folgerichtig, dass bei einem<br />
Zerbrechen dieser Gemeinschaft auch der Streit um das »Eigentum Kind« beginnt. Unter den<br />
Bedingungen des Patriarchats wird dabei die Frau als Mutter immer die geringeren Chancen haben,<br />
zu ihrem Anteil an diesem »biologischen Eigentum« zu kommen. Sie wird um so geringere<br />
Chancen haben, wenn sie einer anderen Rasse angehört und keine gleichen staatsbürgerlichen und<br />
zivilrechtlichen Rechte besitzt. Wenn schon das Verlassen werden durch den Mann zu einer hohen<br />
Affektation der Frau führen kann und zu einer noch höheren führen muss, wenn damit auch das<br />
Recht auf das gemeinsame Eigentum Kind eingeschränkt wird, so wird die äußerste und<br />
wirksamste Reaktion fast zwangsläufig in der »Medea-Lösung« bestehen, nämlich sich am Mann<br />
auch und gerade dadurch zu rächen, dass ihm sein Nachwuchs genommen wird. Dass diese<br />
»Medea-Lösung« nach dem Zusammenbruch des westlichen, aber auch östlichen Kolonialismus<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg in gesteigertem Maße gesucht und gewählt wurde, ist nur folgerichtig,<br />
wenn die Mütter nicht nur der Kinder beraubt wurden, sondern selbst das Asyl- oder<br />
Aufenthaltsrecht verloren hatten und abgeschoben wurden. Die »Medea-Lösung« trägt sich aber<br />
nicht weniger häufig bei heutigen ethnischen, rassischen und religiösen Konflikten zu. Aber auch in<br />
Gesellschaften, in denen durch eine entsprechende Gesetzgebung der beiderseitige Anteil<br />
geschiedener Ehe- oder anderer Gemeinschaftspartner am »Eigentum Kind« geregelt ist, ist eine<br />
solche »Medea-Lösung« nicht ausgeschlossen. Ob aus dem Gefühl der Benachteiligung oder aus<br />
purer Eifersucht, ob aus Neid auf »neues Glück« des Partners oder aus unbezähmbarer Eigensucht<br />
heraus, ist auch in unserer Gesellschaft die »Medea-Lösung« im Anwachsen.<br />
Aber wenn in der Tragödie Médée von Pierre Corneille im Jahr 1635 erstmals auch der Vater aus<br />
Rachsucht an der Mutter willens ist, die eigenen Kinder zu töten, so ist diese Bereitschaft<br />
inzwischen zu einem Tatbestand geworden, der eine ganze Gesellschaft zum öffentlichen<br />
Nachdenken veranlasst. Am 17. Februar 1997 fand sich in der Berliner Zeitung ein Bericht mit dem<br />
Titel »Eltern ermorden ihre Kinder«. Falk Medeja berichtete darin aus Amsterdam, dass in den<br />
Niederlanden eine öffentliche Debatte darüber geführt werde, dass bei Scheidungen oder sonstigen<br />
Familienzerwürfnissen nicht nur Mütter, sondern auch Vätzer ihre Kinder in den Freitod mitnehmen:<br />
»In immer kürzeren Abständen wird die niederländische Öffentlichkeit von entsetzlichen Morden<br />
aufgeschreckt. In nur zwei Monaten gab es fünf dieser Fälle. 1996 waren es neun Fälle von 17 toten<br />
Kindern.« Der New Yorker Psychologe Charles Ewing, der das Phänomen seit 20 Jahren untersucht,<br />
hält solche Morde an eigenen Kindern für eine »aus dem Ruder gelaufene Abstrafung« des<br />
verlorenen Ehepartners.<br />
Zusammenfassend lässt sich aber in Bezug auf die »Medea-Lösung« als spezifische Form<br />
weiblicher Rache am männlichen Partner auf alle Fälle sagen, dass der Medea-Mythos seine<br />
tödliche Lebenskraft solange bewahren und ausstrahlen wird, solange die Frau ein erniedrigtes und<br />
beleidigtes, nur eingeschränkte Freiheiten genießende Geschlechts- und Gesellschaftswesen ist.<br />
Zu einem solchen Bewusstsein beigetragen zu haben und beizutragen, ist auch das Verdienst<br />
dramatischer Dichter von Euripides bis Heiner Müller.<br />
12
H.A.Glaser<br />
War Euripides bestechlich?<br />
Auszug aus: H.A.Glaser (2001): Medea. Frauenehre – Kndsmord – Emanzipation.<br />
Frankfurt a.M., Peter Lang GmbH.<br />
Es gibt zu der Euripideischen »Medea« eine apokryphe Überlieferung, die recht eigentümlich ist. Es<br />
wird nämlich berichtet, daß Euripides von den Korinthern fünf Talente für die »Medea« erhalten<br />
habe. Hierbei handelte es sich um eine außerordentliche hohe Geldsumme. Man hat gefragt:<br />
Warum haben die Korinther die ja weit weg von Athen lebten, wo das Stück aufgeführt wurde,<br />
Euripides fünf Talente gezahlt? Und selbst wenn die Korinther ihm diese Summe nicht gezahlt<br />
haben sollten kann man fragen, warum ist diese Geschichte erfunden worden? Antwort könnte eine<br />
Variante der Argonautensage geben, in der behauptet, wird, daß die Korinther die Kinder der Medea<br />
erschlagen haben, und daß sie, um dies zu vertuschen, das Gerücht in die Welt gesetzt haben, daß<br />
Medea den Mord begangen habe. Man könnte also vermuten: Die Korinther sind dem Euripides<br />
dankbar, daß er die Schuld der Kindestötung von den Korinthern auf Medea verschoben hat.<br />
Dichtungen sind nicht nur als Dichtungen sondern auch als eine Form der Geschichtsschreibung<br />
angesehen worden. Der von Euripides gestaltete Kindsmord durch Medea - ihn gab es In der alten<br />
Argonautensage nicht - wird von den nacheuripideischen Quellen aufgegriffen. Die Korinther<br />
konnten also Euripides dankbar dafür sein, daß er die Kindstötung zum ersten Mal Medea<br />
anlastete. Euripides' Version stellt eine späte Stufe vielfältiger Bearbeitungen des Medea-Stoffes<br />
dar, in denen Medea stets schwärzer und grausamer dargestellt wird. Es ist wichtig, diesen Prozeß<br />
der Verböserung Medeas zu kennen, um die neue Wendung zu verstehen, die Euripides der alten<br />
Legende gibt.<br />
13
c) Bearbeitungen des Medea Stoffes<br />
Friedrich Nietzsche<br />
Iason und Medea (1858)<br />
1. Iason hatte schon das Meer durchschnitten<br />
Mit der Gefährten Schaar und schon das Land,<br />
Für das sie nun so vieles schon erlitten,<br />
Erreicht. Schon war des Herrschers Wort bekannt.<br />
Und tiefe Trauer war in ihrer Mitten,<br />
Da sich kein Ausweg, keine Rettung fand.<br />
Da fasst Medea heimliches Verlangen,<br />
Iason als Gemahlin zu umpfangen:<br />
2. Aus meinen Herzen ist die Ruh entschwunden.<br />
Was ist es, daß ich jetzt nur immer klage<br />
ln Schmerz und Angst verbringe meine Tage?<br />
Ich war doch sonst der Sorge stets entbunden.<br />
Was ist es nur, daß ich jetzt alle Stunde(n)<br />
Das Bild des Fremdlings nur im Herzen trage?<br />
Ich fürchte für sein Leben. Denn Gefahren<br />
Umlagern ihn und seine Heldenschaaren.<br />
