E_1938_Zeitung_Nr.038
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U AUTOMOBIL-REVUE DIENSTAG, 10. MAI <strong>1938</strong> — N° 38<br />
Der Gotthard im<br />
Wandel der Zeiten<br />
«Wer mir die Schulferien erschlösse, der<br />
verrichtete Grösseres als der grösste Feldherr.<br />
><br />
Friedrich IL von Hohenstaufen. 1212.<br />
Jahrhunderte sind vergangen, seit diese Worte<br />
gefallen — Jahrhunderte, welche das Treffende<br />
des Ausrufes wieder und wieder unter Beweis gestellt.<br />
Friedrich II. von Hohenstaufen ahnte die<br />
militärische und verkehrspolitische Bedeutung einer<br />
Erschliessung des Gorthards, spätere Generationen<br />
erkannten und verwirklichten sie. Was damals galt,<br />
gilt heute. Denn obzwar im Verlaufe der Zeit<br />
auch bald die eine, bald die andere der Machtkomponenten<br />
absiegte, obschon andere Paßstrassen<br />
sich in der Uebertreffung des Gotthard versuchten,<br />
bis auf den heutigen Tag vermochte nichts<br />
die bedeutsame Stellung dieses zentralsten aller<br />
Alpenpässe ernstlich zu gefährden. Ganz im Gegenteil:<br />
Mehr denn je steht dieser Pass gegenwärtig<br />
im Brennpunkt politischer Interessen, mehr<br />
als je hängt für ganz Europa davon ab, dass<br />
die Schweiz als neutrale Macht auch weiterhin<br />
Hüterin und Betreuerin des Gotthards bleibe.<br />
Wandel, welchem der Goffhard, resp. die noch<br />
ihm benannte Nord-Südverbindung im Laufe der<br />
Zeit unterlegen, etwas nachl<br />
Ueber den Gotthard, über die stiebende<br />
Brücke, zogen die Innerschweizer, als sie in ihrem<br />
Macht- und Kraftdrange, dessen Zeugen in den<br />
drei Schlössern von Bellenz bis heute erhalten,<br />
sich südwärts wandten. Ueber Wert und Bedeutung<br />
dieser Strassenverbindung scheinen sie sich<br />
bald klar gewesen zu sein. Jedenfalls begann fast<br />
unverzüglich das allmähliche Ausbauen dieses<br />
für den ganzen Kontinent so wichtigen Saumpfades,<br />
der sich dann in verhälfnismässig kurzer Zeit<br />
schon damals zur Welthandelsverbindung entwickelte.<br />
Doch die Kurzsichtigkeit unserer Tage<br />
— im Hinblick auf Strassenbaupolitik — nahm ihre<br />
Anfänge bereits zu jenen Zeiten. Genau wie heute<br />
waren nämlich weitere finanzielle Mittel zum Ausbau<br />
dieser Nord-Südverbindung immer erst dann<br />
aufzutreiben, wenn die Gefahr des Konkurrenziertwerdens<br />
durch andere Paßstrassen, etwa die benachbarten<br />
Bündner oder Walliser Alpenübergänge<br />
in nächste Nähe gerückt. Anfangs des 18.<br />
Jahrhunderts gestatteten die Hilfsmittel der Technik<br />
dann endlich das Durchschlagen der 64 m<br />
mächtigen Küchbergfelsen im sogenannten Urnerloch,<br />
wölbten kühne Brückenbauer den grandiosen<br />
steinernen Bogen der später eingestürzten sogenannten<br />
alten Teufelsbrücke von Felswand zu<br />
Felswand. Am 25. Juli 1775 hat übrigens ein erster<br />
authentischer Ve/such, den alten holperigen Gotttiative<br />
unserer Miteidgenossen jenseits der Alpen<br />
zurück. Diese nahmen nämlich in der Absicht,<br />
den Talweg durch die Leventina bis hinauf zum<br />
Gotthard-Hospiz zu einer fahrbaren Strosse auszubauen,<br />
ein Anleihen auf und schritten unverzüglich<br />
zur Ausführung des Projektes. Den Urnern<br />
eilte es mit der Verbesserung ihres Teile des Gotthardpasses<br />
nicht so sehr. Erst als dann die drohende<br />
