E_1933_Zeitung_Nr.005
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Bern, Dienstag, 17. Janaar <strong>1933</strong> III. Blatt der „Automobil-Revue" No. 5<br />
Die Allbelebtheit<br />
der Welt<br />
Vom grossen Humboldt stammt das schöne<br />
Wort von der Allbelebtheit der Erde. Wohin<br />
auch immer, sagte er, der Blick des Forschers<br />
dringt, dort findet er Leben oder Keim zum<br />
Leben verbreitet. Dieses Wort ist im buchstäblichen<br />
Sinne zu verstehen, denn tatsächlich<br />
ist der ganze Erdkreis von Keimen des<br />
Lebens durchsetzt.<br />
Würden diese Keime alle gedeihen und<br />
wirklich zum Leben führen, so hätten Pflanzen,<br />
Tiere und Menschen alsbald keinen Platz<br />
mehr auf dem Erdenrund. Die Natur hat- es<br />
jedoch so eingerichtet, dass sie einerseits mit<br />
verschwenderischer Hand die Lebenskeime<br />
verstreut, anderseits aber durch bestimmte<br />
~ »Voraussetzungen dafür doch Sorge getragen<br />
hat* dass das Leben nicht überwuchere. Wie<br />
gross die Fruchtbarkeit des Lebens auf dem<br />
Erdenrund ist, das geht aus den nachfolgenden,<br />
sehr interessanten Daten anschaulich<br />
hervor: Man hat berechnet, dass aus einem<br />
einzigen Glockentierchen innerhalb 24 Stunden<br />
möglicherweise 16 Millionen hervorgehen<br />
können; würde die Teilung in gleicher Weise<br />
nur eine Woche lang fortgesetzt, so würde<br />
das Glockentierchen sich zu einer Zahl vermehrt<br />
haben, die aus nicht weniger als 51<br />
Ziffern besteht. In einem einzigen Wassertropfen<br />
zum Beispiel können etwa soviel<br />
Monaden leben, als sich Menschen auf der<br />
P~*ie befinden. Mit ähnlichen Zahlen rechnen<br />
^ > Bakteriologen. Die so allgemeine Verbreitung<br />
des organischen Lebens auf der<br />
Erde ist vor allem bedingt durch die unbegrenzte<br />
Vermehrungsfähigkeit aller organischen<br />
Wesen, vermöge welcher bei ungehinderter<br />
Entwicklung jede Art in verhältnismässig<br />
sehr kurzer Zeit für sich aHein Imstande<br />
ist, mit ihren Nachkommen die ganze<br />
Erde zu bevölkern. Wie man leicht berechnen<br />
kann, liefert eine einjährige Pflanze, wenn sie<br />
auch nur zwei Samen erzeugt, bei völlig ungehinderter<br />
Vermehrung in zwanzig Jahren<br />
bereits eine Nachkommenschaft von 1 048 575<br />
Pflanzen. Eine so wenig fruchtbare Pflanze<br />
gibt es aber gar nicht; an einer einzigen einjährigen<br />
Pflanze, oder an den meisten ausdauernden<br />
Pflanzen werden alljährlich oft<br />
Hunderte und Tausende von Samen hervorgebracht.<br />
Der Gartenmohn zum Beispiel<br />
könnte bei einer Anzahl von 2000 Samen be-<br />
,p°its in der sechsten Generation 64 Trillionen<br />
anzen liefern, für welche die ganze Erdoberfläche<br />
keinen Raum mehr böte.<br />
Noch grösser ist die Macht des kleinsten<br />
Lebens auf der Erde. Nach Ehrenbergs Berechnungen<br />
vervielfältigt sich eine mikrosko-<br />
*pische Zellenpflanze innerhalb 24 Stunden zu<br />
einer Million, in vier Tagen zu 140 Billionen<br />
Pflanzenindividuen, die zusammen mit ihren<br />
