16.04.2018 Aufrufe

Bidonvilles & Bretteldörfer - Ein Jahrhundert informeller Stadtentwicklung in Europa, dérive –Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 71 (2/2018)

Der Fokus des dérive-Schwerpunkts Bidonvilles & Bretteldörfer liegt auf informellen Siedlungsstrukturen, die in Reaktion auf soziale und existentielle Not als Selbsthilfeprojekte entstanden sind. Informelle Siedlungen sind eine räumlich ausgreifende, bis heute vielfach präsente Realität auch der europäischen Stadt. In den Beiträgen des Schwerpunkts zeigt sich, dass Kontext, Strukturen und Muster von lokalen Entwicklungen in unterschiedlichen Städten viele Parallelen aufweisen und es deswegen wichtig ist, sich mit informellen Siedlungen nicht nur lokalhistorisch auseinanderzusetzen. dérive 71 bietet Artikel über Hamburg, Wien, Belgrad, Innsbruck und die aktuelle und historische Situation in Frankreich. Im Magazinteil berichtet Ernst Gruber über die Sanierung und Revitalisierung ihrer ursprünglichen Nutzung verlustig gegangener Gebäude durch junge Kreative im benachbarten Bratislava. Das Kunstinsert von Nicole Six und Paul Petritsch zeigt eine Arbeit über die Architektin Anna Lülja Praun. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-71 bestellt werden.

Der Fokus des dérive-Schwerpunkts Bidonvilles & Bretteldörfer liegt auf informellen Siedlungsstrukturen, die in Reaktion auf soziale und existentielle Not als Selbsthilfeprojekte entstanden sind. Informelle Siedlungen sind eine räumlich ausgreifende, bis heute vielfach präsente Realität auch der europäischen Stadt. In den Beiträgen des Schwerpunkts zeigt sich, dass Kontext, Strukturen und Muster von lokalen Entwicklungen in unterschiedlichen Städten viele Parallelen aufweisen und es deswegen wichtig ist, sich mit informellen Siedlungen nicht nur lokalhistorisch auseinanderzusetzen. dérive 71 bietet Artikel über Hamburg, Wien, Belgrad, Innsbruck und die aktuelle und historische Situation in Frankreich. Im Magazinteil berichtet Ernst Gruber über die Sanierung und Revitalisierung ihrer ursprünglichen Nutzung verlustig gegangener Gebäude durch junge Kreative im benachbarten Bratislava. Das Kunstinsert von Nicole Six und Paul Petritsch zeigt eine Arbeit über die Architektin Anna Lülja Praun. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-71 bestellt werden.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Ökonomischen, das die unternehmerische Stadt 4 (Harvey 1989,<br />

S. 3-17) der Gegenwart prägt, hat längst zu e<strong>in</strong>er Erosion<br />

hoheitlicher Zugriffsmöglichkeiten auf die Raumproduktion<br />

geführt. <strong>Stadtentwicklung</strong> ist heute bekanntlich oft nur die<br />

Summe von <strong>E<strong>in</strong></strong>zel<strong>in</strong>teressen am Markt Konkurrierender. Auch<br />

die deregulierte unternehmerische Stadt basiert somit auf e<strong>in</strong>er<br />

Form der Informalisierung, doch wird diese nicht von unten<br />

und <strong>für</strong> alle, sondern privatwirtschaftlich von oben und sehr<br />

selektiv vorangetrieben.<br />

Europäische Ursprünge<br />

Die räumliche Entwicklung der europäischen Stadt ist<br />

von spezifischen Ausgrenzungsmustern geprägt. Das moderne<br />

Armenviertel war nicht zuletzt e<strong>in</strong>e zwangsläufige Begleitersche<strong>in</strong>ung<br />

der <strong>in</strong>dustriellen Revolution. Die Schlammviertel<br />

(Spiller 1911/2008) begleiten die moderne Großstadt gleichsam<br />

als ihr langer Modernisierungsschatten. Die Augen des<br />

Bürgertums nahmen sie häufig als gefährlichen Stadtdschungel<br />

wahr und sie riefen früh SozialreformerInnen 5 auf den Plan.<br />

Die Armen galten als gefährliche, zu Krim<strong>in</strong>alität und Unmoral<br />

neigende Masse (Evans 1997, S. 99). Hier wurde e<strong>in</strong>e<br />

Tradition mitbegründet, die <strong>in</strong> die Agenden der Moderne im<br />

20. <strong>Jahrhundert</strong> e<strong>in</strong>gehen und diese mitprägen sollte: Die<br />