3. Und so entschwindet mir der Seele Frieden.<br />
Was sorgst du für den Fremden? Soll er sterben?<br />
Warum hat er sein Vaterland gemieden<br />
Um fremde Herrschaft für sich zu erwerben.<br />
Nun sei ihm auch ein schweres Loos beschieden<br />
Und fürchterlich umringe ihm Verderben!<br />
So soll er also sterben? Dieß Begehren<br />
Es würde nur mein edles Herz entehren.<br />
4. Davor behüte mich der Götter Walten!<br />
Mich hätte eine Tigerin geboren<br />
Wenn also könnte mein Gemüth erkalten.<br />
Jedoch der Arme ist gewiß verlohren<br />
Wenn ihn nicht Zaubermächte kräftig halten.<br />
Ich fühl's, ich fühls ich bin dazu erkoren.<br />
Ich werde ihn mein Glück, mein Leben<br />
Ach ja mich selber müssen übergeben.<br />
14
5. Doch wenn er nun nicht hielte sein Versprechen<br />
Und mir entflöh, vom Winden weggetragen<br />
Daß ewig ich bereute mein Verbrechen<br />
Und nichts erzielte außer Schmerz und Klagen,<br />
Daß ich nicht könnte meinen Jammer rächen.<br />
Wie könnte ich ihn da zu retten wagen.<br />
Nein, mein Iason wird das nimmer können<br />
Nein, nichts wird dann uns von einander trennen!<br />
6. So soll ich also diesen Land entfliehen,<br />
Die, die mir lieb sind niemals, wiedersehen<br />
In eine andre Heimath mit den fremden ziehen<br />
Wo andre Flüsse sind und andre Höhen<br />
Wo andre Freuden mir als hier erblühen<br />
Und unbekannte Lüfte mich umwehen.<br />
Da, von Iason nur allein umgeben<br />
Erblühet mir auch neue Freud und Leben.<br />
7. Ich werd(e) durch die Meeresfluthen gleiten<br />
Denn mein Iason wird mich sicher waaren<br />
Nichts wird uns dann mehr von einander scheiden<br />
Nicht Unglück Schrecken und der See Gefahren.<br />
Er wird mit starker Hand mich immer leiten,<br />
Ja mich umgürten in der Feinde Schaaren<br />
Und alles, alles wird vor mir sich beugen<br />
Mein hohes Glück bis in den Himmel reichen.<br />
8. Die Götter werd(en) mich dann gern ansehen<br />
Als seine Gattin. Wie wa(s) sagtest du?<br />
Willst du denn dein Verbrechen noch erhöhen<br />
Der schöne Name deckt die Schuld nicht zu<br />
Noch ist es Zeit der Sünde zu entgehen<br />
Die später rauben würde dir die Ruh! -<br />
Vor ihren Blicke standen Schmach und Schande<br />
So daß besiegt sich Eros von ihr wandte.<br />
9. Dort liegt ein Hein von düstern Wald umgeben<br />
Medea wendet dahin ihre Schritte.<br />
Iason will die Seele ihr umschweben<br />
Selbst in des hehren Heiligthumes Mitte,<br />
Wo zwei Altäre aus der Nacht sich heben.<br />
Doch sieh! er naht mit demuthvoller Bitte<br />
Um Rettung für sein junges, frisches Leben.<br />
Nicht länger kann sie Amor wiederstehen<br />
Denn sie erhört eröthend Iasons Flehen.<br />
15
Bertolt Brecht<br />
Die Medea von Lodz (1934)<br />
Da ist eine alte Märe<br />
Von einer Frau, Medea genannt<br />
Die kam vor tausend Jahren<br />
An einen fremden Strand.<br />
Der Mann, der sie liebte<br />
Brachte sie dorthin.<br />
Er sagte: Du bist zu Hause<br />
Wo ich zu Hause bin.<br />
Sie sprach eine andere Sprache<br />
Als die Leute dort<br />
Für Milch und Brot und Liebe<br />
Hatten sie ein anderes Wort.<br />
Sie hatte andere Haare<br />
Und ging ein anderes Gehn<br />
Ist nie dort heimisch geworden<br />
Wurde scheel angesehn.<br />
Wie es mit ihr gegangen<br />
Erzählt der Euripides<br />
Seine mächtigen Chöre singen<br />
Von einem vergilbten Prozeß.<br />
Nur der Wind geht noch über die Trümmer<br />
Der ungastlichen Stadt<br />
Und Staub sind die Stein, mit denen<br />
Sie die Fremde gesteinigt hat.<br />
Da hören wir mit einem mal<br />
Jetzt die Rede gehn<br />
Es würden in unseren Städten<br />
Von neuem Medeen gesehn.<br />
Zwischen Tram und Auto und Hochbahn<br />
Wird das alte Geschrei geschrien<br />
1934<br />
In unserer Stadt Berlin.<br />
16
Helga Novak<br />
Brief an Medea (1977)<br />
Medea du Schöne dreh dich nicht um<br />
vierzig Talente hat er dafür erhalten<br />
von der Stadt Korinth<br />
der Lohnschreiber der<br />
daß er dir den Kindermord unterjubelt<br />
ich rede von Euripides verstehst du<br />
seitdem jagen sie dich durch unsere Literaturen<br />
als Mörderin Furie Ungeheuer<br />
dabei hätte ich dich gut verstanden<br />
wer nichts am Bein hat<br />
kann besser laufen<br />
aber ich sehe einfach nicht ein<br />
daß eine schuldbeladene Gemeinde<br />
ihre blutigen Hände an deinen Röcken abwischt<br />
keine Angst wir machen das noch publik<br />
daß die Korinther selber deine zehn Gören gesteinigt haben<br />
(wie sie schon immer mit Zahlen umgegangen sind)<br />
und das mitten in Heras Tempel<br />
Gewalt von oben hat keine Scham<br />
na ja die Männer die Stadträte<br />
machen hier so lustig weiter<br />
wie früher und zu hellenischen Zeiten<br />
(Sklaven haben wir übrigens auch)<br />
bloß die Frauen kriegen neuerdings<br />
Kinder auf Teufel komm raus<br />
anstatt bei Verstand zu bleiben<br />
(darin sind sie dir ähnlich)<br />
andererseits haben wir<br />
uns; schon einigermaßen aufgerappelt<br />
was ich dir noch erzählen wollte: die Callas ist tot<br />
17
3. WEITERFÜHRENDE TEXTE<br />
a) Bunraku<br />
Heinz-Dieter Reese<br />
GIDAYŪ<br />
-BUSHI: MUSIKALISCHE VORTRAGSGESTALTUNG IM JAPANISCHEN PUPPENTHEATER<br />
BUNRAKU<br />
Auszug aus: Japanisches Kulturinstitut Köln (Hg.) (1983): Klassische <strong>Theater</strong>formen Japans.<br />
Einführung zu Noo, Bunraku und Kabuki. Köln: Böhlau Verlag.<br />
Unter den <strong>Theater</strong>traditionen Japans nimmt die mit Puppen in Szene gesetzte episch-dramatische<br />
Bühnenkunst des Bunraku eine besondere Stellung ein. Anders als in vielen Kulturen, in denen<br />
Puppentheater häufig lediglich die Bedeutung von belehrender Unterhaltung für Kinder haben, ohne<br />
im eigentlichen Sinne künstlerischen Ansprüchen genügen zu wollen, stellt Bunraku ein hochentwickeltes<br />
»Gesamtkunstwerk« dar, das sich den von Schauspielern präsentierten <strong>Theater</strong>formen<br />
des Nõ und des Kabuki als durchaus ebenbürtig erweist.<br />
Es sind vornehmlich drei Komponenten, die Bunraku konstituieren:<br />
1. Theatrale Komponente<br />
Sie umfaßt das kunstvolle, äußerst differenzierte Puppenspiel mit fast lebensgroßen, in der Regel<br />
von drei Spielern geführten Puppen (Sannin-zukai) wie auch aufwendige bühnentechnische Mittel<br />