Kieselschalen zwei Kubikfuss Erdmasse bilden<br />
können. Bei ungehemmter Vermehrung<br />
würde diese unsichtbare Alge in wenigen<br />
Tagen Massen erzeugen, welche der gesamten<br />
Erdmasse gleichkämen. Desgleichen ist die<br />
Verraehrungsfähigkeit der Tiere erstaunlich.<br />
F E U I L L E T O N<br />
Herrn Collins Abenteuer<br />
Roman von Frank Heller.<br />
(Fortsetzung aus dem Hauptblatt.)<br />
Lange Monate hindurch wurde Mr. Isaacs<br />
von verschiedenen Beförderungsmitteln von<br />
Afrikas einem Ende zum andern gewiegt.<br />
Die pesttriefenden Sümpfe und Urwälder<br />
Westafrikas wurden von den südafrikanischen<br />
Kopies abgelöst, von vorüberrollenden<br />
Ebenen und unendlichen Horizonten, denen<br />
neue Waldgürtel und Jagdgründe folgten,<br />
c Rhodesia», verkündete Mr. Bass — bis<br />
sich Mr. Isaacs endlich mit einem Seufzer<br />
der Erleichterung daheim in jenem Aegypten<br />
wiederfand, das seine Vorväter vor einigen<br />
1000 Jahren so töricht verlassen hatten.<br />
Nach Studienfahrten den Nil entlang landete er<br />
schliesslich im August in dem ausgestorbenen<br />
Kairo; und in Shepheards Hotel ereilte<br />
ihn sein Schicksal in Gestalt einer Jungen<br />
englischen Schauspielerin. Mrs. Daisy Bell,<br />
die dort hängengeblieben war.<br />
Welche Mächte Mrs. Bell bewogen, Mr.<br />
rIsaacs' Flehen Gehör zu schenken, wissen<br />
mr sie selbst und das Kairokontor von Parrs<br />
3ank, was für Mächte es hingegen waren,<br />
die Mr. Isaacs zu ihr zogen, ist leicht zu<br />
sagen. Er hatte die ganze Sehnsucht des<br />
Orientalen nach blauen Augen, blondem<br />
Eine ungeheuer zahlreiche Nachkommenschaft<br />
können namentlich solche Tiere erzeugen, die<br />
durch ihre Fruchtbarkeit hervorragen, wie<br />
dies zum Beispiel bei gewissen Nagern, bei<br />
Fischen, Insekten, Eingeweidewürmern und<br />
Mollusken der Fall ist. Von der Fortpflanzung<br />
der Nager sagt Brehm: «Hätten nicht auch<br />
sie ein ungezähltes Heer von Feinden gegen<br />
sich, sie würden die Erde beherrschen und<br />
verwüsten. Ihre Fruchtbarkeit und Vermehrungsfähigkeit<br />
ist ganz erstaunlich. Es klingt<br />
überraschend und ist dennoch wahr, dass ein<br />
Nagerpärchen binnen Jahresfrist seine Nachkommenschaft<br />
auf tausend bringen kann.»<br />
Unermesslich ist der Fischreichtum der<br />
Meere. Die Zahl der in der Nordsee treibenden<br />
Fischeier und jungen Larven wurde auf<br />
nahezu 67 Billionen berechnet. Im Rogen des<br />
Stockfisches und des Hausens zählt man zwei<br />
Wir entnehmen diese Schilderung der Hinrichtung<br />
der unglücklichen Königin Marie Antoinette<br />
dem hervorragenden neuen Buch Stefan<br />
Zweigs «Marie Antoinette, Bildnis eines mittleren<br />
Charakters.» (Insel T Verlag, Leipzig.) Siehe<br />
« Büchertisch > in dieser Nummer.<br />
Gegen 11 Uhr werden die Türen der<br />
Conciergerie geöffnet. Draussen steht der<br />
Schinderkarren, eine Art Leiterwagen, dem<br />
ein mächtiges, schweres Pferd vorgespannt<br />
ist. Ludwig XVI., er war noch in seiner geschlossenen<br />
