Gedenkschrift 2018-Endfassung
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Was machte der Großvater in der Nazizeit?<br />
Ein Täter in der Familie? Die eigene Familie in der NS-Zeit? Tipps zur Recherche<br />
Endlich Klarheit haben!<br />
Was haben meine Eltern, Großeltern,<br />
Onkel, Tanten zur Zeit der<br />
Nationalsozialismus gemacht?<br />
Waren sie verstrickt in das Nazisystem?<br />
Waren sie gar an Verbrechen<br />
beteiligt? Das Interesse an diesen<br />
Fragen lässt nicht nach und steigt in<br />
der Kinder- und Enkelgeneration<br />
jetzt sogar noch einmal an. Sie<br />
spüren: Da ist was nicht erledigt.<br />
Woran liegt das gestiegene Interesse?<br />
Zum einen daran, dass viele<br />
ZeitzeugInnen sterben, dass sich<br />
also ihre (erwachsenen) Kinder<br />
endlich frei fühlen zu recherchieren;<br />
die Enkelgeneration hat ohnehin<br />
eine größere emotionale Distanz,<br />
was solch eine Recherche erleichtert.<br />
Das gestiegene Interesse hat<br />
aber vor allem mit der neuesten<br />
Geschichtsforschung zu tun: Die<br />
wendet nämlich seit den 90er Jahren<br />
den Blick von den Spitzen des NS-<br />
Systems immer mehr in Richtung<br />
der ?kleinen? Täter, beschäftigt sich<br />
also mit den gewöhnlichen Deutschen,<br />
den Wehrmachtssoldaten,<br />
den Polizisten, den Verwaltungsangestellten.<br />
Den Anfang machten die<br />
Ausstellung „Verbrechen der<br />
Wehrmacht“ und die Bücher von<br />
Christopher R. Browning oder Daniel<br />
Goldhagen (s.u. Buchtipps).<br />
Falsche Erwartungen<br />
1. „Das geht schnell“. - Nein, eher<br />
nicht. Eine Recherche zur eigenen<br />
Familie in der NS-Zeit dauert fast<br />
immer länger als zwei Monate. Man<br />
sollte mit mindestens einem Jahr<br />
rechnen. Man wartet ja schon<br />
Wochen, bis ein Archiv antwortet.<br />
2. „Am Ende weiß ich alles“. - Eher<br />
nicht. Meist weiß man am Ende<br />
immer noch nicht, wie der Verwandte<br />
dachte, wie er zum Nationalsozialismus<br />
stand, ob sich seine Einstellung<br />
über die Jahre geändert hat.<br />
3. „Am Ende weiß ich doch nichts“.<br />
Auch wenn man am Ende meist<br />
nicht weiß, was ein Verwandter<br />
konkret getan hat, kann man es sich<br />
mit einem Trick ausmalen. Der Trick<br />
heißt: lesen, lesen, lesen. Und<br />
zwar Bücher zum Umfeld. Zum<br />
Beispiel Fachliteratur über einzelne<br />
Dienststellen des NS-Apparates,<br />
über einzelne Feldzüge, über<br />
Verbrechen an bestimmten Bevölkerungsgruppen<br />
usw. So kann man<br />
das Dunkelfeld erhellen und den<br />
Verwandten darin verorten.<br />
Erster Schritt: das Familienwissen<br />
ausschöpfen<br />
Fahnden nach Geschichten sowie<br />
Dokumenten jeder Art, nach<br />
Aktenordnern, Briefen, Ausweisen,<br />
Fotos! Es gibt fast immer mehr an<br />
Erzählungen, Wissen und Dokumenten,<br />
als man denkt oder als die<br />
Angehörigen zunächst erinnern.<br />
Dazu jeden, wirklich jeden der<br />
letzten noch lebenden alten Verwandten<br />
befragen, auch die, mit<br />
denen man noch nie Kontakt hatte<br />
oder nicht mehr. Fast immer haben<br />
sie wertvolle Hinweise beizusteuern.<br />
Und so viele Zeitzeugen gibt es ja<br />
nicht mehr im Jahr 2012. Alte<br />
Menschen freuen sich über Besuch,<br />
Telefonate, Interesse. Aber auch<br />
gleichaltrige Vettern und Cousinen<br />
könnten im Besitz von Dokumenten,<br />
Briefen und Fotos sein!<br />
Unbedingt bei allen mehrfach<br />
nachfragen! Nach Geschichten, aber<br />
auch nach Dokumenten, Fotos Die<br />
erste Antwort ist oft: Nee, ich hab da<br />
nichts. Bis jemand anfängt, doch<br />
nochmal nachzuschauen in Schränken<br />
und Schachteln, das kann<br />
dauern, denn viele Menschen<br />
scheuen vor einer Beschäftigung mit<br />
Vergangenem zurück, vor dem<br />
Wühlen in Kisten und Kästen<br />
sowieso. Denn wollte man die nicht<br />
schon lang mal aufgeräumt haben?<br />
Häufig werden sie dann doch fündig.<br />
Denn solch offizielle Dokumente wie<br />
Personalausweis (“Kennkarte“),<br />
„Wehrpass“, „Ariernachweis“,<br />
Entlassungsschein, Rentenanträge<br />
werfen die meisten Leute nicht<br />
einfach so weg.<br />
Manchmal findet sich sogar ein<br />
Ariernachweis (offiziell: Ahnentafel) -<br />
so was hat man gern aufbewahrt,<br />
weil darin der Stammbaum dokumentiert<br />
ist. „Ariernachweise“<br />
wurden übrigens nicht zentral in<br />
einer Behörde gesammelt, sondern<br />
verblieben immer im persönlichen<br />
Besitz. Vorsicht: Die Angaben nicht<br />
unkritisch übernehmen. Denn einen<br />
„Ariernachweis“ über mehrere<br />
Generationen zurück zu erstellen,<br />
war für viele Betroffene und Pfarrund<br />
Standesämter, die nach<br />
Geburts-, Heirats-, Sterbeurkunden<br />
gefragt wurden, überaus lästig. Nicht<br />
selten sind die Angaben ungenau<br />
recherchiert, schlichtweg falsch oder<br />
sogar bewusst gefälscht, um die<br />
arische Abstammung nachweisen zu<br />
können.<br />
Wie führe ich solche<br />
Gespräche?<br />
Um nicht gleich abgeblockt zu<br />
werden (Opa war kein Nazi! Der war<br />
ein sauberer Soldat!), sollte man<br />
Fragen nach Weshalb, Warum,<br />
Wieso vermeiden. Man will ja nicht<br />
Rechtfertigungen hören (“Jeder<br />
musste mitmachen!“), sondern<br />
Erzählungen. Dazu muss man<br />
verleiten, mit Erzählaufforderungen:<br />
„Wie war das denn damals, als ihr<br />
nach Berlin gezogen seid?“ Als du in<br />
Hannover dein Pflichtjahr angefangen<br />
hast? Man fragt zunächst nicht<br />
direkt nach dem Vorfahr, sondern<br />
geht mit dem/der GesprächspartnerIn<br />
erst einmal in deren eigene<br />
Vergangenheit zurück. Das könnte<br />
sich etwa so anhören: Sag mal, und<br />
dann bist du in Hanau zur Schule<br />
gegangen- musstest du da weit<br />
gehen jeden Morgen? „Wer saß<br />
damals alles mit am Abendbrottisch?<br />
Kannst du dich auch an ein Fest<br />
erinnern?“ Erinnerungen kommen<br />
vor allem dann zurück wenn man<br />
sich an sinnlichen und leiblichen<br />
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