06.02.2018 Aufrufe

soziologie heute August 2016

Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschen Sprachraum. Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at

Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschen Sprachraum.
Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

scheinbar die Orientierung. In dieser<br />

zweigeteilten Welt brauche ich<br />

mich nicht mehr mit den vielfältigen<br />

Grauschattierungen, den ineinanderfl<br />

ießenden Farbtönen – oder anders<br />

ausgedrückt – den mühevollen<br />

Diskursen gesellschaftlicher Vielfalt<br />

und der Suche nach Wahrheit – abgeben.<br />

Von Andersdenkenden grenze<br />

ich mich ab, denn sie stellen eine<br />

Gefahr darf, die mein (zweigeteiltes)<br />

Weltbild hinterfragt. Genau hier<br />

setzen Religionslehrer an, die auf<br />

ihren Dogmen beharren und sich<br />

allem Nachfragen verwehren. Das<br />

Absolutsetzen ihrer Religion, das<br />

Aussprechen von Denkverboten und<br />

die Gleichsetzung von Religion und<br />

Staat schottet sie von Andersdenkenden<br />

ab. Wer allerdings für sich<br />

in Anspruch nimmt, die absolute religiöse<br />

Wahrheit gepachtet zu haben<br />

und Kritik nicht zulässt, sondern<br />

diese mit Drohungen und Gewalt zu<br />

ersticken versucht, verweist damit<br />

auf seine größte Schwäche. Es ist<br />

die Angst, die Angst vor Neuem. Und<br />

gerade diese Angst macht Religion<br />

zur Gefahr. Parallelen zur Zeit der<br />

Vor-Reformation der Christenheit<br />

sind hier unschwer zu erkennen.<br />

Teil einer größeren Sache<br />

sein können<br />

Bestimmte Gruppierungen wie z.<br />

B. die Salafi sten machen sich die<br />

Schwarzweiß-/Gut/Böse-Sicht zunutze<br />

und bieten gerade für jene,<br />

die sich gesellschaftlich an den<br />

Rand gedrängt fühlen, nach Identität<br />

suchen und von Zukunftsängsten<br />

geplagt sind, ein Auffangbecken.<br />

Wer hier seinen Platz gefunden hat,<br />

dem wird das Gefühl vermittelt, Teil<br />

einer großen Sache zu sein. Er ist<br />

damit besser als die anderen.<br />

Diese Pächter der absoluten Wahrheit<br />

schotten ihre Anhänger systematisch<br />

vom Umfeld ab. In Privatwohnungen<br />

und Hinterzimmern,<br />

aber auch in einschlägigen sozialen<br />

Medien, verbreiten sie ungehindert<br />

ihre Lehren und wehren eine freie,<br />

vernunftgemäße Religionskritik vehement<br />

ab.<br />

Dieses „Teil einer größeren Sache<br />

sein“ ist es auch, was gerade jüngere<br />

Menschen so anfällig für Phänomene<br />

wie dem IS macht. Es ist<br />

nicht die intensive Beschäftigung<br />

mit dem Koran, mit den Lehren des<br />

Propheten, die sie radikalisiert. Es<br />

sind vielmehr die vereinfachten<br />

Schwarz-Weiß-Lehren selbsternannter<br />

Prediger, die den in einer komplexen<br />

und zunehmend undurchschaubaren<br />

Welt nach Antworten<br />

und Sinn suchenden Jugendlichen<br />

scheinbare Orientierung vermitteln.<br />

Es ist der Ausweg aus einer Gesellschaft,<br />

wo ihnen Bildungs- und Aufstiegschancen<br />

verwehrt erscheinen,<br />

der Ausweg aus einer Gesellschaft,<br />

die sich zunehmend von ihnen zurückzieht.<br />

Teil einer größeren Sache<br />

sein können heißt für sie, endlich<br />

auch einmal auf der Sieger-Seite<br />

stehen zu dürfen. Und jeder erfolgreiche<br />

Terrorakt ist für sie eine Bestätigung,<br />

dass diese Gesellschaft,<br />

in der sie bislang keinen Platz fanden,<br />

schwach ist, ja dem Untergang<br />

geweiht sein muss. Wenn dies noch<br />

dazu mit Parolen vom Heiligen Krieg<br />

im Namen Allahs begleitet wird,<br />

muss es eine große Sache sein, für<br />

die es sich lohnt, auch sein Leben<br />

zu lassen.<br />

Der Islamprediger Pierre Vogel während einer<br />

Kundgebung in Freiburg im Breisgau am 7. Juni<br />

2014 (Foto: ireas, wikimedia commons)<br />

Die meisten Opfer sind selbst<br />

Muslime!<br />

Zu alledem kommt eine weitere Entwicklung,<br />

die dem Terror eine neue<br />

Qualität verleiht. Wurden zunächst<br />

Anschläge von Organisationen wie<br />

Al Qaida und IS geplant, Leute rekrutiert<br />

und ausgebildet, so treten<br />

nunmehr offensichtliche „Selbst-<br />

Rekrutierer“ in Erscheinung. Propagandavideos<br />

in sozialen Netzwerken<br />

sprechen gerade labile Menschen<br />

gezielt an. Bislang unauffällige und<br />

scheinbar integrierte Menschen<br />

werden plötzlich zu Attentätern. Attentäter,<br />

die noch gefährlicher sind,<br />

weil sie unberechenbar und unvorhersehbar<br />

dort zuschlagen, wo es<br />

keiner erwartet.<br />

Es ist der militante Islamismus, der<br />

große Bevölkerungsteile mit Furcht<br />

und Schrecken erfüllt und dazu führen<br />

kann, sämtliche Muslime als<br />

fundamentalistisch oder gar terroristisch<br />

zu verdächtigen. Wenn dies<br />

geschieht, dann ist es ein weiterer<br />

Etappensieg der „Gotteskrieger“.<br />

Dabei darf keineswegs vergessen<br />

werden, dass der Großteil der Muslime<br />

dem militanten Islamismus<br />

mit Ablehnung gegenübersteht. Ein<br />

Blick auf den Nahen Osten, auf Asien<br />

und Afrika zeigt uns auch, dass<br />

gerade Muslime am häufi gsten Opfer<br />

der Gräueltaten des IS und von<br />

Boku Haram sind.<br />

Angst vor Kritik<br />

Die Schwäche des Islam liegt insbesondere<br />

darin, dass viele Islamgelehrte<br />

Angst vor Islamkritik haben,<br />

weil sie glauben, damit die muslimische<br />

Identität preiszugeben. Doch<br />

die Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit<br />

einer Religion zeigt sich nicht<br />

am starren Festhalten an Dogmen,<br />

sondern am offenen Dialog - auch<br />

mit Nichtmuslimen -, dem Ringen<br />

um (neue) Interpretationen, klaren<br />

Stellungnahmen und Verantwortungsübernahme.<br />

Erst dann ist man<br />

als Glaubender auch glaubwürdig.<br />

Um den Reformprozess innerhalb<br />

<strong>August</strong> <strong>2016</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 13

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!