Hofkarosse feierlich und respektvoll<br />
zum Tode geführt worden, beschützt<br />
durch die gläserne Wand vor der gröbsten<br />
Neugierde, dem schmerzhaftesten Hass. Inzwischen<br />
ist die Republik in ihrem feurigen<br />
Lauf unermesslich weiter geschritten; sie<br />
verlangt Gleichheit auch für die Fahrt zur<br />
Guillotine: eine Königin braucht nicht bequemer<br />
zu sterben als jeder andere Bürger,<br />
ein Leiterwagen ist gut genug für die Witwe<br />
Capet. Als Sitz dient einzig ein zwischen die<br />
Sprossen geschobenes Brett ohne Polster<br />
oder Decke: auch Madame Roland, Danton,<br />
Robespierre, Hubert, alle, die Marie Antoinette<br />
in den Tod schicken, werden auf dem<br />
gleichen harten Brette die letzte Fahrt<br />
machen; nur ein kurzes Stück Weg ist die<br />
Gerichtete ihren Richtern voraus.<br />
Zuerst treten Offiziere aus dem düstern<br />
Gang der Conciergerie, hinter ihnen eine<br />
ganze Wachkompanie, die Hand am Gewehr,<br />
dann kommt ruhig und sicheren Schrittes<br />
Marie Antoinette. Der Henker Samson hält<br />
sie an dem langen Strick, mit dem man ihr<br />
die Hände auf den Rücken gebunden hat, als<br />
ob Gefahr bestünde, dass sein Opfer, umringt<br />
von Hunderten von Wächtern und Soldaten,<br />
ihm noch entlaufen könnte. Unwillkürlich<br />
sind die Umstehenden von dieser unvermuteten<br />
und unnötigen Erniedrigung überrascht.<br />
Keiner der üblichen höhnischen Schreie erhebt<br />
sich. Ganz lautlos lässt man die Königin<br />
bis zum Karren schreiten. Dort bietet ihr<br />
Samson die Hand zum Aufstieg. Neben sie<br />
setzt sich der Priester Girard im bürgerlichen<br />
Haar und weisser Haut., und in Mrs. Bell<br />
fand er all dies — alles, wonach er unter<br />
demütig gesenkten Augenlidern in englischen<br />
Ballsälen ausgelugt hatte. Allerdings<br />
war Mrs. Bell ein bisschen frei, und ihre<br />
Rede alles eher als ja. ja, nein. nein, aber in<br />
Mr. Isaacs' Augen war sie ohne Makel, Einige<br />
selige Tage wurden in Kairo verbracht;<br />
dann fand Mrs. Bell die Stadt zu grässlich<br />
unheimlich, ein Lloyddampfer ging gerade<br />
zu gelegener Zeit von Alexandria ab. und<br />
Mitte September finden wir das Paar im<br />
«Hotel de Paris» in Monte Carlo, wo sie<br />
sich ganz beruhigt einlogiert hatten, da die<br />
. Stadt ausgestorben war. Mr. Bass war nach<br />
England vorausgeschickt worden.<br />
Einige Tage vergingen, während deren<br />
Mr. Isaacs. der nun ein sranzes Jahr lang das<br />
Börsenspiel entbehrt hatte, sich auf die<br />
Trente- und Quarantetische stürzte, 'während<br />
Mrs. Bell das Geld, das er ihr gab, bei<br />
der Roulette verspielte. Doch eines schönen<br />
Tages bekam Mr. Isaacs beim Lunch einen<br />
Brief von seinem Kontorchef, der für einen<br />
Augenblick sein Glück trübte.<br />
Am Tage vorher, schrieb der Kontorchef,<br />
hatten die ersten Experimente mit Mr. Maxwells<br />
Apparaten stattgefunden und waren,<br />
wie er mitteilen konnte, nichts weniger als<br />
günstig ausgefallen. Zur Kenntnis des Publikums<br />
