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soziologie heute August 2016

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dargestellt. Es wird suggeriert, eine<br />

Entscheidung zur Organspende sei<br />

leicht und einfach zu treffen, Organspender<br />

und Organspenderinnen<br />

übernähmen Verantwortung für ihre<br />

Familien und linderten das Leiden<br />

von Personen, die auf ein Organ<br />

warten. Bedenken hingegen werden<br />

gänzlich ausgeblendet, und so<br />

fühlen sich die Menschen durch die<br />

Kampagnen nicht in erster Linie gut<br />

informiert und zu einer tieferen Auseinandersetzung<br />

aufgerufen, sondern<br />

subtil unter Druck gesetzt.“ Teilweise,<br />

so Schicktanz weiter, würden<br />

auch Fehlinformationen dargestellt.<br />

So suggerierten Slogans wie „Du bekommst<br />

alles von mir, ich auch von<br />

Dir?“, dass es von der eigenen Haltung<br />

zur Organspende abhängt, ob<br />

man im Notfall selbst ein Organ bekommen<br />

würde.<br />

Entscheidung gegen Organspende<br />

oft kulturell bedingt<br />

Die begleitenden Interviews und Gespräche<br />

zeigen, dass der Wunsch,<br />

keine Organe zu spenden, nicht einfach<br />

auf mangelnde Information oder<br />

Misstrauen reduziert werden kann.<br />

Vielmehr ist die Skepsis gegenüber<br />

einer Organspende auch an tiefgreifende<br />

kulturelle Vorstellungen von<br />

Tod und Körperlichkeit gebunden.<br />

So bezweifeln nicht wenige, dass<br />

der Hirntod, eine Voraussetzung für<br />

Organspenden, mit dem endgültigen<br />

Tod des Menschen gleichgesetzt<br />

werden kann. Zudem stellt für<br />

viele der Befragten die Entnahme<br />

von Organen auch nach dem Tod<br />

einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit<br />

dar. „Das Unbehagen,<br />

das mit einer solchen Vorstellung<br />

verbunden ist, kann nicht einfach<br />

übergangen oder als irrational abgetan<br />

werden“, sagt Silke Schicktanz.<br />

„In Kampagnen und der öffentlichen<br />

Diskussion werden solche Haltungen<br />

jedoch nicht adressiert, dabei sind<br />

der Schutz des eigenen Lebens und<br />

der Wunsch nach einem respektvollen<br />

Umgang mit dem eigenen Körper<br />

nach dem Tod gute Gründe für eine<br />

Entscheidung – auch gegen eine Organspende.“<br />

Forschung<br />

Selfies wissenschaftlich betrachtet<br />

Warum sich Menschen selbst fotografi eren<br />

von André Zeppenfeld, Universität Siegen<br />

Täglich knipsen sich Millionen Menschen<br />

mit ihren Smartphones und stellen die Bilder<br />

ins Netz. Lydia Korte hat noch nie ein<br />

Selfi e gepostet, sie mag sich selbst auf<br />

Fotos nicht besonders. Aber die 26-Jährige<br />

hat die digitalen Selbstporträts zum<br />

Thema ihrer Doktorarbeit im Bereich Medienästhetik<br />

an der Universität Siegen<br />

gemacht. „In meinem Freundes- und Bekanntenkreis<br />

sind Selfi es total normal –<br />

fast jeder fotografi ert sich selbst“, erklärt<br />

Korte: „In der öffentlichen Diskussion<br />

wird das ja häufi g mit einem gewissen<br />

Narzissmus in Verbindung gebracht. Ich<br />

kann mir aber nicht vorstellen, dass alle<br />

meine Freunde so selbstverliebt sind.“<br />

Welche anderen Gründe gibt es also,<br />

Selfi es zu schießen? Das möchte Lydia<br />

Korte in den kommenden sechs Jahren<br />

untersuchen. „Selfi e-Kulturen“ lautet der<br />

Arbeitstitel ihrer Dissertation, die noch<br />

ganz am Anfang steht. Erst im April wurde<br />

sie offi ziell angemeldet. Mit Selfi es<br />