Umleitung des Gotthardverkehrs über die<br />
heute noch als weitsichtig ausgebaut anzusprechende<br />
Kaiserstrasse über den Simplon und die<br />
Paßstrassen Graubündens in nächste Nähe gerückt<br />
war, entschlossen sie sich «mehr der Not<br />
gehorchend als dem eignen Triebe>, unter Mithilfe<br />
der Luzerner, Solothurner und Basler, zu Begin<br />
des 19. Jahrhunderts zur Erstellung einer ebenfalls<br />
fahrbaren Strasse von Amsteg bis Göschenen<br />
(1819—1826) und von hier durch die Schöllenen,<br />
über eine noch kühnere Teufelsbrücke und durchs<br />
Umerloch bis ins Hochtal von Urseren. Dieses in<br />
den Jahren 1827—1830 entstandene Meisterwerk<br />
schweizerischer Strassenbaukunst fand dann von<br />
Hospenthal ausgehend seine Fortsetzung über die<br />
unwirtlichen Höhen (2114 m) des San Gottardo<br />
und mündete schliesslich in das tessinlsche Teilstück<br />
der Verbindung, In die terassenförmig übereinandergelagerten<br />
Kehren des lawinendurchtobten<br />
Val Tremola aus, von wo die Strasse über<br />
Motto Bartola bis In die Leventina hinunter vorstiess.<br />
Diese, den alten — übrigens heute noch<br />
ganz gut erkennbaren — gepflasterten Saumweg<br />
ersetzende Kunstbaute verkörperte einen ungeheuren<br />
Fortschritt strassenbautechnischer Natur,<br />
getriebenen Schnellzüge die Bergstrecke Flüelen-<br />
Biasca in knapp 2 Stunden, während Europas<br />
stärksten Lokomotiven nur etwas langsamer Hunderte<br />
von Gütertonnen von Nord nach Süd und<br />
in umgekehrter,Richtung schleppen.<br />
Doch bei dieser Ersetzung der Gotthardpost<br />
durch die Eisenbahn liess man es damals nicht<br />
bewenden. Man ging welter — trieb den Schienenstrang<br />
auch durch die Schöllenen hinauf, und<br />
nun schnauft der «Kohli» längst schon von Andermatt<br />
über die Oberalp nach Disentis und über die<br />
Furka bis Brig. Doch die Vereinsamung der Gotthardstrasse<br />
unter der Herrschaft des «eisernen<br />
Zeitalters» war nur vorübergehender Natur. Dem<br />
eisenbeschlagenen Rad der Postkutsche folgte der<br />
Gummireifen des Motorfahrzeuges. Mehr und<br />
mehr fühlten Automobil und Motorrad sich von<br />
den Gebirgs- und vor allem der Gotthardstrasse<br />
gleichsam magnetisch angezogen, zusehends entrissen<br />
sie die vom Verkehr wieder wie abgeschnittenen<br />
Ortschaften der Vergessenheit. Technischer<br />
Fortschritt brachte neue Belebung, machte aus der<br />
verödeten Durchgangsstrasse ein richtiges Stelldichein<br />
der Autotouristen aus allen Ländern der<br />
Welt, gab der Gotthardstrasse ihre internationale<br />
Bedeutung wieder.<br />
und doch — was könnte es trotz der bequemen<br />
Bahnverbindung, des raschen Motorfahrzeuges,<br />
Schöneres geben, als beschauliches Wandern<br />
im Gotthardgebiet? Da schreitet man gemächlich<br />
Sagenhafte Ehrwürdigkeit umgab dies Gebirgsmassiv<br />
in fernen Zeiten. Aus seiner Lage im Mittelpunkte<br />
der Alpen war ganz willkürlich das Prädikat<br />
eines höchsten Berges Europas hergeleitet<br />
worden. Aehnliches geschah dem seinen Rücken<br />
bezwingenden Pfade, welcher schon zur Zeit der<br />
Römer als einer der vornehmsten Pässe galt: Ueppige<br />
Legendenbildung auch hier. Dann kam eine<br />
weniger ehrfürchtige Zeit; die Richtigkeit all der<br />
mit dem Gotthard und seinem Passe zusammenhängenden<br />
Ueberlieferungen wurde angezweifelt,<br />