hatte man dies nicht dringen lassen,<br />
aber trotz nicht erfolgter Publikation, oder<br />
bis drei Millionen Eier. Der Elefant gilt als<br />
dasjenige Tier, welches sich am langsamsten<br />
vermehrt. Er bringt zwischen dem 30. und<br />
90. Lebensjahr durchschnittlich nur drei Paar<br />
Junge zur Welt; aber selbst bei so langsamer<br />
Vermehrung könnten nach fünfhundert Jahren<br />
fünfzehn Millionen Elefanten einem Paar entstammt<br />
sein. Auch beim Menschen wächst<br />
die Nachkommenschaft unter sehr günstigen<br />
Umständen so rasch an, dass bei gleichmässig<br />
fortschreitender Vervielfältigung die Erde<br />
schon nach einigen tausend Jahren keinen<br />
Raum mehr für das Menschengeschlecht bieten<br />
würde. Hätte, von der Schöpfung des<br />
Menschen angefangen, eine Durchschnittsvermehrung<br />
des Menschengeschlechts von nur<br />
zweieinhalb Prozent stattgefunden, so würden<br />
schon im Zeitraum von 8000 Jahren 3000 Millionen<br />
Menschen die Erde bevölkert haben.<br />
Marie Antoinettes letzte Fahrt<br />
Von Stefan Zweig.<br />
Gewände, aufrecht aber bleibt mit unbeweglichem<br />
Gesicht der Henker stehen, den Strick<br />
in der Hand: wie Charon die Seelen der<br />
Verstorbenen, führt er unbewegten Herzens<br />
seine Fracht täglich zum anderen Ufer des<br />
Lebens. Aber diesmal halten sowohl er wie<br />
seine Gehilfen während der ganzen Fahrt den<br />
Dreispitz unter dem Arm, als wollten sie sich<br />
vor der wehrlosen Frau, die sie zum Schatott<br />
bringen, für ihr trauriges Amt entschuldigen.<br />
Der erbärmliche Wagen rattert langsam<br />
über das Pflaster. Man lässt sich absichtlich<br />
Zeit, jeder soll genau das einzigartige Schaustück<br />
betrachten können. Auf dem harten<br />
Sitz spürt die Königin jedes Holpern des groben<br />
Karrens über das schlechte Pflaster bis<br />
ins Mark, aber, unbewegt das blasse Gesicht,<br />
mit ihren rotgeränderten Augen starr vor sich<br />
hinschauend, gibt Marie Antoinette kein Zeichen<br />
von Angst oder Schmerz der enggereihten<br />
Neugier preis. Alle Seelenkraft strafft sie<br />
zusammen, um bis zum Ende stark zu bleiben,<br />
und vergebens spähen ihre grimmigsten<br />
Feinde, sie bei einem Augenblick des Versagens<br />
oder Verzagens zu ertappen. Aber<br />
nichts macht Marie Antoinette irre, nicht,<br />
dass bei der Kirche Saint-Roch die angesammelten<br />
Weiber sie mit den üblichen Hohnrufen<br />
empfangen, nicht, dass der Schauspieler<br />
Grammont, um Stimmung in die düstere<br />
Szene zu bringen, in der Uniform eines<br />
Nationalgardisten vor dem Totenkarren einherreitet<br />
und, den Säbel schwenkend, ausruft:<br />
€ Da ist sie, die infame Antoinette!<br />
Jetzt wird sie hin, meine Freunde ». Ihr Antlitz<br />
bleibt ehern verschlossen, sie scheint<br />
nichts zu hören, nichts zu sehen. Die auf den<br />
Rücken gebundenen Hände steifen ihr nur<br />
den Nacken höher empor, geradeaus blickt<br />
sie vor sich hin, und all die bunten und wilden<br />
Bilder der Strasse dringen nicht mehr ein<br />
