E_1934_Zeitung_Nr.056
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tig zu übertölpeln suchen. Kurz: eine Maschinerie<br />
aus Dummheit, Macht und Grauen.<br />
Das Familiendrama.<br />
Die Affäre Dreyfus als das Drama einer<br />
unschuldigen jüdischen Familie ergreift und<br />
Tührt, kann jedoch heute, wo Millionen<br />
durch Kriege und Revolutionen hindurchgehen<br />
mussten und jeder einzelne die fürchterlichsten<br />
und qualvollsten Tragödien mit ansah<br />
oder selbst erlebte, kaum besonderes Interesse<br />
beanspruchen. Ohne damit die Tortur,<br />
der die Familie Dreyfus durch die Staatsgewalt<br />
und den Uebermut einzelner unterworfen<br />
wurde, zu verkleinern.<br />
Aber selbst in diesem Familiendrama spielt<br />
der eigentliche Held nicht die Rolle des Helden.<br />
Der Held ist die Frau, die um ihre und<br />
die Wiederherstellung seiner Ehre kämpft.<br />
Der Held ist der Bruder, der unermüdlich<br />
arbeitet, um die Unschuld des zu Unrecht<br />
Verurteilten zu erweisen.<br />
Aber es sind private Schicksale, wie sie<br />
Zehntausende in ähnlichen Fällen erleben<br />
mussten. Das Familienunglück bleibt ganz individuell.<br />
Erst die Kämpfer, die den Fall aufnehmen,<br />
die für eine Idee, für die Sache des<br />
Rechts kämpfen, die Lazare, Scheurer-Kestner,<br />
Picquart, Zola, heben das Private und<br />
Subjektive in die Sphäre allgemeiner Interessen,<br />
auf die Ebene der Gemeinschaft, der<br />
höchsten sozialen Forderungen. Sie beginnen<br />
den Kampf gegen ein System der Lüge, der<br />
Macht, der Tradition und der blinden Gewalt,<br />
um das Recht des einzelnen in der Gesellschaft<br />
zu verteidigen, um gegen alle Widerstände<br />
der Wahrheit und dem Recht zum<br />
Siege zu verhelfen.<br />
Der Hauptleidtragende im Familiendrama<br />
ahnt davon nichts. Er steht — merkwürdig<br />
genug — ausserhalb des Kampffeldes. Er ist<br />
nichts als das Objekt. Er selbst glaubt nur<br />
an ein persönliches Missgeschick. Er, der<br />
dieser ungeheuerlichen Affäre den Namen<br />
gibt, steht nicht nur tief unter ihr, sondern<br />
abseits, fern von ihr. Damals wie heute. Nur<br />
ein Dramatiker, der auf billige Rühreffekte<br />
aus wäre, könnte ihn als Helden in den Mittelpunkt<br />
stellen oder etwa gar am Schluss in<br />
einer Apotheose als Märtyrer erscheinen<br />
lassen. Mit dieser dramaturgisch-kritischen<br />
Feststellung sollen die fünf Jahre seines Lebens,<br />
die er erleiden musste, nicht verkannt<br />
werden. Aber sie gäben nicht einmal den<br />
Stoff zu einem Familiendrama.<br />
Ebensoviel, vielleicht mehr gelitten hat die<br />
tapfere Frau, deren Briefe weniger banal als<br />
die seinen auf eine ergreifend schlichte Art<br />
ihre stillertragene Qual verraten. Vor allem<br />
aber ist es der eine Bruder, Mathieu, der in<br />
der Familiengeschichte die aktivste, gradlinigste<br />
und sympathischste Rolle spielte. Ein<br />
zäher, umsichtiger und nicht ermüdender<br />
Kämpfer für die Ehre des Bruders und der<br />
Familie. Auf ihn fällt das hellste Licht. Er<br />
wird zum Motor der Bewegung. Durch ihn<br />
wächst die Familienaffäre zu der grossen<br />
«menschlichen Komödie», die sie wurde, und<br />
deren ungeheuren Komplex vielleicht nur ein<br />
Romancier von dem Genie Balzacs gleichwertig<br />
zu gestalten vermöchte.<br />
Dieser Mathieu Dreyfus sah die Aufgabe,<br />
