E_1935_Zeitung_Nr.055
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55 - <strong>1935</strong> AUTOMOBIL-REVUE 13<br />
Die Versuchung<br />
des Joos Utenhoven.<br />
(Fortsetzung aus dem Hauptblatt.)<br />
Der Kommissar holte die beiden Herren<br />
ein und stellte vor:<br />
«Herr Gerichtsarzt, Oberstabsarzt Doktor<br />
Witkop.» Das war ein Herr um Fünfzig,<br />
gross, ein wenig voll geworden, mit breit<br />
vernarbten alten Schlägermalen in dem bartlosen<br />
sachlich-ernsten Gelehrtengesicht. Kurz<br />
und zurückhaltend neigte er den Kopf gegen<br />
Joos Utenhoven, gegen Fräulein Erler. Dem<br />
alten Sanitätsrat bot er die Hand: «Ich<br />
glaube, in der Medizinischen Gesellschaft<br />
hatte ich einmal die Ehre —?»<br />
«Unser Photograph, Herr Funke.» Ein jüngerer<br />
Mann mit moskowitisch-Iangem, ölig<br />
glattgestrichenem Haar und finnigem blassem<br />
Gesicht. Einen Stricksweater trug er<br />
unter dem grossgemusterten Jackett, Breaches<br />
und braune Ledergamaschen über<br />
schwarzen Schnürschuhen. Wie er den Kopf<br />
im Grusse vorwarf, sprang eine Strähne<br />
seines Haares über die Stirne bis zur" Nasenwurzel<br />
nieder — im Aufrucken warf er sie<br />
wieder hoch.<br />
Der Kommissar fragte: «Wieviel Aufnahmen?»<br />
«Vier grosse Platten und auf Wunsch des<br />
Herrn Doktor Witkop die Einschussstelle<br />
und die Fingerabdrücke der Toten.»<br />
«Haben Sie wieder zugeschlossen?»<br />
«Hier —» Er bot dem Kommissar den<br />
Schlüssel hin.<br />
Schön — ja, dann brauchen wir Sie jetzt<br />
nicht mehr. Entwickeln und kopieren Sie sogleich!»<br />
Herr Köpke nickte, und der andere<br />
war entlassen: wieder ein Vorwerfen des<br />
Kopfes — das Auf- und Niederschnellen einer<br />
Strähne fettigen Haares — und, nur Sekunden<br />
später, das leise Klappern, Anschlagen<br />
von aufgenommenen Kassetten, Apparaten<br />
von nebenan.<br />
Mit einem Male war es wieder still — so<br />
still, dass man durch das im Nebenzimmer<br />
noch offenstehende Fenster ganz deutlich<br />
das Rattern eines Karrens unten auf der<br />
Strasse und das eintönige Grölen eines Mannes,<br />
der «Blumenerde — frische Blumenerde!»<br />
ausrief, herüberhörte.<br />
Der Oberstabsarzt hielt ein Notizbuch in<br />
der Linken klemmte das Einglas unter die<br />
buschige Braue und sah auf seine Aufzeichnungen<br />
nieder. Im Tone eines Berichtes<br />
sagte er:<br />
«Also — der Befund: Herzschuss — ja,<br />
glatter Herzschuss mit Zerreissung der Aorta<br />
und sofortiger Todesfolge durch innere Verblutung.<br />
Gewissermassen ideale Verletzung.<br />
Das Geschoss hat durchgeschlagen, Austritt<br />
zwischen der dritten und vierten Rippe —<br />
Schussrichtung also etwa in der Horizontalen<br />
—.» Er hob den Blick — fasste das müde<br />
Herrchen dort neben der Bronze: «— das<br />
wird wohl auch mit Ihren ersten Feststellungen<br />
etwa übereinstimmen, Herr Kollege<br />
— wenn ich fragen darf —?»<br />
Ganz wirr und aufgestöbert war der Sanitätsrat.<br />
Die Worte tasteten: «Ja — ja gewiss<br />
— das heisst, so wie die Dinge lagen —<br />
ich wollte da unter keinen Umständen vorgreifen<br />
— ich habe mich allein darauf beschränkt,<br />
den eingetretenen exitus letalis —»<br />
