soziologie heute August 2016
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Public Observer<br />
Interregnum: Willkommen<br />
in der Neuen Weltordnung<br />
von Bernhard Martin<br />
Wirtschaft und Arbeit, Staat und Gesellschaft<br />
sowie supranationale Institutionen<br />
und Organisationen scheinen seit geraumer<br />
Zeit in dekonstruktiver Aufl ösung<br />
begriffen. Auch in Europa häufen sich<br />
instabile Übergangsregierungen sowie<br />
politische Popanze in Präsidialrepubliken.<br />
Jede Aussicht auf Rückkehr zu einem als<br />
„heile Welt“ erinnerten Status quo ante<br />
scheint obsolet. Was kommt, bleibt unklar.<br />
Soziologische Forschung unter dem<br />
Überbegriff von (gerichteter) Transformation<br />
vermag die Ziele laufender Veränderungsprozesse<br />
schwerlich vorauszusehen.<br />
Panta rhei – „Alles fl ießt“ ist das<br />
vielzitierte gefl ügelte Wort, das die (Fluss-)<br />
Lehre vom ewigen Werden und Wandeln<br />
des griechischen Philosophen Heraklit auf<br />
den Punkt bringt. „Nix is fi x“ könnte man<br />
die Kernaussage Wienerisch übersetzen.<br />
Doch weder Philosophie noch einfache<br />
Weisheiten taugen zur Prognose. Und wo<br />
auch kritischer Journalismus und Elitenforschung<br />
keine Klarheit bringen, entstehen<br />
Verschwörungstheorien. Vor allem<br />
im Internet wird eine von geheimen Eliten<br />
konstruierte Neue Weltordnung als dräuende<br />
Herrschaftsform der nahen Zukunft<br />
beschrieben.<br />
Basierend auf der Aristotelischen Klassifi<br />
kation antiker Verfassungen wurde ein<br />
Kreislauf des Verfalls angenommen, welcher<br />
sein Drehmoment maßgeblich aus<br />
der zunehmenden Dekadenz der herrschenden<br />
Akteure erfahre: Die Monarchie<br />
verfalle zur Tyrannis, welche wiederum<br />
von der Aristokratie abgelöst werde.<br />
Diese verfalle zur Oligarchie aus der wiederum<br />
eine Politie (das Gemeinwesen,<br />
das von den Besonnenen geleitet wird)<br />
hervor trete, um seinerseits in der Demokratie<br />
zu verfallen. Bis diese „Verfallserscheinung“<br />
wieder durch eine Monarchie<br />
ersetzt werde. Aristoteles differenzierte<br />
als gute bzw. legitime Herrschaftsformen<br />
die Monarchie, die Aristokratie sowie die<br />
Politie während Tyrannis, Oligarchie sowie<br />
Demokratie als deren entartete Verfallsformen<br />
galten. Der Verfall trete ein,<br />
wenn das Gemeinwohl von zu viel Eigennutz<br />
geschädigt werde.<br />
Dass dieses theoretische Modell vom<br />
Kreislauf der Verfassungen etwa aus der<br />
Geschichte Österreichs empirisch unbeweisbar<br />
bleibt, könnte man (zynisch)<br />
schon daraus ableiten, dass hierzulande<br />
noch nie die Vernünftigsten der Mehrheit<br />
dienliche Entscheidungen getroffen<br />
haben… Auf jeden Fall lässt sich sagen,<br />
dass auch in zivilisierten und technologisch<br />
fortgeschrittenen Staaten einiges<br />
im Argen liegt – insbesondere die Fairness<br />
in der Wirtschaft und der erodierende<br />
gesellschaftliche Zusammenhalt<br />
– scheint unabhängig von der nationalen<br />
Herrschaftsform der über Jahrzehnte<br />
gewachsenen Asymmetrie in der globalen<br />
Wohlstandsverteilung sowie interkulturellen<br />
Verteilungskämpfen geschuldet<br />
zu sein. Dies wird den viel gescholtenen<br />
politischen Eliten zumal jenen des kapitalistischen<br />
Westens von einer zunehmend<br />
verunsicherten Bevölkerung angelastet.<br />
Wer profitiert und wodurch?<br />
Doch Verschwörungstheorien sind in einfl<br />
ussreichen Massenmedien sowie den<br />
„relevanten“ Qualitätsmedien verpönt.<br />