deren fürchterliche Schwierigkeiten und<br />
kaum überwindbare Hindernisse ihn zunächst<br />
erschreckten. Er zögert, er überlegt lange,<br />
er fühlt vor. Er gewinnt schliesslich den<br />
jungen Bernard Lazare, einen begabten<br />
Schriftsteller von unbeirrbarem Ernst, aggressiver<br />
Kritik und sozialer Leidenschaft.<br />
Die Familie Dreyfus war eine reiche bürgerliche<br />
Familie. Als grosse Fabrikherren<br />
von Mülhausen und reine Kapitalisten und<br />
gute französische Patrioten. Keine Spur von<br />
sozialen Kämpfen ist unter ihnen zu entdekken.<br />
Als wohlhabende Bürger pflegen sie Familiensinn<br />
und alle andern Tugenden der besitzenden<br />
Schichten. Ihre Laster, ihre Gleichgültigkeit<br />
gegen fremde Leiden, gegen die<br />
Not der Millionen, der Armen und Elenden,<br />
werden auch sie nur durch private Wohltätigkeit<br />
mindern zu können geglaubt haben.<br />
Als das Schicksal über die Familie hereinbrach,<br />
wurde es wie ein grausames Naturereignis<br />
empfunden. Wie eine entsetzliche<br />
Katastrophe. Die bisher glückliche Familie<br />
haderte mit ihrem Gott. Warum schickte er<br />
ihr diese Prüfung? Hatte sie sich je etwas<br />
zuschulden kommen lassen? Waren sie nicht<br />
alle geachtete Mitglieder der guten bürgerlichen<br />
Gesellschaft? Was konnte man ihnen<br />
vorwerfen? Ihre Geschäfte? Ihren Reichtum?<br />
Darum wurden sie vielleicht beneidet, aber<br />
nicht bekämpft. Höchstens von einer kleinen<br />
sozialistischen Gruppe, die aber zum Glück<br />
keinerlei Einfluss hatte. Sollten sie für ihren<br />
Hochmut bestraft werden? Weshalb musste<br />
ein Jude den Ehrgeiz haben, gerade Generalstäbler<br />
zu werden? In Deutschland gab es<br />
nicht einmal jüdische Offiziere. War es notwendig,<br />
dass der jüngste der Brüder überhaupt<br />
die militärische Laufbahn einschlagen<br />
musste? Konnte er nicht gleich seinen Brüdern<br />
nach einer guten kaufmännischen Ausbildung<br />
die väterliche Fabrik übernehmen,<br />
die für alle beträchtliche Renten abwarf und<br />
sie alle ernährte? War es nicht ein böses<br />
Omen, dass er schon bei einer der ersten militärischen<br />
Prüfungen von einem ausgesprochenen<br />
antisemitischen General eine unverdient<br />
schlechte Note bekam?<br />
Falscher Ehrgeiz verführte also eine rechtschaffene<br />
Familie zu von ihr nicht geahnten<br />
Verwicklungen. Weshalb sollte sie dem<br />
Jüngsten seine streberischen Wünsche nicht<br />
erfüllen? Die Mittel dazu hatte sie. Frankreich<br />
war eine Republik. Kein Gesetz, keine<br />
Vorschrift verbot Juden, Offiziere zu werden.<br />
Ein Unterschied zwischen den "Konfessionen<br />
wurde nicht gemacht. Er war fleissig,'<br />
pflichteifrig und seine späteren Noten rühmten<br />
ihn als einen guten Offizier. Vielleicht<br />
brachte er es bis zum General. Er wurde die<br />
Hoffnung der ^amilie. Alles ging gut. Der<br />
30jährige Leutnant verlobte sich mit der<br />
Tochter eines reichen Pariser Juwelenhändlers.<br />
Unmittelbar vor seinem Eintritt in den<br />
Generalstab. Vier Jahre glücklicher Ehe folgen.<br />
Zwei Kinder werden ihnen geboren. Da<br />
fällt der Schlag. Als Verräter verdächtigt,<br />
verhaftet, verurteilt, deportiert. Lebendig<br />
eingemauert in einem Grab auf einer fernen<br />
AUTOMOBIL-REVUE <strong>1934</strong> - N» 5«<br />
