Gedenkschrift 2018-Endfassung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Erinnerungsfragmenten entlanghangelt<br />
(Das ist ein Tipp der Göttinger<br />
Professorin Gabriele Rosenthal, die<br />
eine Methodik der narrativen<br />
Biographieforschung entwickelt hat.)<br />
Wahr oder unwahr? Kaum jemand<br />
kann sich nach Jahrzehnten noch<br />
genau an eine Begebenheit erinnern;<br />
die Erinnerung wird überlagert<br />
von späteren Einschätzungen;<br />
manche der angegebenen Daten<br />
sind falsch; Ereignisse aus verschiedenen<br />
Jahren werden erzählend zu<br />
einem einzigen Ereignis verschmolzen.<br />
Usw. Aber komplett falsch sind<br />
Erzählungen auch selten.<br />
Bei wichtigen Familienerzählungen<br />
jeden Satzteil einzeln recherchieren!<br />
Probeweise auch ersetzen durch<br />
andere Begriffe und Daten. (Eigenes<br />
Beispiel: „Der Opa sollte Zwangsarbeiter<br />
ausheben, das wollte er nicht.“<br />
Tatsächlich sollte er Kriegsgefangene<br />
rekrutieren, als Spione.)<br />
Nächster Schritt<br />
Alles, was man in der Familie<br />
erfahren und gefunden hat, aufschreiben.<br />
Geburtsdatum, alle<br />
Wohn- und Aufenthaltsorte, Ehepartner,<br />
Berufskollegen, Arbeitgeber,<br />
Namen von Freunden, Berufe,<br />
Vereinszugehörigkeiten, Interessen,<br />
überlieferte Erinnerungen, Briefe...<br />
Wichtigste Frage ist dabei: Wo war<br />
dieser Mensch überhaupt? Dann<br />
kann man viel gezielter weiterforschen,<br />
etwa in Landesarchiven.<br />
Problem: Ich kann das nicht<br />
lesen, weil Sütterlinschrift<br />
Manche der alten Dokumente sind<br />
handschriftlich verfasst, in Sütterlin.<br />
Was tun?<br />
1. Einen alten Menschen ums<br />
mündliche Übersetzen bitten<br />
(Nachbarn, Bekannte, Verwandte) -<br />
die freuen sich!<br />
2. Eine der acht ehrenamtlichen<br />
Sütterlinstuben [11] in Deutschland<br />
um Übertragung bitten (kostet nichts,<br />
aber über Spenden freut man sich).<br />
Erste Orientierung<br />
Überaus wertvoll für private<br />
GeschichtsforscherInnen ist die<br />
Wissenssammlung wikipedia [12].<br />
Denn über Wikipedia findet man<br />
erste Infos zu NS-Organisationen, zu<br />
Kriegsschauplätzen, und, sehr<br />
wichtig, man findet die korrekten<br />
Begrifflichkeiten. Zum Beispiel<br />
„Spruchkammerakte“ oder „Generalplan<br />
Ost.“<br />
Lesen, lesen, lesen!<br />
Mit den richtigen Begriffen kann man<br />
weitersuchen - zum Beispiel nach<br />
Buchtiteln, etwa bei Amazon. Bücher<br />
braucht man, um sich detailliertes<br />
Hintergrundwissen anzueignen und<br />
das Umfeld/Wirkungsfeld des Vorfahren<br />
auszuleuchten. Und es gibt<br />
inzwischen eine Menge Fachliteratur<br />
zu den konkreten Aktionsfeldern des<br />
NS-Staates: deutsche Besatzungsherrschaft,<br />
Polizeiapparat, Wehrmacht,<br />
auch nachgeordnete Einheiten<br />
von Militär und Zivilverwaltung.<br />
Die Bücher kann man gebraucht kaufen<br />
(etwa auf Amazon und Antiquariatsportalen<br />
wie www.zvab.de), oder<br />
man bestellt sie in eine Bibliothek<br />
zum Lesen. Über die Digitale Bibliothek<br />
[13] kann man 500 Bibliothekskataloge<br />
nach einem Titel oder einem<br />
Thema durchforsten oder auch<br />
nur den Katalog der nächstgelegenen<br />
Biblitohek.<br />
Problem: Mich macht das<br />
krank<br />
Solche Recherchen sind aufwändig<br />
und nervenaufreibend, können sogar<br />
(vorübergehend) die Gesundheit beeinträchtigen.<br />
Schwer auszuhalten<br />
ist zum Beispiel:<br />
- der Widerstand anderer Familienmitglieder;<br />
- das Suchen in alle nur möglichen<br />
Richtungen, damit verbunden immer<br />
wieder Verlust der Übersicht - das<br />
Lesen grauenvoller Dokumente über<br />
Kriegsverbrechen;<br />
- der feindselige oder kalte Tonfall<br />
von Dokumenten aus der NS-Zeit;<br />
- die gleichzeitige Suche nach entlastendem<br />
wie belastendem Material -<br />
dass man sich den Vorfahr als guten<br />
Menschen wie als Verbrecher vorstellen<br />
muss;<br />
- die gewisse Einsamkeit, wenn man<br />
sich intensiv nur mit Vergangenem<br />
beschäftigt.<br />
Es hilft, sich eine Freundin oder einen<br />
Verwandten zu suchen, der/die<br />
sehr interessiert ist am Fortgang der<br />
Recherche, aber emotional nicht so<br />
nahe dran. Wichtig: Die Recherche<br />
auch mal ruhen lassen. Sich anderen<br />
Dingen und vor allem Menschen<br />
widmen.<br />
Problem: Die Familie findet<br />
dieses „Schnüffeln“ nicht gut<br />
Es ist fast immer eine einzelne Person<br />
in einer Familie, die nun endlich<br />
wirklich wissen will, was ein Vorfahr<br />
„damals“ gemacht hat, und die die<br />
Recherche auf sich nimmt. Das gibt<br />
oft Ärger mit anderen Familienangehörigen<br />
- weil das positive Bild eines<br />
Vorfahren in Frage gestellt wird. Die<br />
Reaktion kann bis zum Beziehungsabruch<br />
führen. Der allerdings nicht<br />
von Dauer sein muss.<br />
Es hilft, sich zu vergegenwärtigen,<br />
dass es richtig ist, so viele Jahrzehnte<br />
danach es „genau“ wissen zu wollen.<br />
Denn sonst verfestigt sich die<br />
Mär, dass die Nazis immer nur die<br />
anderen waren. Viele Nachforschende<br />
sehen sich verpflichtet, der Wahrheit<br />
ins Gesicht zu sehen, sie wollen<br />
sich der Verantwortung stellen. Verwandte<br />
über heikle Rechercheergebnisse<br />
nicht per Brief informieren, sondern<br />
im persönlichen Gespräch.<br />
Denn es ist eine große Herausforderung,<br />
sich vorzustellen, dass jemand,<br />
den man liebt, auch schlecht<br />
gehandelt haben könnte. Menschen<br />
müssen nun mal nicht grundsätzlich<br />
böse sein, um Schlechtes tun zu können.<br />
Es reicht, dass jemand die eigenen<br />
moralischen Werte nicht für alle<br />
Menschen gelten lässt, sondern nur<br />
für „Arier“ - nur mal als Beispiel.<br />
Wenn jemand aus der nunmehr sehr<br />
alten Vorgängergeneration „davon“<br />
partout nichts hören will, sollte man<br />
das respektieren.<br />
Problem: Ich versteh das alles<br />
nicht<br />
Historische Dokumente sind zu einem<br />
anderen Zweck geschrieben als<br />
25