Der Oberstabsarzt nickte, ging darüber hin.<br />
Ein jeder hatte eben sein Gebiet.<br />
Joos Utenhoven stand indessen mit hart<br />
gekrampften Kiefern, ein Würgen in der<br />
Kehle. Spannung und Gier nach jedem neuen<br />
Satze schwangen in ihm, Hessen sich kaum<br />
mit allem Willen niederdrücken. Die Augen<br />
schloss er: Ruhe jetzt — nur Ruhe —. Er<br />
hörte Worte, die wie schwere Tropfen niederfielen:<br />
sofortige Todesfolge — ideale<br />
Verletzung —. Das hiess: es war für sie kein<br />
Leiden mehr gewesen — war im Augenblick<br />
vorbei. Trost war das — Trost?! — Wo gab<br />
es den? — Und da schoss auch schon zugleich<br />
mit dem Rühren an die Frage in seiner<br />
Brust aufbrandend wieder diese heisse, rote<br />
Welle seines Schmerzes auf, dass er die<br />
Fäuste ballte und den Kopf im Krampf tief<br />
in den Nacken drücken musste: Elke-Maria!<br />
Du und ich! — Und dieses Ende —<br />
Der Oberstabsarzt warf wiederum einen<br />
Blick auf die Notizen, Hess dann das Einglas<br />
aus dem Auge fallen, dass es an einer dünnen<br />
Schnur herniederhing. Er sagte: «Zeit der<br />
Tat — lässt sich nur schätzen: ein bis zwei<br />
Stunden, ehe ich den Fall zu sehen bekam<br />
— also etwa zwischen neun und zehn Uhr —».<br />
Herr Köpke nickte — fragte dann, mit<br />
einem Nachdruck in der Stimme, der entschieden<br />
Fred Rave treffen und aus seiner<br />
Versunkenheit aufreissen sollte: «Auf Grund<br />
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Ihres Befundes, Herr Oberstabsarzt: halten<br />
Sie Selbstmord für gögeben? — für wahrscheinlich?»<br />
Und wieder diese sachlich klare Stimme:<br />
«Höchst unwahrscheinlich. Es ist ein Nahschuss<br />
— aber nicht mit angesetzter Waffe<br />
— sicher auf etwa zwanzig Zentimeter Abstand.<br />
Es fehlte die Brandspur an der Einschussstelle<br />
des Kimonos — nur eine kleine<br />
Rauchverfärbung ist zu sehen. Im übrigen —»<br />
er griff in die Uhrtasche seiner Weste, holte<br />
ein kleines Päckchen vor und faltete es auf.<br />
Da lag auf einem blutbefleckten, aus dem<br />
Notizbuch herausgerissenen Blatt Papier ein<br />
graues Stückchen Blei.<br />
«— ja, hier ist das Geschoss. Ich habe es<br />
gewogen: vier, Komma, acht Gramm —<br />
wenn Sie das notieren wollen. Das entspricht<br />
also dem Mauser-Selbstlader Kaliber sieben,<br />
fünfundsechzig. Stimmt das?»<br />
Herr Köpke zog die Brauen fragend hoch.<br />
Der Oberstabsarzt fragte: «Ja — haben<br />
Sie das Schiesseisen denn nicht an sich genommen?<br />
Ich frage, weil Sie doch die Möglichkeit<br />
eines Selbstmordes nicht abzuweisen<br />
scheinen? Und dann hätte ich mir denken<br />
können, Sie hätten das Ding zur Sicherung<br />
von etwaigen Fingerabdrücken gleich verwahrt<br />
—»<br />
«Die Waffe? Nein — habe ich überhaupt<br />
noch nicht gesehen!»<br />
«Das spricht doch gegen Selbstmord —<br />
das heisst, wenn nicht vor Ihrem Kommen<br />
schon jemand die Pistole fortgeräumt hat.<br />
Na — tnüss sich ja in diesem Fall doch finden<br />
—»<br />
Herr Köpke sah um sich: «Herr Sanitätsrat<br />
—? Fräulein Erler —? Sie waren doch<br />
zuerst —?»<br />
Nur Schweigen — nein — sie hatten nichts<br />
gesehen.<br />
Jqos Utenhovens Hände.stiessen durch die<br />