in ihre Augen, die von innen her überschwemmt<br />
sind von Tod. Kein Zittern regt<br />
ihre Lippen, kein Schauer bebt über ihren<br />
Leib; ganz Herrin ihrer Kraft sitzt sie da,<br />
vielleicht gerade infolgedessen, hatte die<br />
Börse sofort reagiert. Die Aktien, die man<br />
zu 6 Pfund 8 Schilling hinaufgetrieben hatte,<br />
waren auf 6 gesunken. Beruhigende Artikel<br />
waren sofort vom « Financial Leader ». Mr.<br />
Isaacs' speziellem Organ, veröffentlicht worden.<br />
Was sei mit den 500 Aktien zu tun, die<br />
Mr. Isaacs noch innehatte ?<br />
Was damit zu tun sei? fluchte Mr. Isaacs<br />
— er hatte sich höchst christliche Flüche beigelegt<br />
— verkaufen, verkaufen, verkaufen!<br />
Und wenn ganz England erführe, dass er<br />
verkaufte! Obgleich, hm... Das englische<br />
Publikum war so pedantisch, wer weiss,<br />
auf was für Gedanken es kommen könnte,<br />
wenn es erführe, dass Mr. Isaacs öffentlich<br />
die schwere Tracht der Digammaaktien abwarf,<br />
nachdem er zuerst die Gesellschaft<br />
gestartet hatte — das musste bedacht wer-<br />
„Ecke des guten Beispiels "<br />
Die hilfsbereiten Herren.<br />
£5 war im Sommer 1929, als ich mit meinen<br />
Eltern im Auto von Bern nach Lausanne 1uhr.<br />
Mitten auf der Strecke platzte ein Reifen<br />
meines Wagens. Um das Unglück voll zu<br />
machen, gewahrte ich. dass ich den Wagenheber<br />
vergessen hatte. So blieb mir nichts<br />
anderes übrig, als auf einen vorbeikommenden<br />
Wagen zu warten. Schon nach kurzer<br />
Zeit nahte ein vollbesetztes Auto, das ich<br />
ruhig passieren lassen wollte. Doch sein<br />
Lenker hielt freiwillig an und erkundigte sich<br />
nach meinem Missgeschick. Ich bat ihn um<br />
seinen Wagenheber, und trotzdem ich nicht<br />
eine einzelne hilflose Dame war (mein Vater,<br />
allerdings ein älterer Herr, war ja bei mir),<br />
stiegen der Führer des Wagens und ein weiterer<br />
Herr aus, um sofort den ganzen Schaden<br />
zu beheben, ohne dass wir nur eine Hand<br />
zu rühren brauchten. Die freundlichen Herren<br />
lehnten nach vollendeter Arbeit jede Erkenntlichkeit<br />
ab, wünschten uns gute Weiterfahrt<br />
und fuhren los, kaum dass wir ihnen danken<br />
konnten.<br />
Ich nahm mir damals vor, jederzeit behilflich<br />
zu sein und habe meinen Helfern ihr vorbildliches<br />
Benehmen nicht vergessen. Sollten<br />
sie zufällig diese Mitteilung lesen, so sei ihnen<br />
auch bei dieser Gelegenheit nochmals gedankt.<br />
L. Z. in Bern.<br />
stolz und verächtlich, und selbst Hebert muss<br />
am nächsten Tage in seinem «Pere Duchesne»<br />
gestehen: «Die Dirne ist übrigens kühn uiid<br />
frech bis zum Ende geblieben.»<br />
Der riesige Revolutionsplatz, die heutige<br />
Place de la Concorde, ist schwarz von Menschen.<br />
Zehntausende stehen seit frühmorgens<br />
auf den Beinen, um das einmalige Schauspiel<br />
nicht zu versäumen, wie eine Königin, nach<br />
dem grossen Worte Heberts, «vom nationalen<br />
Rasiermesser halbiert wird». Stundenlang<br />
wartet schon die neugierige Menge. Um sich<br />