Insel. Viel Jammer in zwei Familien. Was<br />
tun? Die Schmach, die ihnen angetan worden<br />
ist, bekämpfen? Die Entbehrung und Erniedrigung<br />
als ungerechtfertigt erweisen? Ohnmächtig<br />
bleiben zunächst alle Versuche. Man<br />
sucht nach dem wirklichen Schuldigen, dem<br />
wahren Verräter. Drei Jahre hindurch. Plötzlich<br />
regt es sich. Eine Bewegung entsteht,<br />
die lawinenmässig anwächst. Männer von<br />
Namen treten öffentlich für den unschuldig<br />
Verurteilten ein. Es folgen: Kämpfe, Prozesse,<br />
Duelle, <strong>Zeitung</strong>sskandale, Debatten in<br />
der Kammer und im Senat, Verhaftungen,<br />
immer neue Untersuchungen, Ministerstürze,<br />
Strassenkämpfe... Der Präsident der Republik<br />
nimmt seinen Abschied. Krieg mit<br />
Deutschland droht, der Ausbruch einer sozialen<br />
Revolution wird befürchtet, — kurz:<br />
die Affäre gehört schon lange nicht mehr der<br />
Familie allein, sie ist längst kein Familiendrama<br />
mehr. Sie ist eine Affäre Frankreichs,<br />
der ganzen Welt geworden.<br />
Die Familie Dreyfus steht dabei, sieht zu,<br />
begreift kaum alles, was geschieht, will nichts<br />
anderes, als ihren Sohn zurück haben, will<br />
ihn — wenn irgend möglich — wieder ehrlich<br />
gemacht sehen und eingesetzt in seinen<br />
Rang als Offizier. — Begnadigung? Auch<br />
die, wenn es kein Recht gibt.<br />
Die Unerbittlichsten unter den Vorkämpfern<br />
der Revision widersprechen schroff. Sie<br />
wollen keinen Kompromiss. Am unerbittlichsten<br />
und schroffsten Picquart, Zola, Clemenceau.<br />
Zwischen der Familie und ihren aktivsten<br />
Verteidigern kommt es zu Konflikten.<br />
Die bisher gemeinsam für die Revision<br />
kämpften, entzweien sich, stehen sich feindlich<br />
gegenüber. Manche bleiben unversöhnlich<br />
bis zum Tode.<br />
Nach erneuter Verurteilung gibt Gnade der<br />
unglücklichen Familie ihren Sohn wieder. Der<br />
unheroische Hauptmann ist gerettet Der<br />
treue Bruder reist mit ihm in die Schweiz.<br />
An den Genfersee. Ausruhen, Frieden, nicht<br />
mehr kämpfen müssen. Aber der entfesselte<br />
Kampf geht weiter. Ohne ihn, oft gegen seinen<br />
Willen. Spät, wieder viele Jahre danach:<br />
endlich völlige Rehabilitierung. Zwölf Jahre<br />
nach der Verurteilung, acht Jahre nach Zolas<br />
«J'accuse!>, im Jahre 1906 erst, wird<br />
der mit Schimpf und Schande aus dem Heer<br />
gestossene Hauptmann wieder in die Armee<br />
eingereiht. Als Oberstleutnant. Sein Degen<br />
wird ihm zurückgegeben. Er wird zum Ritter<br />
der Ehrenlegion ernannt. Die Familie ist<br />
glücklich. Das Familiendrama ist aus. Und<br />
es ist nach soviel Prüfungen und Demütigungen<br />
begreiflich, dass man müde geworden<br />
ist" und am liebsten von den schrecklichen<br />
Ereignissen nicht mehr sprechen will. Fast<br />
peinlieh, dass sich so viele dieser Affäre bemächtigt<br />
haben, dass sie eine Haupt- und<br />
Staatsaktion geworden ist, die man dem Forum<br />
der Oeffentlichkeit nicht mehr entziehen<br />
kann und die von der Geschichte unvergessen<br />
bleiben wird.<br />
Das Leben geht weiter. Die Familie will<br />
endlich ihre Ruhe und ihr gesichertes bürgerliches<br />
Dasein fortsetzen, das sie vor der<br />
«Affäre» geführt hatte. Denn: viele wurden<br />
durch die Affäre verwandelt, ganz Frankreich<br />
bekam ein anderes Gesicht; die Familie<br />