Vorstellung e<strong>in</strong>er kausalen Verknüpfung von Raumdisposition<br />

und sozialen Verhältnissen.<br />

Selbst der revolutionär ges<strong>in</strong>nte Flügel der sozialistischen<br />

ArbeiterInnenbewegung hatte allerd<strong>in</strong>gs se<strong>in</strong>e Probleme mit dem<br />

<strong>in</strong>homogenen Subproletariat, setzte man doch alle<strong>in</strong> auf die<br />

Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt. So heißt es bereits bei<br />

Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848:<br />

»Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten<br />

Schichten der alten Gesellschaft, wird durch e<strong>in</strong>e proletarische<br />

Revolution stellenweise <strong>in</strong> die Bewegung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geschleudert,<br />

se<strong>in</strong>er ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger se<strong>in</strong>, sich<br />

zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.« (Marx, Engels<br />

2007, S. 8)<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong>e eigenwillige Verkehrung dieses Standpunkts f<strong>in</strong>det<br />

sich 160 Jahre später bei dem Philosophen Slavoj Žižek, der die<br />

global wachsende Menge an SlumbewohnerInnen und Überflüssigen<br />

leichth<strong>in</strong> zum neuen, zukünftigen revolutionären Subjekt<br />

erklärt (Žižek 2009, S. 256f.). Das bedrohliche Pendant dazu<br />

bilden Szenarien und Planspiele zur counter-<strong>in</strong>surgency aus<br />

Militärkreisen, die sich gegen die potenziell gefährlichen<br />

»Armeen der Armen« richten (Davis 2006, S. 214). In derartigen<br />

Zuspitzungen ist nicht zuletzt die Warnung enthalten, dass<br />

Worte und ideologische Zuschreibungen jederzeit – wie <strong>in</strong> der<br />

Vergangenheit allzu oft – <strong>in</strong> nackte Gewalt umschlagen können.<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong> bl<strong>in</strong>der Fleck?<br />

In der bis heute wirksamen Erzählung, <strong>in</strong> der die europäische<br />

Stadt des 19. <strong>Jahrhundert</strong>s posthum zur keimfreien Idealwelt<br />

bürgerlicher Urbanität verklärt wird, ebenso wie <strong>in</strong> der<br />

Geschichte der funktionalen Stadt der klassischen Moderne gelten<br />

die <strong>Bretteldörfer</strong> und Barackensiedlungen eher als Störgeräusche.<br />

Dabei ist es auffällig, dass gerade die <strong>in</strong>formellen<br />

Armensiedlungen als Zerrbild und Vorläufer<strong>in</strong>nen des z.B. von<br />

der Bauhaus-Avantgarde propagierten <strong>in</strong>dustriellen Wohnbaus<br />

gesehen werden können. Es waren die Elenden und Marg<strong>in</strong>alisierten,<br />

die sich lange vor dem fordistischen Nachkriegsboom<br />

aus <strong>in</strong>dustriell gefertigten Massenprodukten wie Kanistern<br />

(frz.: bidon) und Fischkisten, Kohlewägen, ausrangierten Eisenbahnwaggons<br />

oder den Chassis von alten Autobussen ihre<br />

Unterkünfte bauten.<br />

Auch der Topos der Siedlung selbst und die dort erprobte<br />

genossenschaftliche Organisation wurde zeitweise zu e<strong>in</strong>em<br />

wichtigen, wenn auch ambivalenten Leitbild der architektonischen<br />

Moderne. <strong>E<strong>in</strong></strong>e Aussage des sozialdemokratischen Wiener<br />

Ökonomen und Theoretikers Otto Neurath aus dem Jahr 1921<br />

spricht das an: »Genossenschaftsleben hat zwei Verwandte:<br />

kle<strong>in</strong>bürgerliche Vere<strong>in</strong>smeierei und Organisationstreiben breiter<br />

