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Gedenkschrift 2018-Endfassung

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Erinnerungsfragmenten entlanghangelt<br />

(Das ist ein Tipp der Göttinger<br />

Professorin Gabriele Rosenthal, die<br />

eine Methodik der narrativen<br />

Biographieforschung entwickelt hat.)<br />

Wahr oder unwahr? Kaum jemand<br />

kann sich nach Jahrzehnten noch<br />

genau an eine Begebenheit erinnern;<br />

die Erinnerung wird überlagert<br />

von späteren Einschätzungen;<br />

manche der angegebenen Daten<br />

sind falsch; Ereignisse aus verschiedenen<br />

Jahren werden erzählend zu<br />

einem einzigen Ereignis verschmolzen.<br />

Usw. Aber komplett falsch sind<br />

Erzählungen auch selten.<br />

Bei wichtigen Familienerzählungen<br />

jeden Satzteil einzeln recherchieren!<br />

Probeweise auch ersetzen durch<br />

andere Begriffe und Daten. (Eigenes<br />

Beispiel: „Der Opa sollte Zwangsarbeiter<br />

ausheben, das wollte er nicht.“<br />

Tatsächlich sollte er Kriegsgefangene<br />

rekrutieren, als Spione.)<br />

Nächster Schritt<br />

Alles, was man in der Familie<br />

erfahren und gefunden hat, aufschreiben.<br />

Geburtsdatum, alle<br />

Wohn- und Aufenthaltsorte, Ehepartner,<br />

Berufskollegen, Arbeitgeber,<br />

Namen von Freunden, Berufe,<br />

Vereinszugehörigkeiten, Interessen,<br />

überlieferte Erinnerungen, Briefe...<br />

Wichtigste Frage ist dabei: Wo war<br />

dieser Mensch überhaupt? Dann<br />

kann man viel gezielter weiterforschen,<br />

etwa in Landesarchiven.<br />

Problem: Ich kann das nicht<br />

lesen, weil Sütterlinschrift<br />

Manche der alten Dokumente sind<br />

handschriftlich verfasst, in Sütterlin.<br />

Was tun?<br />

1. Einen alten Menschen ums<br />

mündliche Übersetzen bitten<br />

(Nachbarn, Bekannte, Verwandte) -<br />

die freuen sich!<br />

2. Eine der acht ehrenamtlichen<br />

Sütterlinstuben [11] in Deutschland<br />

um Übertragung bitten (kostet nichts,<br />

aber über Spenden freut man sich).<br />

Erste Orientierung<br />

Überaus wertvoll für private<br />

GeschichtsforscherInnen ist die<br />

Wissenssammlung wikipedia [12].<br />

Denn über Wikipedia findet man<br />

erste Infos zu NS-Organisationen, zu<br />

Kriegsschauplätzen, und, sehr<br />

wichtig, man findet die korrekten<br />

Begrifflichkeiten. Zum Beispiel<br />

„Spruchkammerakte“ oder „Generalplan<br />

Ost.“<br />

Lesen, lesen, lesen!<br />

Mit den richtigen Begriffen kann man<br />

weitersuchen - zum Beispiel nach<br />

Buchtiteln, etwa bei Amazon. Bücher<br />

braucht man, um sich detailliertes<br />

Hintergrundwissen anzueignen und<br />

das Umfeld/Wirkungsfeld des Vorfahren<br />

auszuleuchten. Und es gibt<br />

inzwischen eine Menge Fachliteratur<br />

zu den konkreten Aktionsfeldern des<br />

NS-Staates: deutsche Besatzungsherrschaft,<br />

Polizeiapparat, Wehrmacht,<br />

auch nachgeordnete Einheiten<br />

von Militär und Zivilverwaltung.<br />

Die Bücher kann man gebraucht kaufen<br />

(etwa auf Amazon und Antiquariatsportalen<br />

wie www.zvab.de), oder<br />

man bestellt sie in eine Bibliothek<br />

zum Lesen. Über die Digitale Bibliothek<br />

[13] kann man 500 Bibliothekskataloge<br />

nach einem Titel oder einem<br />

Thema durchforsten oder auch<br />

nur den Katalog der nächstgelegenen<br />

Biblitohek.<br />

Problem: Mich macht das<br />

krank<br />

Solche Recherchen sind aufwändig<br />

und nervenaufreibend, können sogar<br />

(vorübergehend) die Gesundheit beeinträchtigen.<br />

Schwer auszuhalten<br />

ist zum Beispiel:<br />

- der Widerstand anderer Familienmitglieder;<br />

- das Suchen in alle nur möglichen<br />

Richtungen, damit verbunden immer<br />

wieder Verlust der Übersicht - das<br />

Lesen grauenvoller Dokumente über<br />

Kriegsverbrechen;<br />

- der feindselige oder kalte Tonfall<br />

von Dokumenten aus der NS-Zeit;<br />

- die gleichzeitige Suche nach entlastendem<br />

wie belastendem Material -<br />

dass man sich den Vorfahr als guten<br />

Menschen wie als Verbrecher vorstellen<br />

muss;<br />

- die gewisse Einsamkeit, wenn man<br />

sich intensiv nur mit Vergangenem<br />

beschäftigt.<br />

Es hilft, sich eine Freundin oder einen<br />

Verwandten zu suchen, der/die<br />

sehr interessiert ist am Fortgang der<br />

Recherche, aber emotional nicht so<br />

nahe dran. Wichtig: Die Recherche<br />

auch mal ruhen lassen. Sich anderen<br />

Dingen und vor allem Menschen<br />

widmen.<br />

Problem: Die Familie findet<br />

dieses „Schnüffeln“ nicht gut<br />

Es ist fast immer eine einzelne Person<br />

in einer Familie, die nun endlich<br />

wirklich wissen will, was ein Vorfahr<br />

„damals“ gemacht hat, und die die<br />

Recherche auf sich nimmt. Das gibt<br />

oft Ärger mit anderen Familienangehörigen<br />

- weil das positive Bild eines<br />

Vorfahren in Frage gestellt wird. Die<br />

Reaktion kann bis zum Beziehungsabruch<br />

führen. Der allerdings nicht<br />

von Dauer sein muss.<br />

Es hilft, sich zu vergegenwärtigen,<br />

dass es richtig ist, so viele Jahrzehnte<br />

danach es „genau“ wissen zu wollen.<br />

Denn sonst verfestigt sich die<br />

Mär, dass die Nazis immer nur die<br />

anderen waren. Viele Nachforschende<br />

sehen sich verpflichtet, der Wahrheit<br />

ins Gesicht zu sehen, sie wollen<br />

sich der Verantwortung stellen. Verwandte<br />

über heikle Rechercheergebnisse<br />

nicht per Brief informieren, sondern<br />

im persönlichen Gespräch.<br />

Denn es ist eine große Herausforderung,<br />

sich vorzustellen, dass jemand,<br />

den man liebt, auch schlecht<br />

gehandelt haben könnte. Menschen<br />

müssen nun mal nicht grundsätzlich<br />

böse sein, um Schlechtes tun zu können.<br />

Es reicht, dass jemand die eigenen<br />

moralischen Werte nicht für alle<br />

Menschen gelten lässt, sondern nur<br />

für „Arier“ - nur mal als Beispiel.<br />

Wenn jemand aus der nunmehr sehr<br />

alten Vorgängergeneration „davon“<br />

partout nichts hören will, sollte man<br />

das respektieren.<br />

Problem: Ich versteh das alles<br />

nicht<br />

Historische Dokumente sind zu einem<br />

anderen Zweck geschrieben als<br />

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