Daher auch der Vorwurf „Lügenpresse“<br />
an diese aus diversen Internet-Foren,<br />
in den Sozialen Medien und seitens oppositioneller<br />
politischer Bewegungen.<br />
Wobei der Begriff Verschwörungstheorie<br />
als solcher – losgelöst vom jeweils<br />
transportierten Verdacht – keineswegs<br />
zu desavouieren ist. Denn es ist gerade<br />
die wissenschaftliche Methodik, die<br />
ohne Theoriebildung nicht auskommt.<br />
Es werden Hypothesen gebildet, die es<br />
zu überprüfen gilt. Desgleichen hat etwa<br />
auch für forschende Annahmen in der<br />
Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft<br />
zu gelten, so der deutsche<br />
Journalist und Sachbuchautor Paul<br />
Schreyer in seiner Buchneuerscheinung<br />
„Wer regiert das Geld?“ – Nimmt etwa<br />
ein leitender Staatsanwalt an, dass zu<br />
untersuchende Personen sich zwecks<br />
Realisierung eines wirtschaftlichen oder<br />
politischen Zieles miteinander abgesprochen<br />
haben (ohne dies in legaler Weise<br />
transparent gemacht zu haben – wie<br />
etwa im Falle der BUWOG-Privatisierung<br />
angenommen), dann ist diese Annahme<br />
nicht nur für die ausführende Untersuchung<br />
durch Kriminalisten notwendig,<br />
sondern es basiert der Vorgang zu Recht<br />
und im Wortsinne auf einer Verschwörungstheorie.<br />
In der soziologischen Elitenforschung<br />
(z.B. Power Structure Research bzw.<br />
Machtelitenforschung) ist seit C. Wright<br />
Mills‘ Klassiker „The Power Elite“ gar<br />
nicht mehr zu bezweifeln, ob die bestvernetzten<br />
Milliardäre, Spitzenpolitiker,<br />
Industriekapitäne, Medienmagnaten,<br />
etc. durch Verabredungen das Gemeinwohl<br />
schädigen. Es ist <strong>heute</strong> vielmehr zu<br />
fragen in welcher Drastik und auf welche<br />
Weise bestehende Machtverhältnisse<br />
missbraucht werden.<br />
Längst sollte untersucht werden (auch<br />
forensisch), ob hinter so manchem Terroranschlag<br />
nicht unbedingt nur pathologische<br />
Einzeltäter oder fanatische<br />
Extremisten stecken, sondern auch wie<br />
in Folge von Anschlägen auch politische<br />
und wirtschaftliche Macht vermehrt<br />
wurde und wird. Insbesondere dort, wo<br />
davon schon im Übermaß besteht und<br />
Herrschaft immer skrupelloser verteidigt<br />
wird. So hat etwa der kritische Soziologe<br />
Henrik Kreutz bereits unmittelbar<br />
nach 9/11 im Jahr 2001 die damals<br />
(wie scheinbar auch <strong>heute</strong> noch) geradezu<br />
verpönte Annahme publiziert, ob<br />
der „Kreuzzug gegen den Djihad“ als<br />
Reaktion auf den sogenannten Kampf<br />
der Zivilisationen nicht etwa eine Folge<br />
„bornierter Selbstgerechtigkeit“ auf Seiten<br />
der USA sei?<br />
Fanal Türkei: Putsch von oben?<br />
Wenn also Verschwörungen und Interventionen<br />
elitärer Personengruppen<br />
kaum je vollends enthüllt werden und<br />
auch ein Kreislauf der Verfassungen<br />
bzw. der Kreislauf der Eliten (Vilfredo<br />
Pareto) nur zu einer von Chaos charakterisierten<br />
neuen Weltordnung führen<br />
mag, so sollte eine Einsicht umso klarer<br />
und allgemeiner bestehen: Dass in der<br />
internationalen Staatengemeinschaft<br />
offensichtliche Verbrechen gegenüber<br />
der Bevölkerung seitens willkürlich herrschender<br />
Staats- und Regierungschefs<br />
inakzeptabel bleiben und strenger sanktioniert<br />
werden.<br />
Dr. Bernhard MARTIN<br />
ist freischaffender Mediensoziologe in Wien<br />
Foto: Damaris, pixelio.de<br />
<strong>August</strong> <strong>2016</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 31