Qual seiner verhaltenen Spannung, fuhren<br />
hoch: «— das ist doch — ist doch —»<br />
Aber Herr Schwieger winkte ihm sachte<br />
beschwichtigend zu: Ruhe — nur keine Einmischung<br />
und keine Hast — das ging schon<br />
alles seinen Weg. Langsam drehte er seinen<br />
schweren Körper nach den anderen um und<br />
meinte milde, in einem Tone von vermittelnder<br />
Freundlichkeit: «Wäre es denn nicht<br />
möglich, dass vielleicht Herr Rave das<br />
Schiessgewehr weggelegt hat —? Einfach,<br />
wie er vorhin sagte, ,im Impuls', .oder damit<br />
kein weiteres Unglück damit geschieht —<br />
oder einfach aus Ordnungssinn —? Herr<br />
Rave —?!»<br />
Jetzt hob Fred Rave seinen Kopf — todbleich<br />
das schmale und zerwühlte Gesicht —<br />
die Stirn unter dem dunklen Haar nass von<br />
jäh vorgebrochenem kaltem Schweiss. Die<br />
schmalen Finger lagen krampfend um die<br />
Seitenlehnen des Ledersessels. So sah er<br />
wirr — ein ausweglos gehetztes Tier, das<br />
fliehen will — um sich, traf in all diese Augen<br />
rings, die wartend, lauernd auf ihm lagen<br />
— sah, wie das hartknochige Kinn des<br />
Herrn Köpke sich ihm entgegenhob.<br />
«Joos —», wollte er noch rufen, «Joos —!»<br />
Die Lippen flatterten — doch nur ein Stöhnen<br />
brach, aus ihnen vor •—<br />
Und es kam keine Antwort aus dem hart<br />
geschlossenen Mund Joos Utenhovens.<br />
Da schnellte er jäh und zum plötzlichen<br />
Entschluss getrieben auf, fuhr mit der Rechten<br />
in die Brusttasche seines Rockes —<br />
hatte im gleichen Augenblick ein Schwarzes,<br />
stählern Glänzendes heraus — emporgerissen<br />
nach seiner Schläfe hin —<br />
Bewegung — Aufruhr plötzlich über allem<br />
— ein Ineinanderprall von Schreien — Rufen<br />
— Rücken — hinhastenden Schritten — ein<br />
umgestürzter Stuhl. Und zugleich hart und<br />
hallend der kurze Knall des Schusses —<br />
Vorbei —? Das Ende —?<br />
Erstarrt — mit vorgestrecktem Hals, Joos<br />
Utenhoven —<br />
Aber da stand der Oberstabsarzt, hielt<br />
zwischen den Fäusten den Arm des anderen,<br />
der sich in diesem Griffe wand, und gab mit<br />
seinem Fuss der Pistole, die auf dem Bärenfell<br />
unten lag, einen Stoss, dass sie fortschnurrte<br />
und aus der Reichweite des Verzweifelten<br />
flog.<br />
Knapp an der Schläfe Raves war der<br />
Schuss vorbeigegangen, sass über kopfhoch<br />
in einer der Bücherreihen an der Wand.<br />
«Na — das ist ja noch einmal gut gegangen<br />
—», meinte Herr Köpke, während er sich<br />
nach der Waffe bückte, sie vorsichtig zwischen<br />
zwei Fingern aufhob und auf einen von<br />
seinem Kollegen hingebreiteten Papierbogen<br />
legte. Und anerkennend dann zu dem Oberstabsarzt:<br />
«Stimmt: Mauser, sieben, fünfundsechzig<br />
—! Ach — und sogar ein Monogramm<br />
ist in die Griff schale geritzt: F. R.<br />
— na — ist ja mehr, als wir verlangen können<br />
—!»<br />
In den Sessel drückte der Oberstabsarzt<br />
den jetzt im Widerstand erlahmten Rave<br />
nieder- Er sagte grimmig: «Herr, jetzt halten<br />
Sie mal still. Beinahe hätte ich auch etwas<br />
abgekriegt von Ihrer albernen Schiesserei!»<br />
(Fortsetzune folgt)<br />
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