(Kulisse, Bühnenmaschinerie).<br />
18
2. Literarische Komponente<br />
Die hochpoetische Dramensujets (Jõruri-Texte) werden klassifiziert in »Historische Dramen«<br />
(Jidaimono) und »Bürgerliche Dramen« (Sewamono), wobei in ersteren Begebenheiten aus der Welt<br />
des Hofadels und der Samurai-Krieger zumeist der Zeit vor Beginn der Tokugawa-Ära (1600), in<br />
letzteren dagegen Begebenheiten aus der Welt der zu ökonomischer Macht gelangten Kaufleute<br />
und Handwerker des 18. Jahrhunderts dramatisiert werden.<br />
3. Musikalische Komponente<br />
Der musikalisch durchgebildete Textvortrag (Gidayú-bushi) des Rezitator bzw. Sängers (Tayú) wird<br />
von einem zweiten Musiker auf der Laute Shamisen begleitet. Daneben kommen gelegentlich auch<br />
weitere Instrumente zum Einsatz (Kokyú, Koto) und wird die Szene bei bestimmten Ereignissen<br />
durch ein vornehmlich aus Schlagzeug bestehendes Instrumentalensemble hinter der Bühne<br />
(Geza-Ensemble) effektvoll untermalt. [...]<br />
Die Bezeichnung Bunraku, unter der das japanische Puppentheater heute allgemein bekannt ist,<br />
geht zurück auf den Künstlernamen eines Puppenspielers, der in der Zeit um das Jahr 1800 in<br />
Õsaka wirkte und sich um die Wiederbelebung der zur damaligen Zeit in Verfall geratenen<br />
Kunstform besonders verdient gemacht hat: Uemura Bunrakuken. Während der Meiji-Zeit zu Ende<br />
des vorigen Jahrhunderts wurde aus dem Namen des auf ihn zurückgehenden Puppenspieltheaters<br />
Bunraku-za, das damals noch mit anderen gleichartigen <strong>Theater</strong>n konkurrieren mußte, die<br />
Bezeichnung für die <strong>Theater</strong>form insgesamt.<br />
Der Sache nach ist die Kunst des Bunraku jedoch viel älter. Sie entstand vor knapp 300 Jahren zu<br />
Ende des 17. Jahrhunderts und wurde zunächst Ningyõ -jõ ruri genannt, was zu übersetzen ist als<br />
»Puppenspiel-Jõruri«, wobei Jõruri den episch-dramatischen Textvortrag meint. Dieser Terminus<br />
Jõruri nun ist insofern von eigener Bedeutung, als er im Bereich der traditionellen japanischen<br />
Musik zur allgemeinen Bezeichnung geworden ist für eine ganze Gruppe vokaler Vortragsstile mit<br />
Begleitung der Laute Shamisen, ein Instrument, von dem weiter unten noch genauer die Rede sein<br />
wird. […]<br />
Vergleicht man historische Quellen (gedruckte Jõruri-Textausgaben, theoretische Traktate,<br />
Chroniken, Abbildungen), die die Geschichte der Jõruri-Bühnenkunst seit Takemoto Gidayù<br />
dokumentieren, so lassen sich für die Zeit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die allgemein als<br />
das »goldene Zeitalter« des Puppentheaters apostrophiert wird, wesentliche Unterschiede zur<br />
heutigen Aufführungsgestalt von Bunraku feststellen. Dem Spiel mit kleinen, beweglichen<br />
Handpuppen, die von nur einem Puppenspieler zunächst noch über Kopf (Tsukkomi-Stil), später<br />
seitlich (Sahikomi-Stil) geführt wurden, entsprach allem Anschein nach ein schlichter, rascher<br />
ablaufender Textvortrag, bei dem das Shamisen eine untergeordnete Rolle gespielt haben dürfte.<br />
Erst mit Entwicklung der Puppentechnik und Erfindung des Dreimann-Puppenspiels (Sannin-zukai)<br />
um die Mitte des Jahrhunderts, sicherlich stimuliert einerseits durch die fruchtbare Rivalität<br />
zwischen dem Takomoto-za und dem von Toyotak Wakatayù , einem Schüler des Gidayù , 1706<br />
eröffneten Toyotake-za sowie motiviert andererseits durch das Streben nach stets realistischeren<br />
Darstellungsformen angesichts der Konkurrenz des Kabuki-<strong>Theater</strong>s, konnte sich auch die<br />
musikalische Komponente stärker entfalten. Galt es doch, die aufgrund der sehr viel langsameren<br />
Bewegungen der großen Puppen gedehnte Aufführungszeit der Stücke durch entsprechende<br />
musikalische Mittel zu füllen. Hinzu kam, daß das Shamisen-Instrument nach Entwicklung in<br />
klang- und spieltechnischer Hinsicht seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts immer größere<br />
Bedeutung für die Ausdrucksgestaltung des Jõruri-Vortrages gewann.<br />
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als das Puppentheater seine Anziehungskraft auf das Publikum<br />
zugunsten des Kabuki verlor – das Takemoto-za hatte 1767, das Toyotake-za schon 1765 seine<br />
19
Pforten schließen müssen – und die Neuproduktion von Stücken stagnierte begann man, das<br />
Repertoire zu ordnen und zu überarbeiten, die Darstellungsmittel zu verfeinern. Jetzt erst wird das<br />
Dreimann-Puppenspiel allgemeine Norm, erhält die Bühne ihre heutige Form und wird auch die<br />
musikalische Gestalt der Aufführung verbindlich festgelegt. Nicht mehr die Faszination immer<br />
neuer Dramensujets steht im Vordergrund, das Interesse gilt jetzt vielmehr der äußerst differenzierten<br />
Darbietungsweise bereits bekannter älterer Stücke. Abgesehen von Ergänzungen und<br />
Verbsserungen vornehmlich musikalischer Art, die am bereits festgefügten, in sich geschlossenen<br />
Repertoire dann noch einmal zu Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen werden, als das Puppentheater<br />
eine zweite kurze Blütezeit erlebte, blieb der Aufführungsstil von Bunraku seitdem bis heute<br />
im wesentlichen identisch.<br />
Wenden wir uns nun dem Jõruri-Vortrag zu, wie er heute im Bunraku-<strong>Theater</strong> zu hören ist. […]<br />
Grundlage des Vortrags ist der Text eines Stückes in seiner eigentümlichen Mischung aus episch<br />
erzählenden, die Bühnenhandlung beschreibenden und kommentierenden Passagen und von im<br />
eigentlichen Sinne dramatisch dialogischen Passagen, in denen die Bühnenfiguren in direkter Rede<br />
zu Wort kommen. Eingestreut sind gelegentlich auch lyrische Abschnitte, die die Emotionen der<br />
Figuren und die Atmosphäre der Szene reflektieren. Im Gegensatz zu anderen Puppentheatertraditionen,<br />
in denen jeder Puppenspieler die von ihm geführte Puppe mit seiner eigenen Stimme<br />
sprechen läßt, bleiben die Puppenspieler des Bunraku stumm. Alle Textpassagen werden von<br />
einem einzelnen Rezitator bzw, Sänger, dem sogenanntenTayù, vorgetragen, der während der<br />
Aufführung zusammen mit seinem Shamisen-Spieler, der den Vokalvortrag vielfältig musikalisch<br />
interpretierend, illustrierend, unterstützend mitvollzieht, auf einem kleinen Podest, demYuka, sitzt,<br />