beschäftigt sich Korte allerdings schon<br />

länger: Schon in ihrer Master-Arbeit hat<br />

die damalige Medienkultur-Studentin Selfi<br />

es analysiert und Interviews mit „Selfi e-<br />

Takern“ (Menschen, die Selfi es machen)<br />

geführt. Dabei hat sie zum Beispiel herausgefunden,<br />

dass sich bei Weitem nicht<br />

nur junge Menschen mit ihren Smartphones<br />

ablichten. Zwar seien Selfi es bei den<br />

15- bis 30-Jährigen besonders beliebt,<br />

so Korte: „Aber auch ältere Menschen<br />

fotografi eren sich selbst, zum Beispiel<br />

im Urlaub oder mit den Enkeln.“ Frauen<br />

machten dabei etwas häufi ger Selfi es als<br />

Männer – und ihre Posen auf den Fotos<br />

seien durchdachter: „Frauen fotografi e-<br />

ren sich mehr von oben und sie neigen<br />

den Kopf in einem bestimmten Winkel,<br />

um jünger und schöner auszusehen“, so<br />

die Doktorandin. Männern sei es dagegen<br />

eher wichtig, auf den Selbstporträts<br />

dominant und stark zu wirken.<br />

Wer glaubt, Lydia Korte würde für ihre<br />

Promotion den ganzen Tag Selfi es betrachten<br />

und auswerten, irrt allerdings.<br />

Tatsächlich arbeitet sie in erster Linie theoretisch.<br />

Aktuell beschäftigt sie sich zum<br />

Beispiel mit Erinnerungstheorien, also<br />

der Frage: „Wie erinnern wir?“ Ihre These:<br />

Wir machen Selfi es auch, um uns zu erinnern.<br />

Dabei gehe es weniger um das Foto<br />

selbst, erklärt Korte, sondern vielmehr<br />

um das Selfi e-Taking, also den Akt des Fotografi<br />

erens: „Unser Alltag ist so hektisch<br />

und so überladen mit Ereignissen und Informationen.<br />

Wenn wir einen bestimmten<br />

Moment erinnerungswürdig fi nden und in<br />

einem Selfi e festhalten, dann bedeutet<br />

allein das Fotografi eren schon ein gewisses<br />

Innehalten.“<br />

Einen besonderen Augenblick festhalten<br />

– das geht über Selfi es besonders<br />

gut, meint Korte: Durch die Nähe zwischen<br />

Kamera und Gesicht ließen sich<br />

auch die mit dem Moment verbundenen<br />

Emotionen einfangen und später besser<br />

erinnern. Außerdem stehe kein Fotograf<br />

dazwischen: „Selfi es werden oft spontan<br />

gemacht, der Selfi e-Taker kann den Prozess<br />

selbst steuern und den Moment in<br />

seiner Unmittelbarkeit festhalten.“<br />

Selfi es werden aber auch genutzt, um Erinnerungen<br />

zu teilen, so die 26-jährige:<br />

„Aus dem Urlaub verschicken viele Menschen<br />

inzwischen eher ein Selfi e, als eine<br />

Postkarte. Man schreibt nicht mehr ,Hier<br />

ist es schön, das Wetter ist super und mir<br />

geht‘s gut‘. Man schickt einfach ein Bild<br />

von sich, im Sonnenschein, vor toller Kulisse<br />

und jeder weiß Bescheid.“ Diese visuelle<br />

Art der Kommunikation sei besonders<br />

bei jungen Menschen beliebt, sagt<br />

Lydia Korte. 15- bis 20-Jährige würden<br />

<strong>heute</strong> eher Bilder versenden, als Texte zu<br />

tippen. Das zeigt sich auch in der Nutzung<br />

sozialer Medien: Viele Teenager sind mittlerweile<br />

mehr auf Instagram unterwegs,<br />

als bei Facebook. Auf der Foto-Plattform<br />

werden die meisten Selfi es gepostet.<br />

Lydia Korte ist bewusst, dass sie vermutlich<br />

immer wieder neue Aspekte mit<br />

einbeziehen, beziehungsweise Teile ihrer<br />

Arbeit nachträglich ändern muss. „Aber<br />

gerade das macht es ja so spannend.“<br />

30 <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> <strong>August</strong> <strong>2016</strong>

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