mehr noch — sie wurden verneint. Wohl mit Bezug<br />
auf diese Tatsache bemerkt Dr. Laur in seiner<br />
Studie zur Eröffnung der Gotthardstrasse schalkhaft,<br />
es sei halt im Verlaufe des 18. Jahrhunderts<br />
das erhobene Haupt des Gotthards ob des Bemühenden<br />
der damals aufkommenden Ergründung<br />
der Natur mit Instrumenten, ob den mit ihrem<br />
Quecksilber in den Bergen herumkletternden Professoren<br />
der Naturgeschichte tief und tiefer gesunken,<br />
bis dann eines schönen Tages ein unerbittlicher<br />
Alpenclub diesen Berg als überhaupt zu<br />
niedrig für würdige Betätigung erklärte. Und was<br />
dem einen recht, war dem andern billig I Erst hatte<br />
man den Nimbus des Gotthords als höchster<br />
Berg Europas zerstört, nun zweifelte man das<br />
Alter seines sagenumwobenen Passes an. Man<br />
verlangte Beweise und Urkunden und stellte endlich<br />
kurzerhand fest, im Mittelalter habe kein<br />
Mensch vom Gotthard gesprochen, also sei dieser<br />
Greis eigentlich ein kecker Jüngling, das heisst<br />
sein Pfad der Benjamin der Alpenpässe I<br />
Dies Nichtswissen einer ganzen Zeitepoche um<br />
die wichtigste Nord-Südverbindung wäre übrigens<br />
nicht allzu schwer zu erklären. Der Gotthard war<br />
halt seit jeher ein rauher, verschlossener Geselle.<br />
Noch immer muss ja der Weg über seine Flanken<br />
Jahr für Jahr von neuem ertrotzt, immer wieder<br />
unter grösster Anstrengung erkämpft werden: man<br />
gedenke nur der Schneeräumungsarbeiten I Tiefer<br />
schürfende, historische Studien einer spätem Zeit<br />
haben dann allerdings Berg und Strasse im Handumdrehen<br />
wieder um Jahrhunderte altern lassen.<br />
Ihre Würde und weltgeschichtliche Bedeutung erstrahlten<br />
in neuem Glänze. Dieser rapide Alterungsprozess<br />
soll übrigens erst in jüngster Zeit<br />
durch nochmalige Aufbürdung einiger Jahrhunderte<br />
seinen Abschluss gefunden haben. Sei dem,<br />
wie ihm wolle — soviel jedenfalls steht fest: Die<br />
Geschichte des Gotthards und seiner Strasse waren<br />
seit Anbeginn mit den Geschicken unseres Landes<br />
aufs Engste verknüpft und diese Verbundenheit<br />
besteht noch immer und wird weiterhin bestehen<br />
bleiben. Gehen wir deshalb heute dem<br />
wmmmmsmMMm<br />
H<br />
Die Teufelsbrücke.<br />
hardweg In einer Kutsche zurückzulegen, stattgefunden.<br />
Dies Unternehmen war mehr als waghalsig und<br />
dürfte mit wenig Annehmlichkeit verbunden gewesen<br />
sein. Die Zeit, welche der englische Mineraloge<br />
Greville zu dieser Wagenfahrt von Altdort<br />
nach Magadino benötigte, betrug immerhin 7 volle<br />
Tage.<br />
Dass in der Folgezelt dann der Saumpfad über<br />
den Gotthard durch eine der heutigen Linienführung<br />
der Verbindung zugrunde liegende Kunststrasse<br />
ersetzt wurde, geht eigentlich auf die Iniweicher<br />
sein« Auswirkung in einer sofortigen Verkehrszunohme<br />
fand. Für damalige Verhältnisse<br />
ganz ungewohnte Warenmengen und unerwartet<br />
zahlreiche Passagiere wurden befördert. Im Jahre<br />
1842 entstand die erste regel massige Verkehrsverbindung<br />
über den Gotthard: Die GotthardpostI<br />
Aber noch benötigte man für die Fahrt im Postwagen<br />
von Luzern bis Bellinzona 18Vi Stunden.<br />
Ein halbes Jahrhundert später schon — 1882 —<br />
trat dann an Stelle der idyllischen Postkutsche das<br />
Dampfross. Und heute durchfahren die von der<br />