das sich vom Zuschauer aus gesehen rechts neben der Hauptbühne befindet. Vor sich auf einem<br />
kleinen Pult (Kendai) hat er das Textbuch (Yukahon) liegen. Es enthält neben den Schriftzeichen der<br />
Textworte auch Symbole verschiedenster Art, die Hinweise auf die musikalische Gestaltung des<br />
Vortrags geben.<br />
Die vollständige Darbietung eines Bunraku-Stücks, vor allem eines historischen Jidaimono-<br />
Dramas, kann mehr als 10 Stunden dauern. Die Handlung ist so gestaltet, daß das Stück in einzelne<br />
Akte eingeteilt ist, historische Dramen in der Regel in fünf Akte, bürgerliche Sewamono-Dramen in<br />
drei Akte, die jeweils wieder in einzelne Groß- und Kleinszenen unterteilt sind. Der formalen<br />
Struktur liegt dabei eine genau durchdachte dramaturgische Konzepton zugrunde.<br />
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) Mütter als Mörderinnen<br />
Merle Hilbk<br />
»Da hauste ein Monster in mir«<br />
Erschienen am 28.10.1999 in DIE ZEIT<br />
Spektakuläre Kindesmorde erschüttern seit Monaten die Republik. Warum bringen Mütter im<br />
Fürsorgestaat Deutschland ihre Kinder um? Obduktion eines mystifizierten Verbrechens.<br />
Wie er heftig ins Leben drängte, wie er die winzigen Gliedmaßen bewegte, wie er die Luft in die<br />
Lungen einsog - alles deutete darauf hin, dass der Säugling Dominik Westermann* ein gesundes,<br />
ein vitales Kind gewesen sein muss. Das bestätigte auch der Gerichtsmediziner, der die Leiche<br />
später obduzierte. »Tod durch Erdrosseln«, ist in seinem Bericht zu lesen. Ein grausamer Tod,<br />
herbeigeführt von Dominiks eigener Mutter.<br />
Es war an einem Nachmittag im Juli 1996, als die Mutter ein heftiger Schmerz überfiel. Eine<br />
Nierenkolik, vermutete Nicole Westermann, damals 21. »Mir geht's nicht gut«, sagte sie zu ihrem<br />
Freund, der sie mitgenommen hatte zu diesem Campingwochenende am Nürburgring. Von den<br />
Rängen wehten die ersten Jubelrufe herüber, und ein paar Minuten später verließ der Mann mit<br />
seinen Freunden den Campingplatz, um den Start nicht zu verpassen. Nicole Westermann blieb<br />
allein zurück.<br />
Dass sie dieses Lebewesen in den Arm nahm und sorgfältig die Käseschmiere abwusch, ihm<br />
danach in der Campingdusche den Schlauch um den Hals legte und zuzog, bis die Atmung<br />
aussetzte - daran, so behauptet sie, »kann ich mich nicht richtig erinnern«. Auch nicht, dass sie<br />
den toten Körper in einen Rucksack stopfte, sich wusch, frische Wäsche anzog und die Dusche<br />
21
auswischte. Den Kripobeamten, die sie später verhörten, sagte sie: »Ja, wahrscheinlich war ich<br />
das« und konnte es doch nicht fassen.<br />
Als das Gericht Nicole Westermann einige Monate später wegen Kindestötung zu viereinhalb<br />
Jahren Haft verurteilte, ging ein Murren durch die Zuschauerreihen. »Mit der sollte man das<br />
machen, was sie mit ihrem Kind tat«, flüsterte eine ältere Frau, und ein Mann auf dem Gerichtsflur<br />
forderte, endlich härter gegen »Mördermütter« durchzugreifen. Reaktionen, die bei Kindestötungsprozessen<br />
keine Seltenheit sind.<br />
Kaum eine Straftat schürt den Zorn der Bürger mehr als das Verbrechen, das im Volksmund<br />
»Kindesmord« genannt wird, und nach jedem spektakulären Fall wird der Ruf nach Vergeltung<br />
lauter. Das Meinungsforschungsinstitut Emnid ermittelte, dass 55 Prozent der Deutschen für<br />
Kindesmörder die Todesstrafe wieder einführen wollen. [...]<br />
Warum töten in diesem Land immer noch Mütter ihre Kinder. Denn mit dem Ausbau des<br />
Sozialstaates und der Liberalisierung der Gesellschaft sind die Gründe weggefallen, die Mütter<br />
jahrhundertelang zur Tötung ihres Nachwuchses veranlassten: Schande und Verarmung.<br />
Und dennoch geschieht es wie ehedem. Es gibt Mütter, die ihre Kinder zu Tode stechen, würgen,<br />
vernachlässigen oder prügeln. Warum?<br />
»Was sich nicht erklären lässt, wird in der Bevölkerung umso größeren Schrecken auslösen«,<br />
fürchteten Kriminologen in den Sechzigern, und so begann die Wissenschaft, nach den Motiven der<br />
»neuen Kindesmörderinnen« zu suchen. […] Zumindest eine Erkenntnis einte die Experten: dass<br />
die meisten Täterinnen nicht egoistisch und planvoll handelten und dass nur selten »niedrige<br />
Beweggründe«, also Habgier, Grausamkeit oder Heimtücke, die eine Kindestötung zum Mord<br />
machen würden, eine Rolle spielten. Fast alle befänden sich in einer psychischen Notlage. Und so<br />
geschah es, dass die Frauen, die zuvor als grausame Verbrecherinnen verdammt wurden, mehr und<br />
mehr als Opfer erschienen. Richter erkannten den Frauen regelmäßig verminderte Schuldfähigkeit<br />
zu, verurteilten fast nie wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags oder Körperverletzung mit<br />
Todesfolge - und schickten kaum eine Täterin länger als fünf Jahre hinter Gitter. [...]<br />
Das Verständnis freilich wuchs schneller als das Verstehen. Zu unübersichtlich, zu vielschichtig<br />
waren die gesellschaftlichen Verhältnisse geworden, als dass sich aus ihnen, wie zu Zeiten der<br />
Klassengesellschaft, eine alles erklärende These für die Kindestötung herausdestillieren ließe. Die<br />
Täterinnen, so zeigten bald empirische Studien, kamen aus allen gesellschaftlichen Gruppen und<br />
Schichten. So unterschiedlich wie ihr soziales Umfeld schienen auch ihre Motive zu sein.<br />
Und doch glauben Kriminologen und Forensiker heute mit einiger Wahrscheinlichkeit einschätzen<br />
zu können, warum eine Frau ihr Kind getötet hat - zumindest dann, wenn sie die Art der<br />
Tatausführung kennen. Denn Langzeitstudien ergaben: Täterinnen, deren Art der Tatausführung<br />
sich gleicht, haben jeweils auch eine ähnliche Vorgeschichte und plagen sich mit ähnlichen<br />
Defiziten und Problemen. Sie töten aus einer ähnlichen Veranlassung heraus.<br />
Wer aber sind diese Frauen? Was treibt sie dazu, das Geschöpf, das ihnen näher sein müsste als<br />
jedes andere auf der Welt, zu töten? Wie kann eine 21-Jährige nicht erkennen, dass sie schwanger<br />
ist, und ihr Baby dann mit einem Schlauch erdrosseln? Wie kann eine Frau, die geliebt wird von<br />
ihrem Mann, ihren zweijährigen Sohn erstechen? Wie kann eine Mutter, umgeben von Sozialämtern,<br />
