soziologie heute August 2016
Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschen Sprachraum. Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at
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scheinbar die Orientierung. In dieser<br />
zweigeteilten Welt brauche ich<br />
mich nicht mehr mit den vielfältigen<br />
Grauschattierungen, den ineinanderfl<br />
ießenden Farbtönen – oder anders<br />
ausgedrückt – den mühevollen<br />
Diskursen gesellschaftlicher Vielfalt<br />
und der Suche nach Wahrheit – abgeben.<br />
Von Andersdenkenden grenze<br />
ich mich ab, denn sie stellen eine<br />
Gefahr darf, die mein (zweigeteiltes)<br />
Weltbild hinterfragt. Genau hier<br />
setzen Religionslehrer an, die auf<br />
ihren Dogmen beharren und sich<br />
allem Nachfragen verwehren. Das<br />
Absolutsetzen ihrer Religion, das<br />
Aussprechen von Denkverboten und<br />
die Gleichsetzung von Religion und<br />
Staat schottet sie von Andersdenkenden<br />
ab. Wer allerdings für sich<br />
in Anspruch nimmt, die absolute religiöse<br />
Wahrheit gepachtet zu haben<br />
und Kritik nicht zulässt, sondern<br />
diese mit Drohungen und Gewalt zu<br />
ersticken versucht, verweist damit<br />
auf seine größte Schwäche. Es ist<br />
die Angst, die Angst vor Neuem. Und<br />
gerade diese Angst macht Religion<br />
zur Gefahr. Parallelen zur Zeit der<br />
Vor-Reformation der Christenheit<br />
sind hier unschwer zu erkennen.<br />
Teil einer größeren Sache<br />
sein können<br />
Bestimmte Gruppierungen wie z.<br />
B. die Salafi sten machen sich die<br />
Schwarzweiß-/Gut/Böse-Sicht zunutze<br />
und bieten gerade für jene,<br />
die sich gesellschaftlich an den<br />
Rand gedrängt fühlen, nach Identität<br />
suchen und von Zukunftsängsten<br />
geplagt sind, ein Auffangbecken.<br />
Wer hier seinen Platz gefunden hat,<br />
dem wird das Gefühl vermittelt, Teil<br />
einer großen Sache zu sein. Er ist<br />
damit besser als die anderen.<br />
Diese Pächter der absoluten Wahrheit<br />
schotten ihre Anhänger systematisch<br />
vom Umfeld ab. In Privatwohnungen<br />
und Hinterzimmern,<br />
aber auch in einschlägigen sozialen<br />
Medien, verbreiten sie ungehindert<br />
ihre Lehren und wehren eine freie,<br />
vernunftgemäße Religionskritik vehement<br />
ab.<br />
Dieses „Teil einer größeren Sache<br />
sein“ ist es auch, was gerade jüngere<br />
Menschen so anfällig für Phänomene<br />
wie dem IS macht. Es ist<br />
nicht die intensive Beschäftigung<br />
mit dem Koran, mit den Lehren des<br />
Propheten, die sie radikalisiert. Es<br />
sind vielmehr die vereinfachten<br />
Schwarz-Weiß-Lehren selbsternannter<br />
Prediger, die den in einer komplexen<br />
und zunehmend undurchschaubaren<br />
Welt nach Antworten<br />
und Sinn suchenden Jugendlichen<br />
scheinbare Orientierung vermitteln.<br />
Es ist der Ausweg aus einer Gesellschaft,<br />
wo ihnen Bildungs- und Aufstiegschancen<br />
verwehrt erscheinen,<br />
der Ausweg aus einer Gesellschaft,<br />
die sich zunehmend von ihnen zurückzieht.<br />
Teil einer größeren Sache<br />
sein können heißt für sie, endlich<br />
auch einmal auf der Sieger-Seite<br />
stehen zu dürfen. Und jeder erfolgreiche<br />
Terrorakt ist für sie eine Bestätigung,<br />
dass diese Gesellschaft,<br />
in der sie bislang keinen Platz fanden,<br />
schwach ist, ja dem Untergang<br />
geweiht sein muss. Wenn dies noch<br />
dazu mit Parolen vom Heiligen Krieg<br />
im Namen Allahs begleitet wird,<br />
muss es eine große Sache sein, für<br />
die es sich lohnt, auch sein Leben<br />
zu lassen.<br />
Der Islamprediger Pierre Vogel während einer<br />
Kundgebung in Freiburg im Breisgau am 7. Juni<br />
2014 (Foto: ireas, wikimedia commons)<br />
Die meisten Opfer sind selbst<br />
Muslime!<br />
Zu alledem kommt eine weitere Entwicklung,<br />
die dem Terror eine neue<br />
Qualität verleiht. Wurden zunächst<br />
Anschläge von Organisationen wie<br />
Al Qaida und IS geplant, Leute rekrutiert<br />
und ausgebildet, so treten<br />
nunmehr offensichtliche „Selbst-<br />
Rekrutierer“ in Erscheinung. Propagandavideos<br />
in sozialen Netzwerken<br />
sprechen gerade labile Menschen<br />
gezielt an. Bislang unauffällige und<br />
scheinbar integrierte Menschen<br />
werden plötzlich zu Attentätern. Attentäter,<br />
die noch gefährlicher sind,<br />
weil sie unberechenbar und unvorhersehbar<br />
dort zuschlagen, wo es<br />
keiner erwartet.<br />
Es ist der militante Islamismus, der<br />
große Bevölkerungsteile mit Furcht<br />
und Schrecken erfüllt und dazu führen<br />
kann, sämtliche Muslime als<br />
fundamentalistisch oder gar terroristisch<br />
zu verdächtigen. Wenn dies<br />
geschieht, dann ist es ein weiterer<br />
Etappensieg der „Gotteskrieger“.<br />
Dabei darf keineswegs vergessen<br />
werden, dass der Großteil der Muslime<br />
dem militanten Islamismus<br />
mit Ablehnung gegenübersteht. Ein<br />
Blick auf den Nahen Osten, auf Asien<br />
und Afrika zeigt uns auch, dass<br />
gerade Muslime am häufi gsten Opfer<br />
der Gräueltaten des IS und von<br />
Boku Haram sind.<br />
Angst vor Kritik<br />
Die Schwäche des Islam liegt insbesondere<br />
darin, dass viele Islamgelehrte<br />
Angst vor Islamkritik haben,<br />
weil sie glauben, damit die muslimische<br />
Identität preiszugeben. Doch<br />
die Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit<br />
einer Religion zeigt sich nicht<br />
am starren Festhalten an Dogmen,<br />
sondern am offenen Dialog - auch<br />
mit Nichtmuslimen -, dem Ringen<br />
um (neue) Interpretationen, klaren<br />
Stellungnahmen und Verantwortungsübernahme.<br />
Erst dann ist man<br />
als Glaubender auch glaubwürdig.<br />
Um den Reformprozess innerhalb<br />
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