Massen. Es hängt von der geschichtlichen Lage ab, <strong>in</strong> welcher<br />

Richtung es sich entwickelt.« (Neurath, Arbeiter-Zeitung vom<br />

20.11.1921, S. 7)<br />

Die Gegenwart des Informellen <strong>in</strong> <strong>Europa</strong><br />

Die <strong>in</strong> den Nachkriegszeiten des 20. <strong>Jahrhundert</strong>s der<br />

Not entsprungenen ungeregelten Landnahmen, die nach wie<br />

vor oft <strong>in</strong>formellen Siedlungen der Roma und S<strong>in</strong>ti (siehe <strong>dérive</strong><br />

Nr. 64) sowie die bis heute existierenden französischen <strong>Bidonvilles</strong><br />

(siehe den Artikel von Muriel Cohen & Marie-Claude<br />

Blanc-Chaléard auf S. 24) werden trotz ihrer Ausdehnung und<br />

Permanenz häufig immer noch als urbanistischer Nebenschauplatz<br />

gehandelt.<br />

Anders stellt sich die Situation – wie bereits angedeutet –<br />

im südeuropäischen Kontext dar. Als Beispiel bietet sich Italien<br />

an, das mit mehr als 20 Millionen ohne Rücksicht auf Baugesetze<br />

und Raumordnung errichteten Objekten so etwas wie das<br />

Kernland des <strong>in</strong>formellen Bauens unter den Industrienationen<br />

ist (vgl. Dom<strong>in</strong>ik Straub, Der Standard vom 3.9.2017) 6 . In<br />

manchen südlichen Regionen wie Kalabrien, Kampanien oder<br />

Sizilien wird der Anteil der illegalen Bauführungen gegenwärtig<br />

auf etwa e<strong>in</strong> Drittel geschätzt (Maura Salerno, Edilizia e Territorio<br />

vom 3.12.2015) 7 , seit den 1980er Jahren gab es mehrere<br />

landesweite Generalamnestien <strong>für</strong> Bausünder. Auch wenn wir<br />

das komplexe Phänomen der italienischen case abusive hier<br />

nicht weiter thematisieren können, halten wir es <strong>für</strong> wichtig, auf<br />

den Fall h<strong>in</strong>zuweisen, weil es sich dabei seit Jahrzehnten um<br />

e<strong>in</strong> klassenübergreifendes Massenphänomen handelt. Durch die<br />

schiere Menge illegaler oder halblegaler Gebäude wird –<br />

falls existent – regelmäßig die Raumplanung unterlaufen, das<br />

4<br />

Harvey prägte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz<br />

den Begriff e<strong>in</strong>es urban<br />

entrepreneurialism, der im<br />

deutschen Sprachraum <strong>in</strong> der<br />

Übersetzung unternehmerische<br />

Stadt Karriere machte.<br />

5<br />

Etwa Charles Booth, britischer<br />

Sozialforscher und<br />

Philanthrop, geme<strong>in</strong>sam mit<br />

Henry Mayhew e<strong>in</strong> Pionier der<br />

<strong>Stadtforschung</strong>, erforschte<br />

die Londoner Arbeiterklasse<br />

Ende des 19. <strong>Jahrhundert</strong>s.<br />

6<br />

Siehe: derstandard.<br />

at/2000063485588/Italien-<br />

Das-Land-<strong>in</strong>-dem-alle-<br />

Bausuenden-vergeben-werden.<br />

7<br />

Siehe:<br />

www.ediliziaeterritorio.<br />

ilsole24ore.com/art/<br />

citta-e-urbanistica/<br />

2015-12-02/istat-italiapatria-abusivismo-sudillegali-quasi-60-<br />

fabbricati-100--162429.php?uuid=ACk5wclB&refresh_ce=1<br />

06<br />

<strong>dérive</strong> N o <strong>71</strong> — BIDONVILLES & BRETTELDÖRFER. <strong>E<strong>in</strong></strong> <strong>Jahrhundert</strong> <strong><strong>in</strong>formeller</strong> <strong>Stadtentwicklung</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!