ihren fünf Monate alten Sohn in seinem Bett verhungern lassen?<br />
Wer diese Frauen besucht in ihren Gefängnissen und zuhört, wie sie von der Tat erzählen, findet<br />
nicht die Monster, als die Schlagzeilenmacher sie abbilden. Stattdessen Mütter, die selber noch<br />
versuchen, die Person zu entschlüsseln, als die sie in den Akten vermerkt sind.<br />
Der Säugling, auf dessen Grabstein »Dominik Westermann« steht, wurde etwa 20 Minuten alt. Als er<br />
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geboren wurde, feierten die Formel-1-Fans vor dem Wohnmobil. Nicole Westermann hätte die Tür<br />
öffnen und um Hilfe bitten können. Einer hätte sicher ein Handy dabeigehabt, einen Arzt gerufen.<br />
Doch Nicole verstand nicht, dass sie Hilfe brauchte. Sie hatte nicht einmal verstanden, dass sie<br />
schwanger war.<br />
Wie konnte sie übersehen, dass ihre Periode ausblieb? Dass ihr Bauch wuchs und ihre Brüste<br />
schwollen? Wie erklärte sie sich Übelkeit und Heißhungerattacken, die Bewegungen im Unterleib<br />
und die Wehen? In den Spiegel zu schauen war Nicole Westermann schon seit langem ein Gräuel<br />
gewesen. Auch, ihren Körper zu berühren, diese 100 Kilo. Dass ihr Bauch wuchs, fiel ihr nicht auf.<br />
Die weiten, sackförmigen Oberteile, unter denen sie ihre Formen verbarg, die Hosen mit dem<br />
Gummizug passten auch weiterhin. »Ich hab eigentlich nur minimal zugenommen, ganz anders als<br />
meine schwangeren Freundinnen«, erinnert sie sich. Übel war ihr auch nie, und manchmal kamen<br />
auch die Tage noch, kurze, schwache Blutungen zwar, aber immerhin Blutungen. [...]<br />
Ein paar Mal hatte Nicole Westermann den Verdacht, schwanger zu sein, doch der Gedanke<br />
verflüchtigte sich so schnell, dass sie gar nicht auf die Idee kam, zum Frauenarzt zu gehen. »In<br />
meinem Kopf war niemals der Gedanke: ,Du willst kein Kind.' Da war nur ein großes Durcheinander.«<br />
Eine Schutzreaktion, wie Psychologen glauben, die verhinderte, dass sie sich plötzlich mit etwas<br />
auseinander setzen musste, was sie wahrscheinlich überfordert hätte: mit ihrer Rolle als Frau und<br />
Mutter.<br />
Eigentlich hatte sich Nicole Westermann nichts sehnlicher gewünscht als eine eigene Familie. Eine<br />
Frau bekam Kinder und stellte ihre Wünsche und Bedürfnisse zugunsten der Familie zurück.<br />
Niemand aus ihrem Bekanntenkreis hatte das je ernsthaft infrage gestellt. Manchmal fürchtete sie,<br />
keinen Mann zu finden: »Wer mag schon eine Frau mit einer solchen Figur?« Doch je größer ihre<br />
Befürchtungen wurden, desto fester nahm sie sich vor, »es allen zu beweisen, die mich nicht ernst<br />
genommen haben«. Was zu beweisen? »Dass ich eine gute Mutter bin.« Wusste sie, was das war?<br />
Ihre eigene Mutter, die Nicole mit 19 bekommen hatte, gab sie bei einer Patentante ab. Die Tante<br />
reichte Nicole nach drei Jahren an den Vater weiter, der für Essen, Kleidung und Wohnung sorgte.<br />
Gespräche gab es selten. Nicht, als sie ihre erste Periode bekam und sich vor Scham Gästehandtücher<br />
in die Hose stopfte; nicht, als sie ihren Hunger nach Zuneigung mit Schokolade und Kuchen<br />
stillte und ihr Körper auf 100 Kilo anschwoll; nicht, als ihre Mutter sie an den Wochenenden abholen<br />
wollte und Nicole sich aus Angst vor dieser Frau und ihren Erwartungen übergeben musste. Irgendwann<br />
hatte sie das Gefühl, gar nicht mehr sprechen zu können.<br />
Fast alle Täterinnen, die er betreute, hätten »eine Mutter gehabt, die eine ambivalente Botschaft<br />
aussandte«, sagt Uwe Peters, Psychologe in der Justizvollzugsanstalt Lübeck. »Einerseits<br />
vermittelte die Mutter ihrer Tochter, dass es zur Rolle einer Frau gehört, Kinder zu bekommen.<br />
Andererseits gab sie ihr das Gefühl, eine Versagerin zu sein« - eine, die es nicht fertig bringt, Kinder<br />
richtig zu versorgen. Um geliebt zu werden, meint Peters, wollten die Töchter beweisen, dass sie<br />
besonders gute Mütter sind. Gleichzeitig lebten sie in der Angst, genau das nicht zu schaffen.<br />
Als Nicole Westermann ein junger Mann namens Michael in einer Wirtschaft ansprach und es nicht<br />
bei den ersten Verabredungen blieb, hatte sie plötzlich das Gefühl, »eine vollwertige Frau zu sein«.<br />
Sie wusste zwar weder, was er arbeitete, noch, wohin er verschwand, wenn er wieder einmal für ein<br />
paar Wochen abtauchte. Doch die Sehnsucht nach einem Menschen, der zu ihr gehörte, war so<br />
stark, dass sie ihn wortlos aufnahm, wenn er wieder vor ihrer Haustür stand, und sich zu ihm ins<br />
Bett legte, auch wenn er sagte: »Da ist nichts mehr bei mir.« Die Pille besorgte sie sich »höchstens<br />
ab und zu«. Das Einzige, was sie zu Hause aufgeschnappt hatte, war, dass man Kinder bekam,<br />
wenn man mit einem Mann schlief. Mit 21 wurde sie schwanger. Michael bemerkte scheinbar nichts.<br />
Am Tag, als die Wehen einsetzten, sagte er, dass sie ihm nicht den Spaß am Autorennen verderben<br />
solle.<br />
23
Dass er eine »moralische Mitschuld« am Tod seines Sohnes trage, wie der Richter später<br />
feststellte, konnte ihm strafrechtlich nicht angelastet werden. Für Gleichgültigkeit gibt es keinen<br />
Paragrafen. Für das, was Nicole Westermann getan hat, schon: Frauen, die ihre nichtehelichen<br />
Kinder bei oder bis etwa 24 Stunden nach der Geburt töten, werden seit 1872 nach Paragraf 217,<br />
»Kindestötung«, verurteilt. Diese Sondervorschrift soll der psychischen Ausnahmesituation<br />
während und nach der Entbindung Rechnung tragen - und sieht daher eine geringere Mindeststrafe<br />
vor als der »reguläre« Tötungsparagraph.<br />
Die Beweise gegen Nicole Westermann waren erdrückend. Trotzdem war nicht klar, ob sie für ihre<br />
Tat auch bestraft werden konnte. Wer zur Tatzeit schuldunfähig ist, also weder in der Lage, seine<br />
Handlung zu steuern, noch einzusehen, was er damit anrichtet, darf nicht ins Gefängnis geschickt<br />
werden. Das betrifft zum Beispiel Frauen, die die Entbindung nicht bewusst wahrgenommen und<br />
den Tod des Neugeborenen weder geplant noch absichtlich herbeigeführt haben; etwa weil sie das<br />
Gefühl hatten, »gar nicht geboren zu haben«, und weil »ein großer Tumor aus der Scheide<br />
gerutscht sei«, wie es im Gutachten über eine 22-jährige Mutter aus München heißt, die ihr Kind<br />