nicht zu langweilen, plaudert man ein wenig<br />
mit einer hübschen Nachbarin, man lacht, man<br />
schwätzt, man kauft den Ausrufern Journale<br />
oder Karikaturen ab.<br />
Ueber diesem neugierig wogenden schwarzen<br />
Gewühl erheben sich starr, das einzig<br />
Leblose im menschenbelebten Raum, zwei<br />
Silhouetten: die schlanke Linie der Guillotine,<br />
dieser hölzernen Brücke, die vom Diesseits<br />
ins Jenseits führt; von ihrem Stirnjoch blitzt<br />
in der trüben Oktobersonne der blanke Wegweiser,<br />
das frisch geschliffene Beil. Leicht<br />
und frei schneidet sie gegen den grauen Himmel,<br />
vergessenes Spielzeug eines schaurigen<br />
Gottes, und die Vögel, die nicht die finstere<br />
Bedeutung dieses grausamen Instrumentes<br />
ahnen, spielen in unbekümmertem Flug über<br />
sie hin.<br />
Streng aber und ernst erhebt sich daneben,<br />
das Tor des Todes stolz überragend, das riesige<br />
Standbild der Freiheit auf dem Sockel,<br />
der früher das Denkmal Ludwigs XV. getragen.<br />
Still sitzt sie da, die unnahbare Göttin,<br />
das Haupt gekrönt von der phrygischen<br />
den. Diese Erwägungen verursachte Mr.<br />
Isaacs' einen Augenblick der Unruhe ; und<br />
seine Entsch'ossenheit wurde von des Gedankens<br />
Blässe angekränkelt. Aber wer<br />
weiss? Vielleicht konnte noch Irgend etwas<br />
eintreffen ! Mr. Isaacs bescliloss. die Sache<br />
einmal dem Zufall zu überlassen. Was war<br />
im Notfall ein Verlust von 1000 Pfund? Mr.<br />
Isaacs blies eine illustrative Rauchwolke vor<br />
sich. Am Nachmittag machte er die Bekanntschaft<br />
Herrn Philipp Colüns.<br />
Herr Collin hatte Frühling i'Jid Sommer in<br />
England verbracht, mit verschiedenen kleineren<br />
Unternehmungen beschäftigt, die mehr<br />
oder weniger fein gegangen waren. Im<br />
Herbst hatte ihn plötzlich die Wanderlust<br />
gepackt; und die Unruhe, die früher zu tollen<br />
Studenteneskapaden nach Kopenhagen<br />
und Berlin geführt hatte, trieb ihn jetzt auf<br />
eine Zigeunertour durch den Kontinent, mit<br />
einem Spazierstock als einzigem Gepäck.<br />
Unter dem verschleiert blauen oder klartiefen<br />
Herbsthimmel war er einige Tage durch<br />
die Normandie jreirrt, hatte sich dann von<br />
der P.L.M.-Gesellschaft bis nach der Bourgogne<br />
hinunterschleudern lassen, und wieder<br />
eine Woche später wandelte er in der alten<br />
Provence, an den Gestaden des Mittelmeers<br />
unter Oliven- und Pinienkronen durch kleine<br />
gelbe Städtchen. Endlich war er so wie Mr.<br />
Isaacs in dem septemberHch leeren Monte<br />
Carlo im Hotel de Paris gelandet.<br />
Am besagten Nachmittag stand Herr Collin<br />
m ! t der Hand in der Hosentasche in neusrieriare<br />
Betrachtung eines Haufens Lou'sdor<br />
rantetisch auf Schwarz gesetzt hatte, als er<br />
plötzlich eine weiche Hand auf seiner Schulter<br />
fühlte und hörte, wie eine flehende<br />
Stimme in der Nähe seines linken Ohrs flüsterte:<br />
«Darling, gib mir doch ein bisschen Geld!<br />
Ich habe so grässlich es Pech gehabt!»<br />
«Rouge perd et couleür,» sagte der Croupier,