in Ritom und Amsteg gewonnenen weissen Kohle<br />
fürbas auf dem alten Saumpfade und lässt In Gedanken<br />
die einstige Belebtheit des Weges wieder<br />
auferstehen. Ein wenig Phantasie nur, und man<br />
vermeint sie wirklich zu sehen, diese Kaufleute mif<br />
ihren Saumtieren, die Züge der Fürsten und Feldherrn,<br />
die Trüpplein von Pilgern und Mönchen, die<br />
einsamen Dichter und Geschichtenschreiber, welche<br />
einst dieses Weges zogen, bis auf einmal der<br />
Dreiklang der Postautomobile einem in die Gegenwart<br />
zurückversetzt. Nicht warm genug kann<br />
gerade auch dem Automobilisten dieser Marsch<br />
durch die Schöllenen aufwärts ans Herz gelegt<br />
werden. Gewiss — es bedeutet Freude und Erlebnis,<br />
seinen Wagen in vollendeter Kurvenfahrt<br />
auf die Höhe zu steuern. Es bedeutet aber vielleicht<br />
noch tiefere Freude, noch grösseres Erlebnis,<br />
zur Abwechslung einmal das Dämonische der<br />
Reuss aus nächster Nähe zu empfinden, entzückt<br />
die im Wasserstaub tanzenden Regenbogen zu<br />
betrachten. Beim Austritt aus dem Urnerloch verhält<br />
der Wanderer den Schritt: Zu mächtig wirkt<br />
der Ruf der Berge, die ob dem zum Sprung in<br />
die Tiefe sich anschickenden Wassern der Reuss<br />
auf ihn zuzukommen scheinen. Das Talbecken von<br />
Urseren gleicht offenen, zum Willkomm ausgestreckten<br />
Armen; es ist von herber, eigenartiger<br />
Schönheit. Vergleiche vermögen da nichts zu sagen.<br />
Man spricht so viel von geistiger Landesverteidigung<br />
heute. Gehört es nicnt auch dazu, dass<br />
unsere Jugend die Alpenübergänge, für deren<br />
Schutz sie unter Umständen einmal ihr Leben<br />
einzusetzen haben wird, anders als nur durch das<br />
Fenster des Eisenbahnabteils oder des Automobils<br />
kennen lernt? Man schaffe ihr und auch den<br />
altern Jahrgängen die Möglichkeit, persönlichere,<br />
nähere Beziehungen mit diesen Orten anzuknüpfen,<br />
das heisst man gestalte den alten Saumpfad<br />
hinauf durch die Schöllenen bis zum Gotthard-<br />
Hospiz und hinunter bis nach Airolo zum sichern<br />
Wanderwege aus. Denn auf staubiger Strasse mit<br />
dichtestem Verkehr zu wandern, ist keine Freude,<br />
bringt in kein Verhältnis selbst zu den schönsten<br />
und geschichtlich-bedeutungsvollsten Gebieten unserer<br />
Heimat. Riesensummen wären hierzu bestimmt<br />
nicht erforderlich, aber sicherlich ein gut<br />
Teil geistiger Landesverteidigung in die Wege<br />
geleitet.<br />
Wer das Gotthardgebiet zwischen Göschenen<br />
und Airolo, zwischen Furka und Oberalp wirklich<br />
kennt, dem muss es um seiner herben Eigenart,<br />
um seiner rauhen Lieblichkeit willen lieb werden.<br />
Von seinen Bergen strömen nach allen Richtungen<br />
die grössten Flüsse des Kontinents auseinander.<br />
Rastet man oben, auf dem Grate zwischen Hühner-<br />
und Wyttenwasserstock, dann sieht man im<br />
Norden die Gletscherwasser dem Rheine, im<br />
Westen der Rhone und im Süden der Adria zuströmen.<br />
Wer aber im Gebiete des Gotthard den<br />
Dienst am Vaterland erfüllt, wird immer wieder<br />
sich dahin zurückgezogen fühlen. Schönes und<br />
Schweres solcher Diensttage und -nachte verklärt<br />
sich in der Erinnerung zum allmächtigen Gefühl<br />
tiefster Verbundenheit mit der Heimatl<br />
Redaktion:<br />
Dr. A. Locher. — Dr. E. Waldmeyer.<br />
Dlpl.-Ing. F. 0. Weber.