gleich nach der Geburt tötete.<br />
Nicole Westermann, so entschieden die Richter, war nicht schuldunfähig. Sie habe, wenn auch erst<br />
sehr spät, erkannt, dass sie ein Kind gebar. Immerhin habe sie das Wesen in den Arm genommen<br />
und gewaschen. Insofern müsse ihr auch klar gewesen sein, was sie tat, als sie die Schlinge zuzog.<br />
Das Gefängnis war wie ein Schonraum, der es Nicole Westermann ermöglichte, sich in Ruhe selbst<br />
zu entdecken. Sie lernte, Bedürfnisse zu äußern und durchzusetzen. Sie verlor über 30 Kilo, färbte<br />
sich die Haare platinblond und begann, sich zu mögen. Der Traum von Kindern und einem Mann<br />
verlor seine Unbedingtheit. »Du bist kaum wiederzuerkennen«, sagte ihr Vater, als sie während des<br />
Hafturlaubs in ihr Dorf zurückkehrte. Seither glaubt Nicole Westermann, dass die Tat ihr Leben<br />
gerettet hat. Auch, wenn sich nachts die Schuldgefühle auftürmen und die Angst, nie wieder<br />
unbeschwert ein Glück genießen zu können, sie wach hält. »All das ist besser als das Gefühl, nichts<br />
wert zu sein, und krampfhaft um Zuneigung zu betteln.« [...]<br />
Was ist es, das die Psyche einer Mutter so angreift? »Viele Leute werden mit Sorgen und Problemen<br />
schlechter fertig, weil sie kein Umfeld mehr haben, dass ihnen Halt gibt«, glaubt Peter Winckler,<br />
Psychiater an der Universitätsklinik Tübingen. Ein stabiles Umfeld könne verhindern, dass sich<br />
»Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung« zu handfesten psychischen Problemen entwickelten.<br />
Doch genau das ist vielen Menschen abhanden gekommen. In manchen Großstadtvierteln lebt in<br />
der Hälfte der Haushalte nur noch eine Person. Und der fehlt oft ein Netzwerk aus Freunden und<br />
Familie, weil es - aus Wahl oder Zwang - zerrissen ist.<br />
Nicht jeder wird deshalb gleich aus der Bahn geworfen. Wie sensibel ein Mensch auf Umwelteinflüsse<br />
reagiert, ist weitgehend genetisch bedingt; von den Eltern weitergegeben wird nach Ansicht<br />
von Psychiatern auf jeden Fall der »Grad der Verletzlichkeit«. Kindheitstraumata - Vernachlässigung,<br />
Schläge - förderten die Entstehung von psychischen Erkrankungen ebenso wie Unglücksund<br />
Kriegstraumata, Drogenabhängigkeit, extreme Isolation. Welchen Anteil letztlich die Umwelt<br />
und welchen die Gene am Ausbruch von Psychosen, Depressionen und schweren<br />
Persönlichkeitsstörungen haben, ist allerdings noch nicht bekannt.<br />
Auffällig ist, dass viele der psychisch kranken »Kindesmörderinnen« vor Gericht angaben, in ihrer<br />
Jugend vernachlässigt oder misshandelt worden zu sein oder unter den Folgen von sexuellem<br />
Missbrauch, Gewalt, Krieg und Verfolgung zu leiden. Von Renate R., einer Psychotikerin, die 1997<br />
ihren dreijährigen Sohn erstach, erfuhr man, dass sie ohne Fürsorge aufgewachsen war, von ihrem<br />
Freund kurz nach der Geburt ihres Kindes verlassen wurde und vereinsamt, ohne Freunde und Job,<br />
vor sich hinvegetierte. Birsen C., eine junge Türkin, die ihr zehn Monate altes Baby erstickte, war mit<br />
einem ihr unbekannten Mann nach Deutschland verheiratet worden. Hier verstand sie weder die<br />
24
Sprache noch die Sitten. Vor Heimweh wurde sie schließlich depressiv. […]<br />
Vernachlässigung und Misshandlungen sind »beinahe so etwas wie eine Erbschuld, die von<br />
Generation zu Generation weitergegeben wird«, sagt Uwe Peters, Psychologe in der Haftanstalt<br />
Lübeck. Zwar nehmen sich Mädchen immer wieder vor, besser für ihr Kind zu sorgen als ihre eigene<br />
Mutter. »Aber wie soll das funktionieren, wenn ein Mädchen zu Hause nie erlebt hat, wie das geht?«,<br />
fragt Peters. Mutter zu sein, müsse man lernen wie Lesen oder Kopfrechnen. Dass ein Kind<br />
regelmäßige Mahlzeiten braucht, dass es Körperkontakt, Beschäftigung und medizinische<br />
Betreuung braucht - »all das weiß man ja nicht von alleine«. [...]<br />
Warum tötet die eine Mutter ihr Kind, die andere in einer ähnlichen Situation aber nicht? Diese<br />
Frage haben die Experten auch nach 30 Jahren Forschung nicht beantwortet. Sie haben Theorien<br />
formuliert und sich Antworten genähert, doch ein Stück Unerklärbarkeit ist geblieben. Einer<br />
Gesellschaft, zumal einer so wohlhabenden, macht das Angst. Angst, die Hassgefühle auf die<br />
Täterinnen erzeugt. »Auf Kindesmörderinnen«, glaubt Gefängnispsychologe Peters, »kann sich die<br />
Mehrheit als das schlechthin Böse einigen.«<br />
Das erklärt, warum der Ruf lauter wird, »Kindesmörderinnen« härter zu bestrafen. Aber können<br />
härtere Strafen die Gesellschaft vor der Schwangerschaftsverdrängung einer Nicole Westermann<br />
[...] bewahren [...]?<br />
Mit dem Einsperren von »Kindesmörderinnen« könne man weder weitere Taten verhindern noch den<br />
Frauen helfen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, glaubt der Gefängnisdirektor Peter Peters. "Wir<br />
sind vom Prinzip Haft nicht überzeugt", sagt er. »Aber wir haben einfach noch nichts Besseres<br />
gefunden.«<br />
* Namen von der Redaktion geändert<br />
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c) Patchworkfamilien<br />
Petra Steinberger<br />
Die Liebeslüge – Die Probleme von Patchworkfamilien<br />
Erscheinen am 17.05.2010 in der Süddeutschen Zeitung<br />
Patchwork ist die Herausforderung, aus getrennten Familien neue Familien zu machen. Doch das<br />
vermeintliche Modell der Zukunft fordert viel mehr Opfer als gedacht.<br />
Fest der Liebe nennt es sich, aber in manchen Familien wird Weihnachten geplant wie die<br />
logistische Vorbereitung zu einem Großmanöver. Und dabei geht es nicht um die Details und<br />
Zutaten für den Braten. Es geht darum, wer wo mit wem wann die nächsten Tage verbringen wird,<br />
will und muss. Weihnachten mit Vater, Mutter, Kind - das kennen immer mehr Familien nur noch als<br />
nostalgisches Idyll aus den Erzählungen der Großeltern.<br />
Feiertagsplanung wird zur logistischen Herausforderung<br />
Diese Familien haben den modischen Namen Patchwork bekommen, und bei ihnen funktionieren<br />
die Feiertage etwa so: Am Weihnachtsabend feiern alle vier Kinder zusammen mit ihrem Vater Paul<br />
(alle Namen von der Redaktion verändert) und Carla, der Mutter der beiden jüngeren Geschwister.<br />