Dreyfus verwandelte sich nicht. Sie<br />
blieben gute französische Bürger, Alfred<br />
Dreyfus, der Patriot und Militär, der er war.<br />
Sein Sohn, überzeugter Patriot wie er, erklärt<br />
um 1930, die schönste Zeit seines Lebens<br />
sei für ihn der Krieg gewesen.<br />
Dieses Familiendrama vollendet sich also<br />
in einer streng bürgerlichen und konventionellen<br />
Atmosphäre, wie es begann.<br />
«Menschliche Komödie.»<br />
Ueberblickt man den ganzen Komplex dieser<br />
Affäre mit ihren zahllosen Unteraffären,<br />
mit ihren dramatischen Höhepunkten, mit<br />
ihren breiten Niederungen, so öffnet sich eine<br />
grosse «menschliche Komödie», geboren wie<br />
aus Balzacschem Geiste und in Balzacschem<br />
Ausmass.<br />
Jede einzelne Affäre würde einen Band<br />
beanspruchen. Die der Vorläufer — Mathien<br />
Dreyfus, Bernard Lazare, Scheurer-Kestner.<br />
Die des «Grafen» Walsin-Esterhazy, des<br />
frechsten *md amoralischsten unter den<br />
Abenteurern der letzten Jahrzehnte, würde<br />
mindestens zwei oder drei Bände erfordern.<br />
Picquarts Demütigung, tragischer Konflikt,<br />
sein Leidensweg und schliesslicher Sieg.<br />
Zolas Kampf, die politischen Wirren, die<br />
Kammersitzungen mit den ewig wechselnden<br />
Kriegsministern. Der Prozess von Rennes<br />
und der drohende Krieg. Schliesslich: die<br />
Revision und der Sieg, der keiner ist<br />
In dieser Balzacschen Welt, die von vielen<br />
tausend Personen bevölkert ist, wimmelt<br />
es von Abenteurern, Politikern, Offizieren,<br />
Staatsmännern, Spionen, Rechtsanwälten,<br />
Schriftstellern, Journalisten, Kokotten, Senatoren<br />
und Diplomaten. Hier ist alles beisammen,<br />
was sich ein Romanschreiberherz wünschen<br />
kann: Verbrechen, Konflikte, grossmütige<br />
und kühne Handlungen, kaum entwirrbare<br />
Komplikationen, Prozesse, Duelle,<br />
Pressfehden, Intrigen, Drohungen, Erpressungen,<br />
grosse, mittelmässige und viele ko-vj<br />
mische Figuren, vornehme und erbärmlicbti;<br />
Charaktere, Tugendbolde und Hochstaplei,<br />
Staatsstreichgenerale und Volkstribunen, ehrgeizige<br />
Politikaster und selbstlose Menschenfreunde,<br />
gefährliche Journalisten und idealistische<br />
Friedensapostel. Den Hintergrund<br />
der Riesenszene, auf der alle diese Menschen<br />
agieren, bildet wie der Chor in der Antike<br />
ein lebhaftes, an allen Kämpfen dieser<br />
Schicht teilnehmendes Volk, und von ferne<br />
droht der Krieg...<br />
Es ist ein dramatisches Sittengemälde. Ein<br />
Kompendium menschlicher Leidenschaften.<br />
Eine gigantische Sammlung von Schicksalen<br />
und Kämpfen, die in gleichem Masse Historiker,<br />
Soziologen, Politiker, Geschichtsphilosophen,,<br />
Schriftsteller, Sittenforscher und<br />
Psychologen erregt haben und noch erregen.<br />
Die Hintergründe der Affäre, ihre Probleme,<br />
ihre Perspektiven und ihre Lehren sind so<br />
mannigfaltig, so unausschöpfbar, dass sie<br />
die Wissbegier und den ForschungseiÄ^,<br />
eines jeden bisher belohnte, der sich ihre,.»<br />
Studium widmete.<br />
Gut essen und trinken im.<br />
RESTAURANT BÜRGLI<br />
Zürich-Wolliehofen<br />
Kilchbergstr. 15 - Tel. 50.460<br />
HeimellgeLokalrtäten für Sitzungen,<br />
Hochzeiten etc. Es empfiehlt sich:<br />
Chs. Eichenberger.<br />
.Günstige Parkierung bei der Kirche.<br />
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