Am nächsten Tag setzt Paul die beiden großen bei ihrer echten Mutter Natalie ab, die im<br />
Nachbarort wohnt.<br />
Die beiden Kleinen besuchen mit Paul und Carla die Eltern von Carla. Die Eltern von Paul hätten<br />
gern alle vier Enkel zusammen an Weihnachten gesehen, haben aber keinen Termin mehr<br />
bekommen, sie haben sich zu spät angemeldet. Denn am zweiten Weihnachtsfeiertag fahren die<br />
beiden großen mit Natalie zu deren Vater, ihrem Großvater Hans, der etwas weiter entfernt am Meer<br />
wohnt. Hans hätte auch gern Paul dabei gehabt, mit dem er immer zum Segeln gegangen ist, muss<br />
sich aber mit Thomas, einem Bergsteiger und dem neuen Mann von Natalie, begnügen. Aber da ist<br />
ja noch ein neuer winziger Enkel, das dritte Kind von Natalie, das der Großvater unbedingt sehen<br />
will.<br />
Störend ist nur, das Thomas seine Tochter aus erster Ehe mitbringt, obwohl sie seit kurzem<br />
pubertiert und mit ihrer Stiefmutter Natalie und deren Kindern um die Aufmerksamkeit von Thomas<br />
konkurriert. Etwaige Tanten, Onkel, Schwäger müssen sich sowieso hinten anstellen. Bei vielen von<br />
ihnen ist die Feiertagsgestaltung allerdings ähnlich kompliziert.<br />
Dennoch: Patchwork scheint zur gesellschaftlichen Normalität zu werden. Jeder hat inzwischen<br />
eine oder mehrere solche Familien im Bekanntenkreis. Mit jeder neuen Patchwork-Familie entsteht<br />
ein weiteres Geflecht aus Bluts-, Wahl- und unfreiwilligen Verwandten, die miteinander auskommen<br />
müssen, weil zwei Menschen beschlossen haben, eine neue Beziehung einzugehen. […]<br />
Doch diese Bindung schafft natürlich auch eine Art Versicherung, einen Anker, vor allem für die<br />
Kinder, dass da hoffentlich immer jemand da sein wird, zu dem man sich flüchten kann.<br />
Aber bei Patchwork-Familien enthüllt oft schon die Terminologie, die man in den Familien- und<br />
Beziehungsberatern findet, worum es geht: um Macht und um Liebe und um den Kampf darum.<br />
Manchmal geht es fast schon um Krieg. Jeden Tag wieder und besonders an den Tagen, an denen<br />
man noch enger zusammenrücken soll, an denen Liebe eingefordert wird als Feiertagsaufgabe.<br />
Und viele neu zusammengewürfelte Familien überleben diesen Kampf nicht.<br />
Inzwischen werden 50 Prozent aller in Deutschland geschlossenen Ehen innerhalb von sieben<br />
Jahren wieder geschieden.Mehr als die Hälfte aller geschiedenen Mütter und Väter hat schon nach<br />
26
einem Jahr wieder einen neuen Partner. Nach Schätzungen erleben drei von zehn Kindern bis zu<br />
ihrem 18. Lebensjahr mindestens eine Patchwork-Konstellation. [...]<br />
Es ist der uralte Traum von der eigenen Familie, ein reiner und unschuldiger Traum, der so tief im<br />
Menschen festgeschrieben ist, dass ihn auch gesellschaftliche Umbrüche nicht löschen können. Er<br />
ist ein Teil jener Phantasie, dass der Mensch sein ganzes Leben auf einem leeren Blatt Papier<br />
beginnen könne.<br />
Die Realität von Patchwork ist das Gegenteil davon. Sie ist nicht neu und unschuldig, man kann sie<br />
nur noch bedingt selbst gestalten. Da soll eine neue Familie auf den Ruinen einer oder mehrerer<br />
vorangegangener Familien entstehen. Trümmer sind zurückgeblieben, sie können plötzlich und<br />
überraschend ein unvorsichtiges Familienmitglied verletzen. Auch nach Jahren noch. Denn im<br />
Patchwork tun sich Menschen zusammen, von denen wenigstens einer schon einmal gescheitert<br />
ist. Und das tragen sie mit sich herum. [...]<br />
Jan und Katrin machen eigentlich fast alles richtig. Sie haben ähnliche Vorstellungen, was die<br />
Erziehung der Kinder betrifft. Katrin ist sehr vorsichtig, was ihre Rolle gegenüber Jans Kindern<br />
betrifft. Sie mischt sich erst einmal nicht allzu viel ein, Jan hat es immerhin schon einige Jahre<br />
allein hinbekommen. Und auch mit der Mutter der Kinder geht es zunächst einigermaßen gut.<br />
Marlene und Jan hatten sich getrennt, als die Mädchen zwei und sechs Jahre alt waren. [...]<br />
Jan wollte keiner von diesen Vätern werden, die ihre Kinder nur an jedem zweiten Wochenende<br />
sehen. Sie einigten sich. Marlene zog aus. Manchmal hörten die Kinder wochenlang nichts von ihr.<br />
Jan sagt: Sie pickte sich die Rosinen heraus. Die schöne Zeit. Den Spaß. Das ist nicht ungewöhnlich<br />
bei dem Elternteil, der geht, ungewöhnlich ist bei Jan und Marlene nur, dass es der Vater ist, der<br />
die Kinder großzieht. In 85 Prozent der Fälle bleiben die Kinder bei der Mutter.<br />
Jan und Marlene sind also schon einige Jahre getrennt, als Katrin dazukommt. Und anfangs<br />
scheint Marlene die neue Frau auch zu akzeptieren. Vielleicht ist sie zunächst sogar froh. Jemand<br />
kümmert sich um die Kinder. Marlene scheint nicht eifersüchtig zu sein. Ist das also nun die<br />
perfekte Stieffamilie?<br />
Denn so modern, wie viele Patchworker es gern darstellen, ist diese Form des Zusammenlebens<br />
nicht. Es ist letztlich die alte Stieffamilie, nur in moderneren Kleidern und ein wenig aufgemotzt. [...]<br />
Mehr als die Hälfte aller Patchworkfamilien gehen wieder in die Brüche.<br />
Zwei Gründe machen Familienpsychologen für das Scheitern verantwortlich. Zum einen ist es sehr<br />
wichtig, wie die leiblichen Eltern die alte Beziehung verlassen und hinterlassen haben. Streiten sie,<br />
benutzen sie die Kinder, um sich am ehemaligen Partner zu rächen? Verlangen sie von den Kindern<br />
eine emotionale Entscheidung für oder gegen einen Elternteil? Hetzen sie gegen den alten Partner<br />
und dessen neue Frau, den neuen Mann? Oder haben sie es geschafft, zum Wohl der Kinder<br />
zumindest noch als Eltern eine gemeinsame Basis zu entwickeln?<br />
Und da gibt es zum anderen diesen einen gefährlichen Satz: »Noch einmal ganz von vorne<br />
anfangen.« Mit einer neuen Liebe wird ein neues Heim gegründet, und die bereits vorhandenen<br />
Kinder laufen schon irgendwie mit. Aber es gibt keinen Neubeginn mehr. Das ist für das neue Paar<br />
meist schwer zu ertragen und wird mit aufopfernder Liebe und autoritärem Erziehungsstil<br />
übertüncht.<br />
Da gibt es dann diese Stiefväter, die ihrer neuen Lebenspartnerin erklären, dass nun ein paar neue<br />
Regeln und Pflichten aufgestellt werden müssen. Und das, obwohl diese Partnerin ihre Kinder<br />
jahrelang alleine über die Runden gebracht hat. Sie war dabei vielleicht nicht ganz so streng. Also<br />
stellt sie sich jetzt schützend vor ihre Kinder.<br />
Und die Kinder reagieren vielleicht mit Trotz und Wut, weil sie jahrelang verbissen gegen jede neue<br />
Beziehung gekämpft haben, weil sie keinen Fremden bei sich dulden, der ihnen ihre Hoffnung<br />
wegnehmen könnte, dass die Eltern vielleicht doch eines Tages wieder zusammenkommen.<br />
27
Der Münchner Familienpsychologe Hans Dusolt hat im Auftrag der Familiengerichte viele<br />
Gutachten erarbeitet, viele Kinder interviewt. Fast alle, sagt er, würden es vorziehen, wenn Mama<br />
und Papa zusammenblieben. Es muss schon ziemlich schlimm zugegangen sein, wenn Kinder das<br />
nicht mehr wollen.<br />
Und so gibt es in der neuen Patchwork-Gesellschaft Kinder, die aggressiv werden und auffällig in<br />
der Schule, bis die Eltern verzweifelt in die Beratungsstellen kommen. Oder Kinder, die hinausgedrängt<br />
werden und hinausfallen aus der neuen Paarbeziehung. Aber das ist eher selten.<br />
Meist sind es die neuen Partner, die erst einmal lernen müssen. Dass die Kinder immer an erster<br />
Stelle kommen. [...]<br />
Oft sind es nicht die neuen Partner, die eine Patchworkbeziehung wieder verlassen, sondern die, die<br />
die Kinder mitgebracht haben.<br />
Früher, als Patchworkfamilien noch Stieffamilien hießen, gab es diese eine Figur, die besonders<br />
schlecht wegkam: die Stiefmutter. Eigentlich existiert sie gar nicht ohne das Adjektiv »böse«.<br />
Tiefenpsychologisch kann man sie als Ausdruck der dunklen Seite sehen, die jede Mutter in sich<br />
trägt. Und es gab die Frauen, die den Kindern aus der alten Ehe die Zuneigung ihres Mannes<br />
neideten oder die die eigenen Kinder an erster Stelle sehen wollten. Heute gibt es dafür einen neue<br />
Art Stiefmutter-Reflex.<br />
Das Schwierige an Patchworkfamilien ist, dass es keine Vorbilder für sie gibt. Jede ist in ihrer<br />
eigenen ganz besonderen Welt und Konstellation gefangen. Menschen verlieben sich und stolpern<br />
hinein wie Jan und Katrin, die Kinder stolpern mit, und eigentlich weiß keiner genau, wie man mit<br />
dem anderen umgehen muss. Es gibt keine Modelle, keine Konventionen, keine Rollen, an denen<br />
man sich orientieren könnte wie bei der herkömmlichen Kernfamilie. Wenn sie Glück haben, wie Jan<br />
und Katrin, schaffen sie es, mit schlechten und guten Phasen, mit viel Arbeit und Toleranz und<br />
Geduld und, ja, auch mit Liebe.<br />
Denn nur weil Patchwork immer häufiger wird, heißt das nicht automatisch, dass diese Form des<br />
Zusammenlebens deshalb immer besser funktioniert. Zunehmende Häufigkeit bedeutet erst<br />
einmal gar nichts für die Qualität. [...]<br />
In Patchworkfamilien haben nicht alle Eltern alle Kinder gleich lieb, aber das dürfen sie oft nicht<br />
einmal vor sich selber zugeben. Manche, vor allem Frauen, brauchen Jahre, um die Lüge im<br />
eigenen Herzen zu entdecken. Dann müssen sie anfangen zu reden. Die Kinder werden es<br />
verstehen.<br />
28
d) Der/Die/Das Fremde<br />
Karl Valentin<br />
»Die Fremden« (1940)<br />
Karlstadt: Wir haben in der letzten Unterrichtsstunde über die Kleidung des Menschen gesprochen<br />
und zwar über das Hemd. Wer von euch kann mir nun einen Reim auf Hemd sagen?<br />
Valentin: Auf Hemd reimt sich fremd!<br />
Karlstadt: Gut - und wie heißt die Mehrzahl von fremd?<br />
Valentin: Die Fremden.<br />
Karlstadt: Jawohl, die Fremden. Und aus was bestehen die Fremden?<br />
Valentin: Aus "frem" und "den".<br />
Karlstadt: Gut - und was ist ein Fremder?<br />
Valentin: Fleisch, Gemüse, Obst, Mehlspeisen und so weiter.<br />
Karlstadt: Nein, nein, nicht was er ißt, will ich wissen, sondern wie er ist.<br />
Valentin: Ja, ein Fremder ist nicht immer ein Fremder.<br />
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Karlstadt: Wieso?<br />
Valentin: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.<br />
Karlstadt: Das ist nicht unrichtig. - Und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd?<br />
Valentin: Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist und zwar so lange, bis er sich<br />
nicht mehr fremd fühlt, dann ist er kein Fremder mehr.<br />
Karlstadt: Sehr richtig! Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, bleibt er dann immer<br />
ein Fremder?<br />
Valentin: Nein. Das ist nur so lange ein Fremder, bis er alles kennt und gesehen hat, denn dann ist<br />
ihm nichts mehr fremd.<br />
Karlstadt: Es kann aber auch einem Einheimischen etwas fremd sein!<br />
Valentin: Gewiß, manchem Münchner zum Beispiel ist das Hofbräuhaus nicht fremd, während ihm<br />
in dergleichen Stadt das Deutsche Museum, die Glyptothek, die Pinkothek und so weiter fremd sind.<br />
Karlstadt: Damit wollen Sie also sagen, daß der Einheimische in mancher Hinsicht in seiner eigenen<br />
Vaterstadt zugleich noch ein Fremder sein kann. Was sind aber Fremde unter Fremden?<br />
Valentin: Fremde unter Fremden sind: wenn Fremde über eine Brücke fahren und unter der Brücke<br />
fährt ein Eisenbahnzug mit Fremden durch, so sind die durchfahrenden Fremden Fremde unter<br />
Fremden, was Sie, Herr Lehrer, vielleicht so schnell gar nicht begreifen werden.<br />
Karlstadt: Oho! Und was sind Einheimische?<br />
Valentin: Dem Einheimischen sind eigentlich die fremdesten Fremden nicht fremd. Der<br />
Einheimische kennt zwar den Fremden nicht, kennt aber am ersten Blick, daß es sich um einen<br />
Fremden handelt.<br />
Karlstadt: Wenn aber ein Fremder von einem Fremden eine Auskunft will?<br />
Valentin: Sehr einfach: Frägt ein Fremder in einer fremden Stadt einen Fremden um irgend etwas,<br />
was ihm fremd ist, so sagt der Fremde zu dem Fremden, das ist mir leider fremd, ich bin hier<br />
nämlich selbst fremd.<br />
Karlstadt: Das Gegenteil von fremd wäre also - unfremd?<br />
Valentin: Wenn ein Fremder einen Bekannten hat, so kann ihm dieser Bekannte zuerst fremd<br />
gewesen sein, aber durch das gegenseitige Bekanntwerden sind sich die beiden nicht mehr fremd.<br />
Wenn aber die zwei mitsammen in eine fremde Stadt reisen, so sind diese beiden Bekannten jetzt<br />
in der fremden Stadt wieder Fremde geworden. Die beiden sind also - das ist zwar paradox - fremde<br />
Bekannte zueinander geworden.<br />
30